Cronenberg als Objekt klein a.

Manfred Riepe: Bildgeschwüre, Bielefeld: [transcript] 2002

Jeder Leser Freuds, denke ich, wird sich seiner ersten Eindrücke erinnern: Eine unglaubliche Voreingenommenheit für die am wenigsten wahrscheinlichen Interpretationen, ein fanatisches Insistieren auf dem Sexuellen. Und alles in seinen verfallenen, pervertierten Formen: Bedeutung, Wort, Handlung – heruntergekommen zu lächerlichen Kalauern.

So ein Zitat des Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty aus dem Jahr 1960 nach seiner Lektüre der Schriften Sigmund Freuds. Ähnliche Lektüreerfahrungen macht man zunächst sicher als Leser der Texte Jacques Lacans, und ähnliches widerfährt dem ein wenig psychoanalytisch belesenen Kinozuschauer vielleicht beim Betrachten der Filme David Cronenbergs. Vielleicht kommt einem dieser Eindruck auch wieder bei der Lektüre der Betrachtungen der Filme Cronenbergs durch Manfred Riepe in seinem neuen Buch Bildgeschwüre. Doch wieder zurück zu Merleau-Ponty. Denn seine Erkenntnisse gehen weiter:

Doch – je mehr man liest, sich selbst einbringt, und je mehr die Jahre vergehen, desto klarer stellt sich eine nicht erklärbare Evidenz psychoanalytischer Erkenntnisse ein. Und schließlich macht man seinen Frieden mit dieser unbarmherzigen Hermeneutik.

Was das Buch Riepes zu einem großen Gewinn macht, ist die Verknüpfung von genauer Bildbetrachtung und theoretischer Kontextualisierung. Der Autor schöpft, und das ist selten in dem Genre der deutschen Filmbücher (besonders in der bewusst populär gehaltenen „middlebrow“-Literatur der bekannteren Filmverlage wie Schüren oder Bertz), aus dem Vollen, und das sowohl, was seine theoretische Grundlage, die strukturale Psychoanalyse Lacans, als auch sein profundes filmisches Wissen anbetrifft, das er immer wieder zur erläuternden Kontextualisierung anbringt.

Dass der Filmjournalist Riepe interessante und gut lesbare Texte schreiben kann, wissen wir unter anderem seit dem Aufsatz „Karzinome der Lust“ aus der Zeitschrift Kunstforum 133 (1996) und auch seit „Das Gespenst der Gewalt“ zu Sam Raimis The Evil Dead (USA, 1982) und der deutschen Zensurpraxis im Ausstellungsband Das Böse, herausgegeben von Florian Rötzer (1995). Was passiert also, wenn Riepe sein Spezialthema „David Cronenberg“ aus der ganz speziellen struktural psychoanalytischen Perspektive liest?

Inhalt

Riepe liest – ganz im Sinne einer Betrachtung Cronenbergs als Auteur – das Gesamtwerk des Filmemachers. Er analysiert dabei jeweils einzelne Filme unter einem Schwerpunkt, den dieser nach Riepe im Projekt „Cronenberg“ einnimmt. Dabei hält sich Riepe nur auf den ersten Blick an die Chronologie der Filme: Er beginnt mit den drei Splatterfilmen Shivers (CAN, 1975), Rabid (CAN, 1977) und The Brood (CAN, 1979), setzt aber dann zum Thema „Brüderpaar“ eine Lektüre von Dead Ringers (CAN/USA, 1988) an, die vom Brüderfilm Scanners (CAN, 1981) gefolgt wird. Nach einer Analyse von The Fly (USA, 1986), den er bezeichnenderweise mit dem paradigmatischen Text der neueren Kulturwissenschaften, Lacans „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion“ (1936), liest, folgt ein Schlüsselkapitel des gesamten Projekts (sowohl von Cronenberg als auch von Riepe) mit der Analyse von Videodrome (CAN/USA, 1983).

Dieser folgen dann Betrachtungen zu The Dead Zone (USA, 1983), zu Naked Lunch (CAN/UK/JAP, 1991), und zu den selten in Cronenberg-Texten erwähntem Melodrama M. Butterfly (USA, 1993). Riepe untersucht danach die Metaphorik von Sexualität in Crash (CAN/F/UK, 1996) und eXistenZ (CAN/UK/F, 1999) und liefert – und das dürfte viele interessieren – frühzeitig eine spannende Lektüre von Cronenbergs letztem und in Deutschland noch gar nicht gezeigtem Film Spider (CAN/UK/F, 2002), in dem der Schauspieler Ralph Fiennes wie auch in Red Dragon (USA/DEU 2002) wieder einmal einen psychisch Gestörten gibt. Das Abschlusskapitel „Die Frau als ‚Symptom des Mannes’“ macht noch einmal einen Parforce-Ritt durch das Projekt „Cronenberg“ und rundet mit diesem speziellen Aspekt das Buch ab.

