Take a look into the incredible mirror of lust!

Es ist ein bisschen absurd mit der Pornofilmrezeption. Seit Jahrzehnten ist der Pornofilm im Grunde allgegenwärtig; so manche Videothek wurde und wird von ihm und im Grunde zumeist nur von ihm am Leben erhalten, und während Eltern, Studienräte und Medienapokalyptiker in seiner erleichterten Zugänglichkeit per World Wide Web den Grundstein für die ganz sicher anstehende endgültige Verrohung der zur Zeit pubertierenden Nachkommenschaft zu erkennen meinen – warum hat eigentlich Michael Haneke noch keinen Film darüber gemacht? – ergreifen und umarmen ihn Subkultur, kulturelle Avantgarde und jedwede sexuelle Emanzipationsbewegung aus den Zwischen- und Grauzonen des queeren Spektrums immer wieder aufs Neue. Das Wort von der „Generation Porno“ macht inzwischen schon so lang immer wieder aufs Neue die Runde, dass sich eigentlich schon mehrere Generationen davon angesprochen fühlen müssten, und seit einigen Jahren experimentiert das (vom Rezensenten mitkuratierte) Pornfilmfestival Berlin jährlich mit immer wieder neuen Verschiebungen und Erweiterungen des Blickes auf die explizite Darstellung von Sexualität im Film, aus kommerzpornografischer wie aus dezidiert künstlerischer Perspektive kommend.

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Blutige Exzesse und gemütliche Spießerfreuden

Dass man sich auch heute noch von Hitler als Leinwandfigur faszinieren lässt, haben neulich zwei restlos ausverkaufte Vorstellungen von Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ im Berliner Zeughaus-Kino gezeigt. Einer der Gründe mag dabei derselbe sein, der zahlreiche Besucher in die Ausstellung „Hitler und die Deutschen“ im Deutschen Historischen Museum lockte, die den eigentlichen Anlass für diese Filmvorführung lieferte: Man wollte über Hitler erfahren, „wie er wirklich war“. Paradoxerweise – und das führt die Monografie von Alexandra Hissen, die sich dem Bild des Diktators im deutschsprachigen Film widmet, deutlich vor Augen, – geraten wir umso stärker in den Sog der Mythen, je mehr wir uns durch das Studium der Quellen dem historischen Hitler zu nähern glauben. Der Mensch Adolf Hitler verschwindet völlig hinter seinen eigenen medialen Selbstinszenierungen. „Blutige Exzesse und gemütliche Spießerfreuden“ weiterlesen

Kurzrezensionen Dezember 2010

  • Bernd Stiegler (Hg.): Texte zur Theorie der Fotografie. Stuttgart: Reclam 2010.
  • Siegfried Jäger: Kritische Diskursanalyse: Münster: Unrast 2009.
  • Siegfried Jäger u. a. (Hgg.): Lexikon zur Kritischen Diskursanalyse. Münster: Unrast 2009.
  • Alexander Florin: Computer in Kino. Norderstedt: Books on Demand 2009.
  • Sönke Roterberg: Philosophische Filmtheorie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008.
  • Thomas Myrach u. a. (Hgg.): Science & Fiction. Bern u.a.: Haupt 2009.
  • Roland Borgards u. a. (Hgg.): Monster. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009.
  • Daniel Grinsted: Die Reise zum Mond. Berlin: Logos 2009.

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Die wandelbaren Grenzen des Unerwünschten

In jeder Gesellschaft gibt es Grenzen des Zeigbaren. Sex, Gewalt und unerwünschte politische Ansichten stellen die häufigsten Gründe für zensorische Eingriffe bei Tabuverletzungen in den Medien dar. Wer entscheidet aber darüber, was welche Menschen sehen dürfen, und wie verändert sich das? Kann Jugendschutz ohne Erwachsenenkontrolle funktionieren? Ist Zensur ein obrigkeitlicher Akt, oder nicht auch von einem Großteil der Bevölkerung erwünscht? In seiner nun im Wallstein Verlag unter dem Titel „Keine Jugendfreigabe!“ veröffentlichten Dissertation untersucht der Historiker Jürgen Kniep (*1978) die Filmzensur in der „Bonner Republik“ (1949-1990).

