Das Problem als Adaptionsvorlage

Man erzählt sich, Queen Victoria habe, zu ihrer großen Verwunderung, 1867 von einem Diakon und Mathematiktutor namens Charles Lutwidge Dodgson ein Buch zugeschickt bekommen mit dem Titel An Elementary Treatise on Determinants. Verwundert sei Victoria vor allem deshalb gewesen, weil sie von dem Autor eine Publikation völlig anderen Typs erwartet hatte, ein Kinderbuch. Dodgson hatte nämlich gut ein Jahr zuvor unter dem Pseudonym Lewis Carroll sein erstes und sogleich legendäres Kinderbuch Alice’s Adventures in Wonderland veröffentlicht. Von der Lektüre entzückt habe die Queen den Autor aufgefordert, ihr so bald als möglich seine nächste Veröffentlichung zukommen zu lassen. Dodgson habe sie beim Wort genommen und ihr die Treatise on Determinants geschickt.

Auch wenn die Anekdote frei erfunden ist, so kann man an ihr doch sehr gut ablesen wie erfolgreich Alice bereits kurz nach der Veröffentlichung war und wie tief man Dodgson in den von ihm geschaffenen Kosmos hinein interpretiert hat. Alice’s Adventures in Wonderland und der 1872 erschienene Nachfolger Through the Looking Glass sind auch heute noch paradigmatisch für die literarische Transformation des kindlichen Nonsens, ja der Phantasie überhaupt. Die einfachen und dennoch doppelbödigen Figuren und Bilder fordern genauso wie klassische Märchenfiguren zu ständiger Neuinterpretation heraus. In knapp 150 Jahren hat sich der Stoff bereits so sehr aus den Romanen und von seinem ursprünglichen Autor gelöst, dass man diesen bestenfalls unter seinem Alias kennt und ihn eigentlich nur noch in den mythischen Kosmos des Wunderlandes mit ebenso skurrilen Anekdoten zu reintegrieren weiß, wie der Stil des Alicemythos sie vorgibt. Tatsächlich war Dodgson ein durchaus durchschnittlicher Bürger des Viktorianischen England, der sehr genau zu unterscheiden wusste zwischen seinen Tätigkeiten als Diakon und Mathematiktutor und seiner unter dem Namen Carroll veröffentlichten Literatur. Doziert haben soll er trocken, langweilig und ohne jeden Witz.

Trotzdem ist es interessant, dass gerade ein Mathematiker, wenn auch ein mittelmäßiger, der Autor des Phantasiebuches per se ist. Korrespondenzen zwischen Mathematik und Literatur sind durchaus vorhanden, wenn auch nicht ganz so einfache wie die eingangs erwähnte Anekdote uns Nachgeborenen glauben machen möchte. Mathematik ist im Wesentlichen das Auffinden, Formulieren und Formalisieren von Problemen. Lösungen genießen in dieser Disziplin ein weitaus geringeres Ansehen als schön gestellte Probleme. Die Stärke der Mathematik, so der Wissenschaftshistoriker Michel Serres, besteht gerade darin, dass sie die ihr wesentlichen Lösungen schon gefunden hat und sich auf der Suche nach neuen Problemen immer wieder in sich selbst stülpt. Der bekannteste Bastard aus Mathematik und Literatur ist die Textaufgabe, oder besser noch: das Rätsel. Und hier stoßen wir wieder auf Alice. Das vielleicht berühmteste Rätsel ohne Lösung ist das des verrückten Hutmachers: Warum ist ein Rabe wie ein Schreibtisch?

Man muss sich diese Kontexte bewusst machen, um ermessen zu können warum die jüngste Alice-Verfilmung von Tim Burton so schmerzlich scheitert, während die Umsetzungen des von Burton bearbeiteten Stoffes in den Videospielen für Nintendo Wii und DS so gut gelungen sind. Film und Videospiel sind, auch wenn es auf den ersten Blick anders erscheinen mag, völlig verschiedene Medien. Wo der Film, allein medienökonomisch, kaum dazu in der Lage ist ein Problem in seinem vollen Umfang darzulegen, bestenfalls einen Sachverhalt audiovisuell problematisieren kann, da ist das Videospiel in seinem wesentlichen Element. Die Zeitgebundenheit des Films macht ihn geradezu unfähig ins Detail zu gehen, Lösungsansätze sind im Film entweder nur das, eben Ansätze, oder sie entfalten sich im Verlauf des Films zur konkreten Lösung. Ein Film kann höchstens als Ganzes ein Experiment sein, nie in seinen Teilen. Jedes seiner Bilder hierarchisiert sich durch einen zeitlichen Index, den es mit sich führt. Der Film operiert fast immer im Modus des Kommenden. Tim Burton’s „Alice“ führt diesen Umstand im Wappen.

