Die Geburt des Wissens aus der Katastrophe

„Wie konnte das passieren?“ Diese Frage, die immer dann gestellt wird, wenn eine Katastrophe sich ereignet hat, markiert in gewisser Hinsicht immer schon das eigene Zuspätkommen. Das Desaster, die Katastrophe, der Unfall sind Formen von Ereignissen, die sich im Augenblick ihres Eintretens selbst auslöschen. UMS721kumediKassung.inddAlles, was es über die Kontingenz des Anormalen zu wissen gibt, kommt notwendig nachträglich hinzu. Unfälle ereignen sich also immer diskursiv in der Rekonstruktion ihrer Ursachen. Damit sind sie zum einen ausgezeichnete Medienereignisse, zum anderen führt das Nach-Denken über den Unfall auch zum Weiterdenken von Sicherheitstechnik, zu Strategien der Vermeidung oder – bei einer stetigen Häufung besonderer Unfalltypen – zu einer statistischen Normalisierung des Unglücks. Kurz gesagt: Katastrophen lassen sich nur im Nachhinein verstehen und bringen dadurch unweigerlich ein Denken der möglichen Unmöglichkeit in Gang.

Dieser Logik der Katastrope und ihren kulturellen Verarbeitungstechniken widmet sich der Sammelband von Christian Kassung „Die Unordnung der Dinge – Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls“. Die Autoren des Bandes und allen voran der Herausgeber sehen den Unfall in diesem Sinne nicht als monströsen Einbruch ins Kontinuum einer funktionierenden Weltordnung, sondern als gesellschaftsstiftendes Denkmodell, dessen Rahmenbedingungen neue Kulturtechniken überhaupt erst ermöglicht. Dabei scheint es  interessanterweise durchweg um Phänomene zu gehen, denen es sich in minutiöser Kleinarbeit anzunähern gilt. Zumindest erweckt die Komposition der siebzehn Einzeluntersuchungen diesen Anschein. Allen Aufsätzen ist eine hohe Sensibilität fürs Rekonstruieren zu eigen und gerade dieser detektivische Zug macht die Lektüre des Bandes so spannend.

Schon der erste Aufsatz von Burhard Wolf fördert Erstaunliches zu Tage. Vor dem Hintergrund der Geschichte abendländischer Schifffahrt erfährt der Leser zunächst etwas über die Dialektik von Abenteuer und Sicherheit, die die Seefahrt seit der Antike bestimmt. Durch die Ausweitung des Nautischen werden im Laufe der Geschichte nicht nur Begriffe wie „Risiko“ und „Versicherung“ in die ökonomische Debatte über Handel und Profit mit einbezogen. Wolf gelangt zu der Einsicht, dass die Risiken der Seefahrt deshalb in Kauf genommen werden, um sie in einem Kalkül über Ge- oder Misslingen der Fahrt produktiv zu machen. Die Konstruktion der Schiffe erweist sich unter dem Vorzeichen dieses kalkulierten Risikos als „Modulierung des eigenen Untergangs“.

Auf hoher See bleiben auch Christian Kassung und Wolfgang Hagen, wenn auch in ganz unterschiedlichen Tiefenregionen. Kassung liest die seismographischen Protokolle die zum Zeitpunkt des Kursk-Unfalls in der Barentssee aufgezeichnet worden sind. Da sich eine U-Boot-Katastrophe in aller Regel außerhalb des sichtbaren Bereichs abspielt, müssen hier andere Strategien der Forensik gefahren werden. Kassung zeigt, wie die Seismographie diese Rolle einznehmen in der Lage ist.

Hagen hingegen stellt die tragischen Umstände des Titanic-Untergangs anhand der Konstellation des Schiffspersonals und besonders der Marconi-Funker nach. Letztere sollen noch bis zum Zeitpunkt des Unglücks Privatmitteilungen der zahlenden Kundschaft übermittelt haben, anstatt den eingehenden Eisbergwarnungen die adäquate Beachtung zu schenken. Eine „Katastrophe des Funks“ ist der Untergang der Titanic jedoch nicht nur wegen der Leichtfertigkeit der Funker an Bord des Luxusliners, sondern auch, weil unter dem Eindruck des damals noch jungen Mediums Marconi-Funk der Run auf die neuesten Nachrichten über Opferzahlen und Ursache eine so große Überlagerung von Falsch- und Fehlmeldungen erzeugte, dass eine effektive Koordination der Seerettung schlicht unmöglich gemacht wurde. Diese fatale Weltsensation ersten Ranges führte im US-Kongress 1912 schließlich zur Verabschiedung des „Radioact“, der den Funk in militärische, öffentliche und private Frequenzen aufteilen sollte.