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Die Geburt des Roboters aus dem Geist der Science Fiction

Als der erste Industrie-Roboter mit Namen UNIMATE im Jahre 1961 seine Arbeit aufnahm, war das intellektuelle Konzept, das ihm zugrunde lag, schon längst durchdacht: Bis in die griechische Antike, zu den Golem-Sagen des Judentums oder der mittelalterlichen Philosophie lässt sich die Idee des künstlichen, mechanischen Menschen zurückverfolgen. Dass UNIMATE und seine Nachkommen diese Fantasien hernach in Qualität und Quantität stärker beeinflussten als ihre mythologischen Quellen, ist allerdings auch unzweifelhaft. Wie bei vielen Technologien ist die Beziehung zwischen Innovation und kultureller Verarbeitung wechselseitig. Eigentlich handelt das Jugendbuch „Roboter. Was unsere Helfer von Morgen heute schon können“ nicht davon. Doch bereits im Titel deutet sich dieser Subtext an, ja drängt sich förmlich auf, sodass eine Betrachtung des Buches unter diesem Paradigma allemal lohnenswert erscheint.

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Traumabilder

Die Zeit der Weimarer Republik ist als Zeit des Umbruchs und des produktiven Chaos im kollektiven Gedächtnis verankert. Kultur und Kunst befanden sich in permanenter Bewegung. Der Film schickte sich an als Kunstwerk akzeptiert zu werden. Filme wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ erregten großes Aufsehen und Regisseure wie Fritz Lang und F.W. Murnau sorgten für internationales Renommee. Später, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, sah der Filmsoziologe Siegfried Kracauer im Stil dieser Regisseure und anderer Exempel des Weimarer Kinos eine deutsche Mentalität gespiegelt. In seinem berühmten, im amerikanischen Exil verfassten und 1947 erschienenen Buch „Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films“ erkannte er in „Das Cabinet des Dr. Caligari“, „M“ und in vielen weiteren Filmen eine Tendenz zu Motiven, die Aufschlüsse darüber zuließen, wie es zur Machtergreifung Hitlers gekommen sein könne. Kracauers spektakuläre These ist mitterweile vielfach relativiert und revidiert worden, zu heterogen war letztendlich die Filmproduktion jener Zeit. Außerdem lassen sich selbst die Filme, die bei Kracauer im Zentrum stehen, auch anders lesen. Anton Kaes, Professor an der University of California, Berkeley beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit einer entsprechenden alternativen Lesart. Nun ist der Ertrag seiner Arbeit erschienen.

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Maschinenherz und Herzmaschine

Berlin im Februar 2010. Auf dem Potsdamer Platz herrscht die alljährliche Hektik der Berlinale. Es ist das 60. Jubiläum des Filmfestivals und einer der diesjährigen Höhepunkte wird kein ganz neuer, sondern ein ganz alter Film sein, der in lange Zeit nicht gesehener Version vorgeführt wird: Fritz Langs „Metropolis“ von 1927, der in einer jetzt 24 Minuten längeren, restaurierten Fassung fast wieder vollständig vorliegt.

Zwei Kilometer vom Potsdamer Platz entfernt erlebt kurz vor Beginn der Berlinale noch das Werk eines zweiten Künstlers nach Jahrzehnten ein erneutes öffentliches Wiedersehen: Fritz Kahn und die von ihm konzipierten Grafiken zur Physiologie und Anatomie des menschlichen Körpers. Die Ausstellung über Kahn findet im Medizinhistorischen Museum der Charité statt und heißt „Menschmaschine“. Zu beiden Kulturereignissen sind vor kurzem ausführliche Kataloge erschienen.