Thesen und Methode

Zur oben gestellten Frage, was denn aus der Vermischung dieser beiden so kongenial erscheinenden Konzepte – Cronenberg mit Lacan – herauskommt, möchte man Folgendes sagen: Gemischtes und vielleicht nicht etwas für jedermann. Der Fan, der sich für die Filme Cronenbergs begeistert und seine Analysen eher im Kontext eines filmischen Verweisuniversums sucht, kommt zwar auch auf seine Kosten, verpasst aber die zentrale These des Buches, die jedem Kapitel als Folie dient: Die These lautet, dass Cronenbergs Filme wie in der Freudschen Traumdeutung oder dem Lacanschen Diktum, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert sei, als eigenständige Kulturpoetik und Kulturdiagnose zu verstehen seien. Das Buch liefert deshalb zwar psychoanalytische Lektüren der Filme Cronenbergs, aber ebenso werden die Filme Cronenbergs als ganz spezielle filmische Formen einer Psychoanalyse gegenwärtiger Kultur betrachtet.

Der anderen Generalthese des Buches ist allerdings besser zu folgen und ergänzt auch auf logische Weise die erste These. Sie führt aber wieder vom Film weg und zur Rhetorik oder gar zur Literatur hin: Denn Riepe zufolge buchstabiert Cronenberg Metaphorik bildlich durch, und er macht es sehr plausibel und anschaulich: Wenn es um „Kopfzerbrechen“ in Cronenbergs Film Scanners geht, dann platzt in aller Regel auch ein Kopf auf blutigste Weise. Riepe weiß dazu eine Menge Belegstellen aufzuweisen und hat damit einen ausgezeichneten Ariadnefaden, der ihn durch das ganze filmische Labyrinth Cronenbergs führen wird. Im Sinne der Lacanschen Übersetzung der Freudschen Begriffe der „Verschiebung“ und „Verdichtung“ aus der „Traumdeutung“ unternimmt Riepe somit Streifzüge durch die Metaphern und Metonymien der Cronenbergschen Bilderwelt. Diese beiden Thesen zusammengenommen werden bündig mit der Lacanschen Psychoanalyse enggeführt. Mitunter kommen die Interpretationen etwas unvermittelt, wenn manche Szenen plötzlich auf phallischen Konnotationen beruhen, auf dem Spiegelstadium oder auf ödipalen Komplexen basieren.

Wie langweilig theoretische Einleitungen in wissenschaftlichen Büchern auch sein mögen, der eine oder andere näher erläuternde Absatz oder Exkurs zu den struktural psychoanalytischen Konstrukten, mit denen Riepe die Filme Cronenbergs liest, hätte dem Verständnis für eine breitere Leserschicht nicht geschadet. So lässt sich zum Beispiel die Funktion des Lacanschen Phallus-Komplexes, den Riepe in vielen Filmen Cronenbergs als strukturellen Motor identifiziert, im methodischen Instrumentarium zuweilen schwer von der Vulgär-Terminologie einer Aussage wie „Das ist ein Phallussymbol“, die ja ohne interpretatorischen Mehrwert ist, unterscheiden. Um es noch einmal deutlich zu machen: Riepe macht dies nicht! Allein etwas mehr Theorie hätte der Klarheit der Thesen gedient.

Wer sich allerdings ein wenig in der wissenschaftlichen Literatur zum Film umgeschaut hat, wird erkennen, dass – gegenwärtig vor allem in der amerikanischen Literatur – die strukturale Psychoanalyse spätestens seit den 70er Jahren als die maßgebliche Leittheorie der Filmwissenschaft fungiert (Apparatus-, Screen- und Mulveys Gender-Theorien). In einem noch bedeutenderem Maßstab gilt dies für die Analyse von Horror- und Splatterfilmen, die fast ausnahmslos aus den Reihen der psychoanalytisch argumentierenden feministischen Filmwissenschaft stammt (Linda Williams, Barbara Creed, Judith Halberstam, Kaja Silverman etc.). Riepe, wie auch die auch in Deutsch publizierenden Wissenschaftler Slavoj Zizek oder Elisabeth Bronfen, schreiben sich damit in eine wissenschaftliche Tradition ein, die gegenwärtig die akademische Filmanalyse dominiert. So entspricht Riepes Buch durchaus dem filmwissenschaftlichen Standard, ohne dabei, und das kann man nicht von jedem filmwissenschaftlichen oder –theoretischen Werk behaupten, auf genaue Bildbetrachtung und vor allem auf Lesbarkeit zu verzichten. Mag zudem der Stil manchmal ein wenig locker wirken, so ist der Effekt doch insgesamt der einer der guten und flüssigen Lektüre. Und es sind zumeist schon wirklich kluge Beobachtungen und Interpretationen, die Riepe dem Leser anbietet. Oft meint man beim Lesen, dass Riepe das strikte Gerüst der Psychoanalyse gar nicht benötigt, und dass diese Sichtweise einer „grand theory“, wie schon vielerorts und unter anderem in dem Post-Theory- und Neoformalismus-Projekt David Bordwells kritisiert wurde, nur ihre eigenen Prämissen erfüllt und die spezifische Differenz des einzelnen Films außer acht lässt.

