Lolita – Macht – Schwierigkeiten

Der 1958 erschienene Roman Vladimir Nabokovs schildert mit einfühlsamer Eindringlichkeit einen Mythos, den es in seinen vielfältigen Ausformungen seit jeher zu geben scheint, dessen Beschreibung sich jedoch jetzt erstmalig in einem Wort formiert, seine bislang inhärent schemenhafte Gestalt offenbart und durch das Aussprechen eines Namens seine Existenz preisgibt – Lolita. Die Melodie, die diese drei Silben in einem jeden Humbert Humbert zum Klingen bringen, ertönt sogleich zu Beginn der (von der Kritik recht kontrovers aufgenommenen) Filmadaption durch Adrian Lyne (1997): »Lolita. Licht meines Lebens. Feuer meiner Lenden. Meine Sünde. Meine Seele. Lo-li-ta: Die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.« Der insgesamt ausgefallene, wortgewandte, einladend ausschweifende Prosastil, mit dem Nabokovs Erzähler Humbert Humbert die Reise in jene schicksalhafte Zeit beginnt, spiegelt in beiden gleichnamigen filmischen Adaptionen durch Stanley Kubrick (1961) wie durch Adrian Lyne die unwirklich-märchenhafte Perspektive eines Mannes auf seinen Traum: den Traum vom Stillstand der Zeit, vom Wieder-Holen der unabänderlichen Vergangenheit, vom erneuten Durchleben der verronnenen Jugend wie auch vom Losgelöstsein des Augenblickes und der Freiheit von aller gesellschaftlichen Restriktion … Lolita wird für den ihr verfallenen Protagonisten Professor Humbert zum Inbegriff all dessen und noch viel mehr. Sie ist seine ganz persönliche, inkarnierte Verheißung einer paradiesischen Existenz auf Erden.

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Der Fall des Sergeanten Shaw

The Manchurian Candidate, die Verfilmung eines Romans von Richard Condon, gehört zu den interessantesten Skeletten im Schrank der amerikanischen Filmgeschichte. 1962 in die Kinos gebracht und 1963 nach der Ermordung Kennedys mit einem Bann belegt, der bis 1988 in Kraft blieb, ist dieser Film Politthriller und Politsatire zu gleichen Teilen; eine Studie in Paranoia, ein Freud’scher Familienroman reinsten Wassers und nicht zuletzt zentraler Bestandteil jener Mythologie, die sich um den Begriff der Gehirnwäsche gebildet hat.

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Ein Alien kommt selten allein

Sie kommen von weit her, und sie führen zumeist nichts Gutes im Schilde. Man nennt sie »Aliens« – was laut Wörterbuch »Ausländer« bedeutet. In der deutschen Synchronfassung von Nicolas Roegs The Man who fell to Earth (Der Mann, der vom Himmel fiel, USA 1976) wird David Bowie noch explizit als »Ausländer« bezeichnet. Die Aliens hören auch auf den Namen »Extra Terrestrians« (E. T.), oder man bezeichnet sie einfach als Marsmenschen. Mit fliegenden Untertassen oder Raketen kommen sie zur Erde, und manchmal fallen sie, wie David Bowie, einfach vom Himmel.

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Die unmögliche Biografie

Derrida, USA 2003, Amy Ziering Kofman/Kirby Dick

Der französische Philosoph Jacques Derrida gilt als einer bedeutendsten Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit 1967 veröffentlicht er kontinuierlich philosophische Bücher und Aufsätze, die in akademischen Kreisen (aber auch im Feuilleton) – vornehmlich in der Philosophie, der Literaturwissenschaft und den Kulturwissenschaften, aber auch in Bereichen wie der Architektur oder dem Ballett –, lebhaft rezipiert werden. Bekannt geworden ist Derrida als Begründer des so genannten ‚Dekonstruktivismus‘, einer Überbietung der Heideggerschen ‚Destruktion‘ der abendländischen Metaphysik (vgl. Sein und Zeit, § 6), die sich darauf besinnt, dass man der Tradition nicht so ohne weiteres entkommt (wie Heidegger selbst gehofft hatte), und folglich aus ihr heraus und in ihr operiert: Die Tradition wird nicht einfach zerstört, sondern zerlegt und umgebaut; dem destruierenden Gestus ist auch etwas Konstruktives zu eigen. Die De(kon)struktion Derridas meint mithin eine Lektüre philosophischer Texte, die nicht nur auslegt, was der Text sagt (das wäre Hermeneutik), sondern auch auslegt, was er nicht sagt, was er verschweigt. Durch solche Lektüren legt der französische Denker die Hypotheken frei, die auf der abendländischen Philosophie lasten: Sie ist seit Platon logozentrisch (d.h. auf das gesprochene Wort fixiert), phallozentrisch (d.h. männlich dominiert) und ethnozentrisch (westeuropäisch geprägt). Gegen die von ihm auch als Präsenzmetaphysik bezeichnete Tradition setzt er ein Denken, das sich über die Beschränkungen, denen unser Welt- und Wahrheitszugang unterliegt, völlig im Klaren ist: Sinn gibt es nicht präsent, sondern immer nur aufgeschoben. Alle Präsenz ist eine abgeleitete. „Die unmögliche Biografie“ weiterlesen

