Maschinenherz und Herzmaschine

Berlin im Februar 2010. Auf dem Potsdamer Platz herrscht die alljährliche Hektik der Berlinale. Es ist das 60. Jubiläum des Filmfestivals und einer der diesjährigen Höhepunkte wird kein ganz neuer, sondern ein ganz alter Film sein, der in lange Zeit nicht gesehener Version vorgeführt wird: Fritz Langs „Metropolis“ von 1927, der in einer jetzt 24 Minuten längeren, restaurierten Fassung fast wieder vollständig vorliegt.

Zwei Kilometer vom Potsdamer Platz entfernt erlebt kurz vor Beginn der Berlinale noch das Werk eines zweiten Künstlers nach Jahrzehnten ein erneutes öffentliches Wiedersehen: Fritz Kahn und die von ihm konzipierten Grafiken zur Physiologie und Anatomie des menschlichen Körpers. Die Ausstellung über Kahn findet im Medizinhistorischen Museum der Charité statt und heißt „Menschmaschine“. Zu beiden Kulturereignissen sind vor kurzem ausführliche Kataloge erschienen.

Dass sie hier zusammen vorgestellt werden können, hat gleich mehrere Gründe. Der naheliegendste ist der, dass der kulturelle Einfluss sowohl auf Fritz Lang als auch auf Fritz Kahn derselbe war: Das Berlin der 1920er Jahre. „Metropolis“ entstand in einer Zeit, in der Kahn in Berlin sesshaft war; es ist mehr als wahrscheinlich, dass der Mediziner Kahn auf dem Weg zu seiner gynäkologischen Praxis auch am wenige Jahre zuvor eröffneten UFA-Palast vorbei kam. Dort startete Langs „Metropolis“ zuerst nur in einem kleinen Saal und lief nur kurze Zeit, bevor er kurzfristig wieder verschwand, dann aber gekürzt noch einmal einen furiosen Zweitstart erlebte.

Moloch aus "Metropolis"

Die bedeutendere Gemeinsamkeit zwischen Kahns Werk und „Metropolis“ ist jedoch inhaltlicher Natur. Sowohl Langs Film als auch die vom Mediziner in seinem Atelier in Auftrag gegebenen Zeichnungen sind deutliche Marksteine des europäischen Futurismus. Und während Fritz Langs Film eine utopische Symbolik des Industrie-Zeitalters entwirft, nähert sich Kahn dem Thema von der anderen Seite mit neuer Sachlichkeit und erklärt den Menschen mithilfe industrieller und maschineller Metaphorik. Kahn bringt seiner damals begeisterten Leserschaft die Geheimnisse des Lebens durch reduzierte Grafiken nahe: „Der Mensch als Industriepalast“ – dieses Plakat steht auch in der Berliner Ausstellung im Zentrum seiner Arbeit.

Sehen eines und Aussprechen des Wortes "Schlüssel"

Kahns Funktionsanalogien „zeichnen“ den Menschen als das, was der tschechische Autor Karel Čapek etwa zur selben Zeit (1921) als „Roboter“ definiert hat: Eine anthropomorphe Maschine in der „es arbeitet“. Kahn findet Analogien zwischen Anatomie und Physiologie in beinahe allen Bereichen der Technik: Die Energiegewinnung aus Nahrung funktioniert wie eine Dampflokomotive, die Hörorgane weisen im Aufbau Ähnlichkeiten zum Getriebe eines Automobils auf und die Verarbeitung von Sinnesdaten im Gehirn stellt er wie einen bürokratischen Verwaltungsapparat dar. Eine zentrale und immer wiederkehrende Metapher ist für ihn die des Kinematographen: In mehreren Grafiken analogisiert Kahn das Sehen mit dem filmischen Aufnahmeprozess, die mentale Bilderkennung mit einer Lichtbild-Vorführung und den Bildverstehensprozess mit einer Filmentwicklung. Dass das menschliche Auge in seiner Funktion mit dem Verschlusssystem einer Kameralinse verglichen wird, ist dabei noch das Naheliegendste.

