Traumabilder

Die Zeit der Weimarer Republik ist als Zeit des Umbruchs und des produktiven Chaos im kollektiven Gedächtnis verankert. Kultur und Kunst befanden sich in permanenter Bewegung. Der Film schickte sich an als Kunstwerk akzeptiert zu werden. Filme wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ erregten großes Aufsehen und Regisseure wie Fritz Lang und F.W. Murnau sorgten für internationales Renommee. Später, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, sah der Filmsoziologe Siegfried Kracauer im Stil dieser Regisseure und anderer Exempel des Weimarer Kinos eine deutsche Mentalität gespiegelt. In seinem berühmten, im amerikanischen Exil verfassten und 1947 erschienenen Buch „Von Caligari zu Hitler. Eine psychologische Geschichte des deutschen Films“ erkannte er in „Das Cabinet des Dr. Caligari“, „M“ und in vielen weiteren Filmen eine Tendenz zu Motiven, die Aufschlüsse darüber zuließen, wie es zur Machtergreifung Hitlers gekommen sein könne. Kracauers spektakuläre These ist mitterweile vielfach relativiert und revidiert worden, zu heterogen war letztendlich die Filmproduktion jener Zeit. Außerdem lassen sich selbst die Filme, die bei Kracauer im Zentrum stehen, auch anders lesen. Anton Kaes, Professor an der University of California, Berkeley beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit einer entsprechenden alternativen Lesart. Nun ist der Ertrag seiner Arbeit erschienen.

Kaes Studie ist ein anderer Versuch, das Weimarer Kino als Spiegelung der deutschen Psyche zu lesen. Was in den Filmen „Das Cabinet des Dr. Caligari“ (1920), „Nosferatu, eine Symphonie des Grauens“ (1922), „Die Nibelungen“ (1924) und „Metropolis“ (1927) verschlüsselt eingeschrieben sei, fasst Kaes mit dem Begriff „shell shock“ zusammen, der während des Ersten Weltkriegs aufgekommenen Formulierung für die medizinische Diagnose traumatisierter Frontsoldaten. Sprachlich brillant und in den detaillierten Analysen hoch originell gelingt Kaes tatsächlich eine stichhaltige Alternative zu Kracauers Ansatz. Kaes Methode besteht darin in den Filmen Affinitäten zu Kontexten aufzuspüren, die für die Erfahrung des Krieges von essentieller Bedeutung waren. Dabei rekurriert er auf literarische Quellen, vor allem aber auf Aussagen namhafter und weniger prominenter Psychologen jener Zeit, die sich zur Behandlung von Kriegsneurosen geäußert haben. Von zentraler Bedeutung ist zudem die Feststellung, dass deutsche Filmemacher am Ende des Krieges die Unmöglichkeit erkannten, den Krieg in seiner neuen technologischen Prägung realistisch darzustellen. So entstanden eher anderen Genres zugehörige und künstlerisch hochreflexive Filme, in denen der Krieg als Subtext ästhetisch implementiert worden sei.

Einige Beobachtungen rufen insofern Erstaunen auf, weil der Bezug zum medizinischen Diskurs der Kriegsneurose evident erscheint. Dies gilt insbesondere für „Das Cabinet des Dr. Caligari“, in dem das Verhältnis zwischen Psychiater und Patient, Traum und Trauma sowie die zum damaligen Diskurs der Militärpsychiatrie gehörigen Themen des Somnambulismus, der Hypnose und des Wahnsinns eine wesentliche Rolle spielen. Während Kracauer den Film aufgrund der Rahmenhandlung (in einer Psychiatrie erzählt die Figur des Francis die Geschichte im Rückblick) als Irrenphantasie kritisierte, interpretiert Kaes ebensolche Änderung des ursprünglichen Drehbuchs durch den Regisseur Robert Wiene als Bezug zur Traumatisierung des Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg. Der Horror dieses Films verweise unterschwellig immer wieder auf den Horror des Krieges. Und so lautet der Befund in Bezug auf „Das Cabinet des Dr. Caligari“, dass Wienes Film „preserves the liminal experience of the front more authentically than any naturalistic depiction of war and its human consequences“. Ebenfalls im Gewand des Horrorfilms verarbeite Murnaus „Nosferatu, eine Symphonie des Grauens“ Kriegserfahrungen, indem ein junger Mann gezeigt wird, der sein Zuhause und seine Frau (homefront) enthusiastisch verlässt, in der Fremde (front) die absolute Grenzerfahrung macht, neurotisiert zurückkehrt, den Tod in Gestalt Nosferatus mit sich bringt und damit ein Massensterben auslöst. Fritz Langs „Nibelungen“ thematisiere die Fragen von Ehre und Treue (Nibelungentreue), die den Diskurs zum Ausgang des Ersten Weltkriegs in Form der Dolchstoßlegende prägten. Sein Science Fiction Klassiker „Metropolis“ wiederum konfrontiere den Mythos mit der Moderne der 1920er Jahre, biblische Bilder und tradierte (deutsche) Wertesysteme mit Visualisierungen einer futuristischen Stadt und einer fordistischen Mechanisierung des Menschen. Analog zum Massensterben auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs führe auch hier die Verabschiedung vom Individuum, dessen Gleichschaltung in der Masse, in die Katastrophe. Das versöhnliche Ende mache indes deutlich, dass 1927 die Zeit für einen Neuanfang, für ein Arrangement zwischen den Machthabern und den Arbeitern (sinnbildlich die Soldaten), reif gewesen sei.

Es stellt sich die Frage, ob durch die neue restaurierte Fassung von Metropolis diese Lesart relativiert werden könnte. Aber das würde ohnehin nur wenig an der Qualität des Buches ändern. Bei weitem nicht so umfassend wie Kracauers Studie ist Kaes Analyse des Weimarer Kinos, die sich auf vier Filme beschränkt, nichtsdestoweniger von vergleichbarem filmwissenschaftlichem Rang.

Anton Kaes
Shell Shock Cinema. Weimar Culture and the Wounds of War
Princeton, Oxford: Princeton University Press 2009
312 Seiten (Hardcover). 22,95 Euro

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Thomas Klein

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