Ein Körper ist ein Körper ist ein Körper

Der in der Moderne tendenziell totgesagte Körper ersteht wieder auf, einer unaufhaltsam fortschreitenden Biotechnologie und plastischen Chirurgie zum Trotz: Mit der facettenreichen Faszination des menschlichen Körpers vor allem im Medium Film beschäftigen sich gleich drei aktuelle Publikationen. Die Herangehensweise erfolgt aus kultur- und geisteswissenschaftlicher, phänomenologischer ebenso wie aus bewusst historischer Perspektive und im Fall der Untersuchungen zur Männlichkeit im Film aus der kritisch-wissenschaftlichen Blickrichtung der erst spät etablierten men’s studies. Gemeinsam untersuchen die Publikationen im Sinne der poststrukturalistischen Körpertheorie Foucaults die (im Genrekino: wunscherfüllende) Konstruktion des „natürlichen Körpers“ im Film und anderen Medien, analysieren ihn als Produkt heterogener sozialer Diskurse und gesellschaftlicher Praktiken.
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Blockbuster

In seiner Studie „Blockbuster. Ästhetik, Ökonomie und Geschichte des postklassischen Kinos“ tritt Robert Blanchet der These entgegen, der kontemporäre Hollywoodfilm funktioniere nicht mehr nach den Stilprinzipien des klassischen Erzählkinos. Sowohl das im Blockbuster sich substantialisierende Kino der Attraktionen im Sinne von Filmen wie Twister oder Godzilla, als auch das mit metatextuellen Referenzen spielende postmoderne Kino, emblematisch verkörpert in Pulp Fiction oder Scream, stellen der Struktur nach keine eigenständigen neuen Modelle dar. Technische Innovationen der Tricktechnik waren immer schon integraler Bestandteil der Reattraktivierung des von konkurrienden Medien beanspruchten Publikums. Neuartige Effekte als Attraktionspotential waren und sind immer noch Strategien der Krisenlösung, die aber stets im Korsett klassischer Organiationsprinzipien sich zu bewähren haben bzw. erst durch diese im inneren Kontext des Films motiviert werden. Ebensowenig stellen die an ein durchblickerhaftes Publikum gerichteten, durch einen außerdiegetischen Referenten motivierten Doppelcodierungen des kontemporären Hollywoodfilms einen substanziellen Bruch mit dem klassischen Paradigma dar. Das Mittel der Doppelcodierung hat es beispielsweise schon in Form von parodisierenden Gags in zahlreichen Komödien der 40er Jahre gegeben. Zudem operieren diese Bezüge meist verdeckt und stellten sich dem „naiven Publikum“ somit als nicht weiter zu hinterfragende Elemente der Diegesis dar.
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Science Fiction – Double Feature

Das Projekt, das Georg Seeßlen mit seinen „Grundlagen des populären Films“ unternimmt, ist in der deutschen Filmpublizistik einzigartig. Seeßlen versucht nicht nur, den bestehenden Debatten neue Aspekte hinzuzufügen, sondern diese Debatten auch weitgehend zusammenzufassen. Dabei dient ihm die Genre-Klassifizierung des Films als Grundlage: Jedem der Einzelwerke der Reihe ist die Geschichte und Ästhetik eines Genres gewidmet.