Dort, wo versucht wird, dem Raum seine Zeit abzutrotzen, entsteht Geschwindigkeit. Beschleunigung und Tempo fordern besondere Technologien, die immer auch anfällig sind für das Desaster. Auf die Schienen wird der Unfall unter dieser Prämisse von Esther Fischer-Homberg und Peter Glasner verlegt. Die Geschichte des ersten großen Eisenbahnunglücks, das sich am 8. Mai 1842 bei Meudon auf der Strecke Paris-Versaille abgespielt hat, wird von Fischer-Homberger anhand der schweizerisch-französischen Berichterstattung rekonstruiert. Der Unfall hat dabei eine ausgezeichnete Stellung inne. Als erster technischer Unfall markiert er eine Verstörung des vorindustriellen Denkens, die zwangsläufig neue Strategien und Rhetoriken und schließlich auch einen eigenen Zeitungsjargon nach sich zieht. In diesem Sinne läutet der Unfall von Meudon die Moderne mittels eines Infernos ein.

Glasner versucht, mit Thomas Manns Kurzgeschichte „Das Eisenbahnunglück“ die verschiedenen statistischen, journanlistischen und literarischen Rhetoriken zu vergleichen, die sich zur Kaiserzeit in Deutschland etabliert haben. Am Begriff der Entgleisung zeigt er, wie sich das Individuum im Falle einer Katastrophe in der Statistik notwendig ausgegrenzt sieht, wohingegen der journalistische und literarische Erlebnisbericht den Eindruck des unerwartbaren Einbruchs schildern.

Um Beschleunigungskräfte ganz anderer Art geht es dem Autorenduo Harry Collins und Trevor J. Pinch, die die Prozessakten des Challenger-Unglücks von 1986 aufarbeiten. Ein Dichtungsring, der das Feststofftriebwerk mit der Schubdüse verbindet, soll die Ursache gewesen sein. Die tragische Geschichte der Challenger ist also auch eine Geschichte dieser Dichtung, ihrer Entwicklungsphasen, den zahllosen Testläufen und so weiter. Um die verwickelte Situation dieses Stückchens Kunstoff aufzuzeigen, ist es unabdingbar, ein differenziertes Bild der Konstellation von Entwicklerteam, Management, Termindruck und Risikoabwägung zu zeichnen.

Es führte vielleicht übers Ziel hinaus, zu behaupten, dass über Unfälle im kulturwissenschaftlichen Kontext noch nie gesprochen worden sei, denn gerade im Schnittfeld mit der Soziologie wird die Katastrophe immer wieder unter den Schlagwörtern des Risikos und Gefahr verhandelt. Im Vorwort, das Paul Virillio beigesteuert hat, entsteht dieser Eindruck jedoch zuweilen, fordert dieser nicht sogar eine „Universität des Desasters“ (so auch der Titel seines 2008 erschienenes Werk). Das Phänomen „Katastrophe“ von der Seite seines kulturschaffenden Potenzials her zu lesen, ist aber zweifellos ein hoch ambitioniertes Vorhaben. Beim Lesen merkt man den Autoren förmlich ihre Begeisterung für dieses randständige Themenfeld an, so dass man sich bei der Lektüre plötzlich in einem Sog von spannenden und erstaunlichen Fakten und Fiktionen wiederfindet. Ehe man sich’s versieht, hat man dann den knapp 470 Seiten langen „Unfallbericht“ durchgearbeitet. Es ist selten, dass in einem Sammelband die Arbeiten mit einer so durchgehend hohen inhaltlichen und stilistischen Qualität überzeugen können, wie dies in der vorliegenden Ausgabe der Fall ist. Eine so beispielhafte Komposition von Fachaufsätzen wünscht man sich öfter.

Zu den Autoren des Bandes zählen: Paul Virilio, Christian Kassung, Burkhardt Wolf, Esther Fischer-Homberger, Matthias Bickenbach, Christoph Asendorf, Harry Collins / Trevor J. Pinch, Peter Glasner, Bernd Stiegler, Wolfgang Hagen, Albert Kümmel-Schnur, Jörg Potthast, Wolfgang Coy, Olaf Briese, Nicolas Pethes, Ulrike Brunotte, Benno Wagner, Thomas Macho.

Christian Kassung (Hg.)
Die Unordnung der Dinge
Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls.
Bielefeld: Transcript 2009
476 S., kart., zahlr. z. T. farb. Abb.
Preis 29,80 €

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