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Survival of the Undead

Manchmal bemerkt man eine jahrelang klaffende Lücke erst dann, wenn sie plötzlich unerwartet gefüllt wird. Dass es zum Beispiel im deutschsprachigen Raum bis heute keine Monographie zu George A. Romero gab, der dem amerikanischen Kino mit „Night of the Living Dead“ und „Dawn of the Dead“ zwei seiner ganz großen Meisterwerke schenkte, das mutet eigentlich kaum glaublich an und dürfte wohl in erster Linie der schwierigen Zensurgeschichte zumindest des letzteren Films geschuldet sein. Der umfassenden Wiederentdeckung nicht nur durch die Splatterfanbasis, sondern auch von Seiten der Filmwissenschaft standen die Probleme mit Verfügbarkeit, Kürzungen, Verboten und vergleichbaren Hindernissen jedoch nicht im Weg, sodass Romeros Ästhetik und Gesellschaftsanalyse im Grunde seit gut einer Dekade zum filmanalytischen Grundwissen zählen dürften.
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Filmwissenschaftliche Ehrenrettung eines spaßkulturellen Phänomens

Christian Heger, der Autor der Monografie „Die rechte und die linke Hand der Parodie – Bud Spencer, Terence Hill und ihre Filme“, macht bereits im Prolog keinen Hehl daraus, woher die biografische Motivation für seine ursprünglich als Magisterarbeit angefertigte Studie stammt: Aus frühesten Kindheitstagen nämlich, die das große, infantile Staunen über zwei prügelnde, Sprüche klopfende Widerparts, die immer wieder zur Teamarbeit gezwungen sind, erst möglich machten.

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Kurzrezensionen Februar 2010

TV-Debatten

Das Fernsehen ist ideen- und technikgeschichtlich gesehen älter als das Kino. Sieht man von den „Live-Übertragungen“ der Laterna Magica einmal ab, so hat sich schon kurz nach Erfindung der Telegrafie die Überlegung entwickelt, nicht nur Sprache, sondern auch Bilder zu übertragen. Über diesen Umstand ist in der ausländischen wie deutschsprachigen Fernsehwissenschaft viel publiziert worden und es existieren zahlreiche Bände mit mittlerweile kanonischen Schriften zur Fernsehtechnikgeschichte. Dass sich neben dieser materiellen Forschung auch eine inhaltliche entwickelt hat, zeigt der Reclam-Band „Texte zur Theorie und Geschichte des Fernsehens“ jetzt anhand von 25 Beiträgen, die zwischen 1910 (!) und 1997 erschienen sind. Besonders interessant ist die ästhetisch-ideologischen Debatte in den 1950er und 1970er Jahren in Deutschland verlaufen, deren Protagonisten von Adorno (1953) bis Enzensberger (1970) das Medium mal als kulturelle Katastrophe, mal als Chance zeichnen. Die teilweise irrationale und erhitzte Debatte fand natürlich ebenso im Ausland statt, wie die Beiträge von Neil Postman (1985) oder Pierre Bourdieu (1996) zeigen. Man lernt im Durchgang durch die Geschichte der Fernsehtheorie also nicht nur viel über das Medium und seine Ästhetiken, sondern auch über die Ängste davor und dessen kulturellen Impetus. Metahistorische Beiträge, die diese ideologisch-ästhetischen Debatten wieder an die Technikgeschichte des Mediums zurück binden, wie sie etwa durch den Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen geführt wurden, vermisst man allerdings. Hagen hat seinen Auftritt im Band lediglich als Interviewpartner mit Niklas Luhmann (1997).

Michael Grisko (Hg.): Texte zur Theorie und Geschichte des Fernsehens. Stuttgart: Reclam 2009. 343 Seiten (Paperback), 9,80 Euro. Bei Amazon kaufen.