So kann die zentrale Analyse des Buches, die dem Schlüsselfilm Videodrome gewidmet ist, vor allem dadurch überzeugen, dass sie zwar die Freudsche und Lacansche Psychoanalyse als Theoriehintergrund benutzt, aber in vielen Punkten andere Lektüren und andere Interpretationsangebote macht, die oft weit über die selffulfilling-Analysen der Psychoanalyse hinausgehen. Riepes direkter Rückgriff auf die strukturalistische Linguistik, die auch den Theorien Lacans zugrunde liegen, führt zum Beispiel zu einer klaren Herausarbeitung der kinematographischen Metaphorik, die Videodrome einsetzt und die das gesamte Werk Cronenbergs bestimmt. Nach der Ausarbeitung der „Shifterfunktion“ des Körpers beziehungsweise der persona von Max Renn in Videodrome scheint die Lektüre des Films durch den Lacanschen Phallus-Mangel-Komplex eher nur noch ergänzenden Charakter zu haben.

Im Vergleich

In deutscher Sprache gibt es bislang nur zwei Monographien und einen Sammelband aus Österreich, die sich ausschließlich mit den Filmen von David Cronenberg beschäftigen. Neben Almut Oetjens und Holger Wackers „Organischer Horror“ aus dem Jahr 1993, das schon lange vergriffen ist, gibt es inzwischen die zweite Auflage von Thomas Dreibrodts „Lang lebe das neue Fleisch“ aus dem Jahr 2000. Der Sammelband „Und das Wort ist Fleisch geworden“, herausgegeben von Drehli Robnik und Michael Palm 1990 im Wiener PVS Verlag, bietet in 14 Aufsätzen und vier übergreifenden „Gelenkstellen“ ein breites Spektrum an wissenschaftlicher Cronenberg-Lektüre bis zum Film Naked Lunch. Die beiden Monographien dagegen sind ausgesprochene Fanbücher mit einem nur vage ausgeprägten analytischen Interesse. Sie liefern inhaltlich und motivisch genaue Lektüren, aber in der Argumentation gehen sie dann vor allem apologetisch gegen Wissenschafts- und Kritikergespenster an, die naturgemäß sehr vage bleiben. Das Klischee vom Fan (und besonders trifft dies wohl auf die zumeist jugendlichen Liebhaber von Horror- und Splatterfilmen zu), der in einem sozialromantischen Gestus seine „Lieblinge“ und „Geheimtipps“ vor der kapitalistischen Vereinnahmung durch „Hochkultur“, „Wissenschaft“, „Kommerzialisierung“ und „Mainstream“ schützen möchte, wird in diesen beiden Büchern wieder einmal bestätigt: „Interpretation zerstört das Werk“, lautet die Goldene Regel eines jeden Fans, eine Erkenntnis, die er irgendwie, wie alle anderen, vermeintlich aus seinem Deutsch-Leistungskurs mitgenommen haben will. Wieder einmal muss wohl Bach vor seinen Liebhabern verteidigt werden.

Riepes Buch dagegen zehrt positiv von seinem akademischen Anspruch, einer soliden Theoriebasis und einem stark formulierten Forschungsinteresse mit intelligenten Thesen. Das Buch ist deswegen erfrischenderweise nicht auf Legitimation aus, sondern kann sich voll auf die kulturpoetische Bedeutung der Filme Cronenbergs stützen. Verschwiegen werden soll aber auch nicht, dass es aus der heutigen Position vielleicht etwas einfacher ist, über einen inzwischen gefeierten „Auteur-Regisseur“ Cronenberg zu schreiben als noch vor zehn Jahren über den „Splatterfilmer“, den „Baron of Blood“ und „Dave Deprave“ Cronenberg.

Fazit

Empfehlenswert für denjenigen, der sich von der struktural psychoanalytischen Warte Riepes (die, das muss man noch einmal betonen, hundertprozentig dem internationalen filmwissenschaftlichen Standard entspricht) nicht abschrecken lässt und viele genaue und teilweise noch überraschende Erkenntnisse zu den Filmen David Cronenbergs gewinnen möchte.

Manfred Riepe
Bildgeschwüre. Körper und Fremdkörper im Kino David Cronenbergs. Psychoanalytische Filmlektüren nach Freud und Lacan
Bielefeld: [transcript] 2002
Euro 24,80

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Arno Meteling

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