Der Film ist ein Sequel, zusammengezwirbelt aus Versatzstücken von Dodgsons Romanen und Burtonesker Mythenbildung. Schlimmer noch: Burtons „Alice“ ist allein in der visuellen Ausstattung sein geistiges Eigentum. Die Stichworte holt sich diese inkohärente Kriegsgeschichte aus dem Wunderland (oder Underland, wie man es im Film tiefsinnig bezeichnet) von Jacksons „Der Herr der Ringe“, den Verfilmungen der Harry-Potter-Reihe und, was am schlimmsten ist, vom „goldenen Kompass“. Burton nimmt die Achse zwischen Realität und Wunderland beim Wort und folgt allein hierin, im Beim-Wort-nehmen, Lewis Carrols Motiven. Indem er sämtliche Figuren aus den Alice-Büchern politisiert und damit in ein agonales Verhältnis setzt, unterläuft Burton die grundlegendste Textur der Vorlage. Auch wenn man die Spielmotivik von Dodgsons Romanen nicht leugnen kann, so muss man dennoch einen klaren Unterschied machen zwischen ludischem und agonalem Spielen: Carrolls Spiele unterlaufen Regeln, verzetteln sich in Nonsens oder produzieren, gerade da wo sie den Regeln folgen, Absurditäten. Etwas so rationales wie Krieg ist im Wunderland nicht vorgesehen, allein schon deshalb weil es keine Sieger geben kann.

Das Wunderland ist nach Problemen organisiert. Seine Einwohner können aus ihrem Problemkontext nicht herausgelöst werden, höchstens kann man sie als Variablen in andere Terme übersetzen. Der verrückte Hutmacher ist nicht deshalb verrückt, weil sein Heimatdorf vom Jabberwocky niedergebrannt worden ist, sondern weil die Verrücktheit für eine bestimmte Problemkonstellation als Variable gebraucht wird. Ihn zum Protagonisten eines Films zu machen ist sinnlos auf eine fatalere Weise als das was Carroll mit dem Terminus „mad“ bezeichnet. „Mad“ ist nämlich gerade nicht andersherum oder umgekehrt, sondern mit einer bestimmten Brechung versehen, auf ein ganz bestimmtes Problem fixiert. Man darf nicht den gleichen Fehler machen wie Burton und den Begriff Figur als narratives Konstrukt missverstehen. Figur meint bei Dodgson mathematischer Term oder illustrativer Kupferstich, jedenfalls hat die Figur einen eingeschränkten Bewegungsradius.

Genau das haben die Mitarbeiter von Étranges Libellules (ELB), dem in Lyon beheimateten Entwicklungsstudio, das hinter den Alice-Spielen steckt, beherzigt. Das von Burton konzipierte Underland ist weitestgehend intakt: Die rote Königin herrscht mit Hilfe des Jabberwocky und gepanzerten Spielkarten, die sympathischeren Figuren haben sich zu einer Resistance zusammengeschlossen und suchen in der „echten Welt“ nach Alice, damit diese am so genannten frabjous day den Jabberwocky mit dem vorpal sword erschlägt. Von der von Burton verdrehten Fabel übernehmen ELB nur soviel, dass sie nicht in Erklärungsnot geraten: vorpal sword finden, Jabberwocky töten. Konzeptuell sind die Spiele nahezu identisch, auch wenn sie sich auf unterschiedlichen grafischen Ebene bewegen: die Wii-Version ist dreidimensional, während die DS-Version ein zweidimensionaler Plattformer ist. In keiner der Versionen steuert man Alice direkt, sondern man kommandiert ein Team, welches sich aus den unterschiedlichen Figuren aus Wunderland/Underland zusammensetzt. In der Wii-Version besteht dieses Team aus dem weißen Hasen, dem Märzhasen, dem verrückten Hutmacher und der Grinsekatze, auf dem DS steuert man an Stelle des Märzhasen die Raupe Absolem als vierte Figur. Jede der Figuren hat eine bestimmte Fähigkeit, die Grinsekatze etwa kann Dinge sichtbar oder unsichtbar machen, der weiße Hase kann die Zeit manipulieren. Die Figuren werden also nicht wie im Film in das für sie unbequeme Dasein von Protagonisten gedrängt, sondern sie sind als Werkzeuge zu verstehen, mit deren Hilfe man bestimmte Probleme zu lösen hat.