(SH)

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Eher kleines Licht

„Die Geschichte des Filmlichts ist die Geschichte des Films“ – so vollmundig und natürlich vollkommen korrekt konstatiert Richard Blank im Untertitel seines jüngst im Alexander-Verlag erschienenen Bandes „Film & Licht“ und verspricht somit, jene Geschichte des Filmlichts darin auch zu erzählen, zumindest aber anzureißen. Ebendies stellt ja im Grunde längst ein Desiderat der Filmwissenschaft dar, handelt es sich doch im Falle des Lichts nicht nur um ein entscheidendes Element des Kinobildes, sondern um nichts weniger als dessen Urmoment. Somit ist es also in jedem Fall begrüßenswert, dass diese Publikation die Frage des Filmlichts ins Bewusstsein der cineastischen Öffentlichkeit rückt. Leider ist das aber auch schon das einzig Positive, das man über Blanks Buch sagen kann.

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Genie und Wahnsinn bei Süskind und Schneider

„Zwischen Genialität und Wahnsinn gibt es nur einen Faden“, so ein altes chinesisches Sprichwort, welches bedeutet, dass Genialität und Wahnsinn manchmal schwer zu unterscheiden sind – was ebenso für ihre Definition gilt. Bettina Pflügl versucht in ihrer Arbeit über Patrick Süskinds „Parfüm“ und Robert Schneiders „Schlafes Bruder“ nicht nur die „sprichwörtlichen“ Zusammenhänge zwischen den beiden Aspekten aufzuzeigen, sondern auch die – nahe liegenden – Aspekte „Genialität“ und „Wahnsinn“ im Hinblick auf ihre gesellschaftliche und literarische Komponente näher zu beleuchten. Sie geht dabei von der Genie-Konzeption des Sturm und Drang, dem Geniebegriff Otto Weinigers und der Verbindungstheorie von Genialität und Wahnsinn bei Gottfried Benn aus, um daraus eine eigene Definition beider Begriffe zu entwickeln und auf beide Romane zu applizieren.

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8½ Jahrzehnte Kino – eine Liebeserklärung

Schon mit dem Prolog kriegt er uns. Auf gerade einmal vier Seiten erzählt er da eine Geschichte zum vorangestellten Bild einer schönen Frau. Wie großes Kino ja überhaupt so oft vom Bild einer schönen Frau ausgeht. Godard sagte, für einen Film brauche man nicht mehr als ein Mädchen und einen Revolver. Und sein ewiger Antipode Truffaut war der Ansicht, Filme machen bedeute, schönen Frauen bei schönen Dingen zuzusehen. Dominik Graf und sein Herausgeber Michael Althen, der ein schönes Vorwort beisteuert, verstehen freilich, dass zur Schönheit etwas Weiteres hinzukommen muss: die Traurigkeit. Das Mädchen aus dem Bild ist noch nicht sehr traurig, eher hoffnungsfroh wartend; doch die Traurigkeit schwebt bereits über ihr, wird später umso brutaler zuschlagen. Das Mädchen stammt aus dem Film „L’Ainé des ferchaux“ von Jean-Pierre Melville, einem der allergrößten französischen Filmemacher überhaupt, und Dominik Graf erzählt nicht nur diese kurze Sequenz am Anfang dieses bestimmten Filmes nach. Gleichzeitig erzählt er davon, was das Kino mit uns machen kann.

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Die Film-Stadt und ihre Stadtfilme

Los Angeles gehört wohl – neben New York, London und Paris – zu den meist gefilmten Städten der Welt. Anders als diese musste sich aber Los Angeles sein filmisches Dasein per se erst erkämpfen. Während die Weltstädte wie von selbst zu Objekten cinematografischer Begierde wurden, war die „horizontal city“ am Anfang des Jahrhunderts noch ein aus urbaner Perspektive unattraktives Dorf und hat sich erst nach und nach den Status einer filmenswerten Lokalität erarbeitet. Gefilmt wurde in Los Angeles zwar schon immer, seit sich in Hollywood die Kinoindustrie angesiedelt hatte, aber das Gefilmte wurde verkleidet: Das Gezeigte war immer andernorts. Heute ist dies natürlich nicht mehr so, und Los Angeles ist nicht nur Dreh-, sondern auch Handlungsort einer kaum überschaubaren Anzahl von Filmen und Fernsehserien. L.A. ist in mehr als einer Hinsicht die Film-Stadt.

