Es ist ein bisschen absurd mit der Pornofilmrezeption. Seit Jahrzehnten ist der Pornofilm im Grunde allgegenwärtig; so manche Videothek wurde und wird von ihm und im Grunde zumeist nur von ihm am Leben erhalten, und während Eltern, Studienräte und Medienapokalyptiker in seiner erleichterten Zugänglichkeit per World Wide Web den Grundstein für die ganz sicher anstehende endgültige Verrohung der zur Zeit pubertierenden Nachkommenschaft zu erkennen meinen – warum hat eigentlich Michael Haneke noch keinen Film darüber gemacht? – ergreifen und umarmen ihn Subkultur, kulturelle Avantgarde und jedwede sexuelle Emanzipationsbewegung aus den Zwischen- und Grauzonen des queeren Spektrums immer wieder aufs Neue. Das Wort von der „Generation Porno“ macht inzwischen schon so lang immer wieder aufs Neue die Runde, dass sich eigentlich schon mehrere Generationen davon angesprochen fühlen müssten, und seit einigen Jahren experimentiert das (vom Rezensenten mitkuratierte) Pornfilmfestival Berlin jährlich mit immer wieder neuen Verschiebungen und Erweiterungen des Blickes auf die explizite Darstellung von Sexualität im Film, aus kommerzpornografischer wie aus dezidiert künstlerischer Perspektive kommend.
Nachdem bereits im vergangenen Jahr mit »Sex und Subversion. Pornofilme jenseits des Mainstreams« (ebenfalls unter Mitwirkung des Rezensenten) ein Band zur etwas anderen und auch besseren Pornografie erschien, dessen Zeitspanne vom frühen Film bis in die Gegenwart reicht, veröffentlicht Christian Keßler nun mit „Die läufige Leinwand“ ein furioses Nachschlagewerk zum klassischen amerikanischen Pornofilm, den er von 1971 bis 1985 datiert. Ja, richtig: klassisch, denn selbstverständlich hat auch der Pornospielfilm eine Reihe von Hauptwerken hervorgebracht, die so etwas wie einen Kanon des expliziten Sexfilms bilden könnte – wenn es denn einen öffentlichen Diskurs geben würde, in dessen Rahmen die Nobilitierung der Pornografie zum kunstfähigen Gegenstand überhaupt erst einmal denkbar würde. Da dieser aber noch nicht wirklich existiert (obgleich sich in den Weiten des Internet tatsächlich, wie für jedes Phänomen der gegenwärtigen Populärkultur, einige Nischen finden, in denen dem Gegenstand der Affektion weitgehend unbehelligt gehuldigt werden kann), leistet Keßlers Buch zunächst einmal Grundlagenarbeit von unschätzbarem Wert.
Zu insgesamt 90 Filmen aus dem Goldenen Zeitalter des Pornokinos – einer Zeit, in der man noch von einer Versöhnung von Kunstfilm, Kommerzfilm und Pornofilm zu träumen wagte und in der Pornofilme noch auf 35-mm-Film gedreht wurden, auf richtigen Leinwänden zu sehen waren und ein Budget für solche Kleinigkeiten wie Ausstattung und ein Drehbuch zur Verfügung hatten. Diese Infrastruktur, in Verbindung mit der ungezügelten Experimentierlust von Regisseuren und Darstellen, die durch die Einbettung in die sexuellen Befreiungsbewegungen ihrer Zeit noch befeuert wurden, führte zu einer Vielfalt, die dem Videothekenpornokonsumenten von heute völlig irritierend erscheinen muss: Da gab es quirlige Slapstickkomödien, niederschmetternd depressive Kunstfilme, verstörend-psychotische Horrorstreifen – aber eben alles mit explizitem Sex und als vermarktbarer Pornofilm gedacht. Mit Christian Keßler hat sich nun ein absoluter Experte auf dem Gebiet von Trash, Exploitation und B-Movie gefunden, der den willigen Leser auf einer Abenteuerreise durch das Reich des Schmuddelfilms begleitet. »Die läufige Leinwand« ist dabei vor allem als durch eine Reihe von Interviews ergänztes chronologisch geordnetes Nachschlagewerk gedacht, das sprudelnde und detailfreudige Hintergrundwissen Keßlers lädt aber dennoch dazu ein, das Buch in einem Zug durchzulesen. Und danach ganz viele alte Pornofilme anzuschauen und sich solchermaßen selbst auf eine Expedition ins X-Rated Wonderland zu begeben – wo man einst, das wird bei der Lektüre schnell klar, niemals vorher wusste, was man bekommt.
Vortrag und Buchvorstellung von Christian Keßler im Berliner Filmkunst/Roderich:
Christian Keßler
Die läufige Leinwand. Der amerikanische Hardcorefilm von 1970 bis 1985.
berlin: Martin Schmitz Verlag 2011
280 Seiten (Hardcover), zahlr. farbige und s/w Abb., 29,80 Euro