Die künstliche Maria und die Herz-Maschine
Die Arbeiter stürmen die Herz-Maschine

Fritz Lang leistet in „Metropolis“ im Prinzip dasselbe wie Kahn, nur nicht aus der Mikro-, sondern aus der Makroperspektive. Er stellt die kapitalistische und industrielle Gesellschaft als einen Körper dar, der in vertikale Hemisphären aufgeteilt ist. Während „oben“ die Konzernleitung der Stadt Metropolis das Leben genießt, schuften „unten“ die Arbeiter im Zehn-Stunden-Takt bis zur Erschöpfung. Die Mitte fehlt – das ist das Thema des Films. Dieses Fehlen nützt ein finsterer Wissenschaftler aus, um die Arbeiterschaft mit Hilfe einer künstlichen Frau zur Revolte zu verführen und die Stadt Metropolis zu zerstören. Dass diese Verführerin ein Roboter ist und damit im Kleinen die Funktion des Großen-Ganzen abbildet, ist der narrative Clou des Films. Als Angriffsziel wählt Fritz Lang eine „Organ-Metapher“ besonderer Art: Die „Herz-Maschine“. Sie steuert den Stadt-Körper Metropolis, sie ist das Gehirn und der Motor.

Der Infarkt der Herz-Maschine
Der Infarkt der Herz-Maschine

Fritz Kahn findet für das menschliche Herz „natürlich“ eine ganz ähnliche Darstellung: In seiner 1926 für sein Buch „Das Leben des Menschen“ entstandenen Grafik „Die Atmung“ wird der Körper im Sagittalschnitt präsentiert. Oben, im Kopf, die Steuerzentrale, in der die Atmung initiiert wird; unten, im Torso, ein weit verzweigtes Rohrsystem, in dessen Zentrum – wie in der Maschinen-Stadt Metropolis – die Herz-Maschine steht, in der viele kleine Motorkolben damit beschäftigt sind, das Blut durch die Arterien zu pumpen. 1942 widmet Kahn sich dem Herzen in seinem Buch „Erste Hilfe“ noch einmal näher: Hier beschreibt er die Entstehung des Pulsschlages, der an Arm- und Halsschlagadern gemessen werden kann. Das Herz ist in der Grafik prominent hervorgehoben und als Hubkolbenmotor dargestellt. Kahns Maschinen-Herz hält den menschlichen Körper funktionsfähig, wie Langs Herz-Maschine den Stadt-Körper Metropolis.

Fritz Kahns Maschinen-Herzen
Fritz Kahns Maschinen-Herzen

Es ist beiden Ereignissen, der Wiederaufführung von „Metropolis“, die zeitgleich im Fernsehen übertragen wurde, und der Ausstellung in der Charité, zu verdanken, dass diese beiden Künstler wieder in die Nähe zueinander gerückt wurden – geografisch wie thematisch. Über das wechselhafte Leben Fritz Kahns klärt der Ausstellungskatalog aus dem Springer-Verlag auf: In der Weimarer Republik zu erstem Ruhm gelangt, vor den Nazis und mithilfe Albert Einsteins 1941 in die USA geflohen, stark engagiert beim Aufbau Israels und bis in die 1960er Jahre aktiv – aber leider nie wieder so populär wie in den 1920er und -30er Jahren. Der Katalog zur Ausstellung berichtet nicht nur vom Leben Kahns, sondern stellt sein Werk erstmals in zahlreichen, thematisch sortierten Abbildungen vor. Über 250 Grafiken, farbige wie schwarz-weiße, haben die Herausgeber zusammengetragen; immer noch nur ein Ausschnitt aus dem gesamten Schaffen – aber ein Anlass, sich diesem weiter zu widmen.