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Basterd Pop und Tarantismus

Quentin Tarantinos neuer Film „Inglourious Basterds“ hat die deutsche Diskursmaschinerie angeworfen, so viel ist klar. Die amerikanisch-deutsche, unter massig Medienrummel in Babelsberg inszenierte Koproduktion zählte sicherlich von vornherein zu den heiß erwarteten Filmen dieses an Blockbustern nicht unbedingt armen Kinosommers. Die Gralshüter der Political Correctness konnten es kaum erwarten, sich über die Unverschämtheit von „Inglourious Basterds“ aufzuregen, der die historischen Fakten hemmungslos zurechtbiegt und zu einer jüdischen Rachefantasie umschmiedet. Die rechtsnationale Szene hingegen fühlt sich erwartetermaßen in ihrer deutschtümelnden Soldatenehre verletzt und startete rechtzeitig zum Start, insbesondere in der Online-Berichterstattung, groß angelegte Hetzkampagnen. Und auch so manchem unbedarfteren Zuschauer scheint es zweifelhaft, ob man und insbesondere der verspielte Postmodernist Tarantino sich denn soviel Freiheit im Umgang mit den historischen Fakten erlauben dürfte. Andere wiederum empfinden und preisen eine befreiende Wirkung, eine Erlösung von der Last der historischen Schuld und neu erschlossene Genehmigung, die eigene Vergangenheit nun künftig spielerisch als popkulturelle Actionerzählung zu be- und verhandeln. Right for the wrong reasons.

inglouriousbasterdsDass es sich nämlich so einfach nicht verhält mit Tarantinos neuem Film, das legt Georg Seeßlen in einer beeindruckend schnell nach der Premiere verfassten, verlegten und rechtzeitig zum Kinostart auf den Markt gebrachten Buchveröffentlichung dar. „Quentin Tarantino gegen die Nazis“, so der treffende Titel des Bändchens, das darüber hinaus noch „Alles über Inglourious Basterds“ zu verraten verspricht. Um diesem Ziel zumindest nahe zu kommen, nähert sich Seeßlen seinem Gegenstand gleich von mehreren verschiedenen Seiten an. In einem ersten Teil legt er dar, was den speziellen postmodernen Collagestil des Kinos von Quentin Tarantino ausmacht, und denkt dies bereits unter dem Vorzeichen und mit dem Aspekt der Bastardisierung zusammen. Eine kleine Kulturgeschichte des Bastards steht am Anfang, auf die eine knappe Einführung in den „Tarantismus“ folgt – falls es wirklich noch jemanden geben sollte, der die vier großen Filme des Quentin Tarantino noch nicht in- und auswendig kennen sollte. („Kill Bill“ soll hier als ein Film gelten, und über die Kooperation des begabten Geeks Tarantino mit dem unbegabten Geek Robert Rodriguez zum unheiligen „Grindhouse“-Projekt sei hier gnädig der Mantel des Schweigens gedeckt.) In einem ausführlichen zweiten Teil zeichnet Seeßlen dann ausführlich den Plot von „Inglourious Basterds“ nach, nebst einer Reihe von typografisch markierten Exkursen zu Passagen des bereits weit vor der Veröffentlichung im Internet verfügbaren Drehbuch, die es nicht in den fertigen Film geschafft haben. In diesen Abschweifungen und Umwegen, vereinzelten Geistesblitzen, liegt natürlich wie immer die eigentliche Stärke der Texte von Georg Seeßlen. Immer wieder entfernt er sich scheinbar vom Stoff, nur um dann von anderer, meist sehr aufschlussreicher Seite wieder zum Gegenstand seiner Überlegungen zurückzukehren. Das ist nicht unbedingt immer streng wissenschaftlich, aber „Quentin Tarantino gegen die Nazis“ ist auch kein akademisches Buch. Es ist aber auch kein Fanbuch, das aus wahlweise cinephiler oder rein nerdiger Perspektive seinem Gegenstand huldigt. Es ist vielmehr eine Gedankensammlung, ein Angebot unterschiedlicher Herangehensweisen an einen Film, der nicht nur großes Kino sein will und erst recht nicht nur schnödes Unterhaltungsprodukt – auch wenn er beides im Übermaß ist –, sondern der sehr bewusst und reflektiert mit Erwartungshaltungen unterschiedlichster Seiten bricht, andere übererfüllt, und der letztendlich zu den herausfordernden wie herausragenden Filmen dieses Kinojahres gehören.