Obwohl ELB dem von Burton umgeformten Alice-Kosmos treu bleiben, schaffen sie es in der Umsetzung des Stoffes ins Medium Videospiel den episodischen Charakter der Vorlage wiederherzustellen. Gekämpft wird auch in den Spielen, aber das ist Nebensache, ein Pfand an althergebrachte Videospielkonventionen von denen man sich nicht hat lösen können. Im Herzen sind die Alice-Spiele Rätselspiele: Ein Raum, oder eine Abfolge von Räumen, enthält eine Zusammenstellung mehr oder weniger komplexer Probleme die sich aus den Variablen Raum, Zeit, Sichtbarkeit und Perspektive zusammensetzen. Diese Probleme gilt es nun durch die geschickte Kombination der Fähigkeiten der Figuren zu lösen. Wo Burton sich für seinen Film bei den abschreckendsten Beispielen des Popcornkinos bedient, schauen ELB auf die Größen der Videospielgeschichte: Die Wii-Version orientiert sich an „Super Mario Galaxy“, „The Legend of Zelda: Ocarina of Time“ und „Lego Star Wars“, während die DS-Version „Metroid“, „Braid“ und „Super Paper Mario“ zitiert.

Wer sich mit dem Phänomen Videospieladaptionen von Filmen beschäftigt hat, der wird wissen wie selten und erstaunlich die Tatsache ist, dass ein guter Film auch ein gutes Spiel nach sich zieht. Dass ein derart misslungener Film wie Tim Burtons „Alice in Wonderland“ sogar zwei verschiedene gute Spiele im Gefolge hat, gleicht dem schwarzen Schwan der Videospielumsetzungen. Nicht nur schaffen es die Designer von ELB die Spiele im Geist der literarischen Vorlage zu konzipieren, es gelingt ihnen obendrein auch noch zwei unterschiedliche Spiele zu machen, die absolut dem Stand der Technik aus der Perspektive des Mediums Videospiel entsprechen.

Erweitert man den kulturellen Radius ein wenig, so kann man hier durchaus einen Bruch im Verhältnis der beiden Medien beobachten. Es formt sich ein Strang von Videospielen, die absolut im Bewusstsein der medialen Eigenarten und vor allem Stärken des Mediums produziert werden. Ohne auf die spezifischen Erfolge und Produktionsweisen des Films zu schielen, kann man mittlerweile sogar unter dem Deckmantel der Adaption Qualität hervorbringen, die den Vergleich mit den genuin videospieleigenen IPs (intellectual properties) nicht zu scheuen braucht. Auch wenn die Adaption von Filmen durch Spiele nach wie vor den Regelfall beschreibt, bleibt festzuhalten, dass das Videospiel immer mehr zu einer eigenständigen Sprache findet, die mit Stolz gepflegt werden kann und manchem literarischem Stoff besser gewachsen ist als der Film. Über Tim Burtons „Alice in Wonderland“ wird den Zuschauern wahrscheinlich in ein paar Jahren nicht sehr viel mehr in Erinnerung geblieben sein als Alice sich aus dem kryptischen Gedicht „Jabberwocky“ zusammenreimen kann: „However, somebody killed something: that’s clear, at any rate –“.

Disney’s Alice im Wunderland
(Disney Interactive Studios 2010)
Verfügbar für Nintendo Wii (getestet), PC, Nintendo DS (getestet)
Freigegeben ab 12 (Wii/PC) und 6 (DS) Jahren
Preis: 39,99 Euro (DS), 45,99 Euro (Wii), 19,99 Euro (PC)

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Autor: Dan Gorenstein

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