Der zweisprachige Katalog „Fritz Kahn Man Machine/Menschmaschine“ stellt Kahns Biografie im Detail vor, klärt die Vorgehensweise seines Schaffens und analysiert seine Metaphorik, die dabei mehrfach auch mit dem Film und dem Kino erklärt wird: „So verrät Kahns Gehirnkino [gemeint sind die Zeichnungen über die Worterkennungen von „Auto“ und „Schlüssel“, S. H.] vermutlich mehr über die damalige Konjunktur der UFA als über die Vorgänge im Gehirn“, schreibt Cornelius Borck in seinem einleitenden Essay. Und die beiden Herausgeber betonen in ihrem Portrait-Text den Einfluss der demokratischen Massenkultur in Berlin auf das Schaffen Kahns: „[…] hier steht ein Industriepalast mit rund 40000 qm Gewerbefläche und das legendäre Filmtheater UFA-Palast“, in dem – wie gesagt – auch Fritz Langs „Metropolis“ am 10. Januar 1927 das Licht der Welt erblickte.

Den Prozess von der Konzeption bis zur Fertigstellung von „Metropolis“, die Verstümmelung des Films durch den amerikanischen Verleih, die Geschichte der Restauration und die spektauläre Wiederentdeckung einer fast vollständigen Version des Films im Jahre 2008 im Filmmuseum Museo del Cine in Buenos Aires zeichnet der im belleville-Verlag erschienene, voluminöse Ausstellungskatalog „Fritz Langs Metropolis“ nach. Auf den ersten ca. 100 Seiten wird die Produktions- und Rezeptionsgeschichte des Films erzählt, von der Wiederentdeckung berichtet und über die Rekonstruktionsarbeiten berichtet. Alle Autoren (und Interviewer) stehen in engen Kontakt zum Film, haben teilweise über Jahre hinweg über Metropolis geforscht und sich mit seiner Restaurierung beschäftigt. Ihr Wirken findet neben dem Film, in dessen 2001 bereits exzellent restaurierte Fassung nun die digital aufbereiteten Szenen der gefundenen 16-mm-Negativkopie eingearbeitet wurden, vor allem in den Texten und Bildern dieses Prachtbandes Anerkennung.

„Fritz Langs Metropolis“ ist mit über 600 teilweise farbigen, oft seitenfüllenden Abbildungen die bislang umfangreichste Veröffentlichung zum Film. Gezeigt werden hier nicht nur Filmstills, sondern auch zahlreiche Fotos vom Set, während der Produktion und nach der Erstaufführung. Eine gänzlich neue Perspektive entwickelt der Band, indem er – wie schon die Ausstellung im Berliner Filmmuseum am Potsdamer Platz – den Film nicht chronologisch in Standbildern vorstellt, sondern nach den Handlungsschauplätzen. So geraten thematische Komplexe und Motive in den Fokus der Betrachtung, die zuvor aufgrund ihrer Randständigkeit innerhalb der Erzählung von „Metropolis“ nur kleinen Raum eingenommen haben. Eine motiv-bezogene Betrachtung der Industrie- und Maschinen-Metaphorik, wie ich sie hier vorgenommen habe, ist insbesondere auch dieser Neugruppierung geschuldet.

Beide Bände lassen die Ereignisse, die ihnen zugrunde liegen, die Ausstellungen in der Charité und im Berliner Filmmuseum, auch nach deren Ende Revue passieren. Sie würdigen große Kunstwerke und Künstler der Weimarer Republik und werfen ein Bild auf die kulturelle Verarbeitung der Industriegesellschaft und die Grenzen der technischen Aufklärung. Dem Katalog zur Fritz-Kahn-Ausstellung ist ein großformatiges, farbiges Plakat der Grafik „Der Mensch als Industriepalast“ beigegeben, das auch den Umschlag des Bandes ziert. Der Ausstellungskatalog „Fritz Langs Metropolis“ enthält so viele Abbildungen, dass eine solche Dreingabe gar nicht nötig ist.

Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen (Hg.):
Fritz Langs Metropolis
München: belleville 2010
400 Seiten (gebunden), über 600, teilw. farbige Abbildungen; 49,80 Euro
Dieses Buch bei Amazon kaufen.

Uta von Debschitz/Thilo von Debschitz (Hgg.):
Fritz Kahn: Man Machine/Menschmaschine
Wien/New York: Springer 2009
208 Seiten (Hardcover), über 250 teilw. farbige Abbildungen, 49,95 Euro
Dieses Buch bei Amazon kaufen.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.