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Der Blick in den Psychopathen

Eine Folge der zunehmenden Mediatisierung des Gewaltverbrechens ist die Verschiebung der Perspektive, die der Film seinem Gegenstand gegenüber einnimmt. Ließen sich in der Frühzeit des Psychothrillers noch hochgradig spekulative und reißerische Titel vermarkten, so verlangt das Publikum, dessen Wissen nicht zuletzt durch die Filmgeschichte selbst genährt wurde, heute nach differenzierten Betrachtungen. Der diesbezügliche Wandel wird recht deutlich, wenn man sich Remakes von bestimmten Stoffen (z. B. Es geschah am helllichten Tag, D 1958 vs. The Pledge, USA 2001) oder Wiederaufnahmen bestimmter authentischer Fälle (z. B. des Ted Bundy-Falls in The deliberate Stranger, USA 1986 vs. Ted Bundy, 2002) im Spielfilm ansieht. Mit dieser neuen Betrachtungsweise einher geht auch ein »intentionaler Gestus« des jeweiligen Filmautoren, der sein Werk nun nicht länger allein als reine Unterhaltung, sondern darüber hinaus auch als »Studie« über seinen Gegenstand verstanden wissen will (siehe meinen Beitrag über die Jack the Ripper-Adaptionen in dieser Ausgabe).

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Aus 10 mach 4

Monolithisch steht es nun schon seit 15 Jahren in der Filmlandschaft und man kommt an ihm nicht vobei: Das Lexikon des internationalen Films. Als Zusammenstellung der seit Ende des zweiten Weltkrieges für den katholischen Filmdienst entstandenen Filmkritiken hat es Umfang und Bedeutung wie kein zweites Nachschlagewerk erhalten – und das trotz aller Kritik am vermeintlichen Dogmatismus des filmdienst, aus dessen Kurzbesprechungen das Lexikon seine Kritiken rekrutiert.

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Mach’s noch einmal

Das Phänomen des filmischen Remakes ist in der Vergangenheit durch zahlreiche Publikationen aufgearbeitet worden. Dazu zählten sowohl wissenschaftlich-methodische Abhandlungen (wie das jüngst erschienene Remake-buch von Wolfgang Arendt) aber auch eine Reihe von Lexika, die – mal mehr mal weniger – versuchen Remakes zu sortieren und aufzulisten.

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Cronenberg als Objekt klein a.

Manfred Riepe: Bildgeschwüre, Bielefeld: [transcript] 2002

Jeder Leser Freuds, denke ich, wird sich seiner ersten Eindrücke erinnern: Eine unglaubliche Voreingenommenheit für die am wenigsten wahrscheinlichen Interpretationen, ein fanatisches Insistieren auf dem Sexuellen. Und alles in seinen verfallenen, pervertierten Formen: Bedeutung, Wort, Handlung – heruntergekommen zu lächerlichen Kalauern.
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Monstrum

Mediävist und Cineast zu sein, ist nicht unbedingt ein Widerspruch. Denn auch wenn das im Film vermittelte Bild des „düsteren Mittelalters“ leider allzu oft das Bild jener Epoche ist, das wohl jeder im Hinterkopf hat, so ist es zumindest auch eine Freude zu sehen, dass selbst die allerneuesten Medien nicht ohne Tradition auskommen. In der Literatur vergangener Jahrhunderte finden sich erstmals die Figuren, von denen vor allem der fantastische Film bis heute zehrt: Hexen, Vampire, Wolfsmenschen, Zyklopen und Golems.

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Coffee and Cigarettes

im Jarmusch ist jener Regisseur, dem gern von Presse und Publikum der ‚Independent‘-Stempel aufgedrückt wird. Er sei der einzige amerikanische Filmemacher, der völlig unabhängig von einem Studiosystem arbeiten kann und dem auch nach der Kinoauswertung weiterhin die Filmnegative gehören. Jarmusch selbst lehnt eine Kategorisierung in ‚Independent‘ und ‚Mainstream‘ ab, da beide Bereiche ähnlich vermarktet und distribuiert werden. Wenn Filme wie Der englische Patient (USA 1997) oder Shakespeare in Love (USA 1999) als Independent-Filme angepriesen werden, beide von der Disney-Tochterfirma Miramax in die Kinos gebracht, dann stimmt mit dem unabhängigen Film etwas nicht, so Jarmuschs Begründung.
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Die Kultur der Erinnerung