Seeßlen selbst schreibt, es handle sich bei „Inglourious Basterds“ um einen Film, „an dem sich das, was Geschichte, Erinnerung, Erzählung und Kino ist, neu definieren muss.“ Jedenfalls ist es ein Film, der von vielleicht überraschender, jedenfalls aber profunder Tiefe ist, von grundlegender Ambivalenz und von nachhaltiger Wirkung. Georg Seeßlens Buch erklärt nicht „Alles über Inglourious Basterds“, kann und will das auch nicht – und dass sich der Autor darüber bewusst ist, macht eine große Stärke seines Schreibens aus. „Quentin Tarantino gegen die Nazis“ ist eher ein Gesprächsangebot, eine Fundgrube kluger Gedanken zu einem Film, dessen wahre Bedeutung erst noch ausgefochten werden muss. Es wird sich, so ist zu vermuten, ein langwieriger und kontroverser Diskurs um ihn entwickeln. Als Auftakt zu diesem Diskurs wird Seeßlens Buch unverzichtbar sein.

Georg Seeßlen
Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über „Inglourious Basterds“
Berlin: Bertz + Fischer 2009
176 Seiten, 9,90 Euro

Dieses Buch bei Amazon kaufen.

»Ich lausche deiner Stimme, Kleines«

Die Synchronbranche fristet analog zu ihrer bedauerlicherweise nicht sichtbaren Effektivität noch immer ein relatives Schattendasein. Dabei kann sie nunmehr auf eine historische Pflege zurückblicken, die beinahe so betagt ist wie der Tonfilm selbst. Darüber hinaus erleichtert die sprachliche Transponierung von Filmen und Serien Millionen von Kinogängern und TV-Schauern ihr alltägliches Entertainment immens. Niemand käme hierzulande auf die Idee, sich darüber zu wundern, dass Matthew Fox, Held der Serie „Lost“, bei seiner Ausstrahlung im deutschen Fernsehen regelmäßig in gestochenem Hochdeutsch parliert, obgleich es sich um einen US-Akteur handelt, der vermutlich bestenfalls ein paar Bruchstücke unserer Sprache beherrscht. Umgekehrt zöge die Ausstrahlung einer Folge „Lost“ im Originalton sicher eine andere Reaktion nach sich: Das Programmmanagement könnte sich vor nachfolgenden Protestbriefen vermutlich kaum retten.

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Allem Anfang wohnt ein Unfall inne

Paul Virilio ist einer der letzten großen französischen Denker der postmodernen Kulturtheorie, der noch lebt und produktiv ist. Bekannt geworden durch seine Untersuchungen zur Bunkerästhetik, zur Beschleunigung sowie zur Vernetzung von Kriegs- und Medientechnologie hat sich Virilio zu einem der führenden Stichwortgeber der heutigen Medien- und Kulturwissenschaft etabliert. Vor allem sein Konzept der Dromologie hat weit reichenden Einfluss auf die Entwicklung medien-kultureller Theoriebildung bekommen. Autoren wie der Soziologe Hartmut Rosa haben Teile ihrer Forschung im Anschluss daran entwickelt um zu zeigen, dass die Beschleunigung eine Erklärungspotenz besitzt, die sich auf vielfältige(re) Bereiche als allein die Entwicklung von Verkehrs- und Medientechnologien beziehen lässt. Sie ist quasi als Paradigma der westlichen Moderne anzusehen. Doch mit der steten Beschleunigung – das hat Virilio auch immer wieder betont – wird die katastrophale Entschleunigung, also der Unfall, auch immer bedeutsamer.

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