Die Kultur der Erinnerung ist bekanntlich historischen Wandlungen unterworfen, und bei Ereignissen der jüngeren Geschichte insbesondere an das Selbstverständnis von Generationen gebunden. Kein Gegenstand beweist das deutlicher als der Umgang mit dem „Zivilisationsbruch“ Auschwitz durch die Generationen der deutschen Nachkriegsgeschichte: der des „Wirtschaftswunders“ und der ihr allgemein – und so allgemein zu Recht – angelasteten Verdrängung der Verbrechen, in die sie selbst involviert war, der 68er, die mit emphatischen und manchmal selbstgerechten Schuldzuweisungen an die Generation der Väter und Mütter dennoch eine breite Aufarbeitung der Geschichte des „Dritten Reichs“ in Deutschland initiierte, und der neuerlichen Historisierung der 68er, die sich eben anschickt, andere Verdrängungen aufzuhellen.

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The Film Minister

Es sei nicht ungewöhnlich gewesen, sich Bemerkungen zu gesehenen Kinofilmen in Tagebüchern zu notieren. Allerdings halten die Beobachtungen Goebbels dem Vergleich mit den festgehaltenen Gedanken Klemperers oder Kafkas nicht stand. Besonders clever war er nicht, der selbst ernannte nationalsozialistische Filmexperte Goebbels, nicht fähig zu kühler Analyse. Seine Bewertungen fallen sehr emotional und extrem aus. „Enthusiastisch“, „bewegt“ , „wunderschön“ oder „pure Freude“ sind die Attribute, die er für die Wiedergabe persönlicher Impressionen nach der Rezeption von Wege zur Kraft und Schönheit (D 1926) oder Die Nibelungen (D 1922/4) findet. Immer wieder äugt er aber auch auf die Reaktion des Publikums, hegt Zweifel an der Wirkung der nationalsozialistischen deutschen Filme der Zwanziger, bemerkt wohl den hohen technischen Standard und die Professionalität des amerikansichen Films, ist von Eisensteins Arbeit fasziniert. Bewundert den Einfluss des russischen Films auf die Massen.

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Déjà vu

Der Reproduktionsgedanke ist am Anfang des dritten Jahrtausends überall vertreten: Medien verdoppeln die Lebenswelt, Biologen verdoppeln die Chromosomen (und damit augenscheinlich die „Individuen“) und Walter Benjamins Essay vom „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ erlebet seine x-te Renaissance. Da wurde es höchste Zeit, dass „die Welt im Zeitalter ihrer tatsächlichen Reproduzierbarkeit“ endlich einmal auf den Punkt gebracht und mit einer Kulturgeschichte der Verdopplung begonnen wurde. Diesem Projekt stellt sich der ehrgeizige Versuch des amerikanischen Kulturhistorikers Hillel Schwartz.

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The Horror!

Wie rezensiert man ein Filmlexikon? Natürlich könnte man einige allgemeine Worte darüber verlieren, wie notwendig oder obsolet lexikalisches Wissen über dieses und jenes Genre ist. Man könnte auch eine Gegenüberstellung wagen und fragen, ob das neue Lexikon eventuell mehr oder weniger, bessere oder schlechtere Beiträge hat, als seine Konkurrenten. Interessanter scheint es da schon, wenn man in der glücklichen Lage ist, die Geschichte eines Lexikonprojektes nachzuzeichnen. Diese verrät nämlich nicht nur, was sich am Gegenstand des Lexikons über die Jahre hinweg so alles getan hat, sondern vor allem auch, ob und welchen Perspektivwechsel die Autoren durchgemacht haben.
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Fantasyfilm

Der Fantasy-Film fristet schon von je her ein Schattendasein zwischen dem Horror- und dem Science- Fiction-Film. Das liegt augenscheinlich daran, dass die Sujets beider letztgenannter Genres verlockenderes Potenzial zu besitzen scheinen: futuristische oder grauenvolle Stoffe sind in der Publikumsgunst höher angesiedelt, als die Pittoresken irrealer Fantasiewelten.

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Kino der Extreme

Siegfried Kracauer gilt als der Begründer der soziologischen Filmanalyse. In seiner Frühgeschichte des Kinos „Von Caligari bis Hitler“ verdeutlicht er, dass Film vor allem Spiegel der Gesellschaft sei, in der er entsteht, und zeichnet (hierin liegt die Doppelbedeutung des »bis« in seinem Buchtitel) gleichfalls die historische Co-Entwicklung von Film und Gesellschaft, wie sie einander bedingt, nach.

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