„Zwischen Genialität und Wahnsinn gibt es nur einen Faden“, so ein altes chinesisches Sprichwort, welches bedeutet, dass Genialität und Wahnsinn manchmal schwer zu unterscheiden sind – was ebenso für ihre Definition gilt. Bettina Pflügl versucht in ihrer Arbeit über Patrick Süskinds „Parfüm“ und Robert Schneiders „Schlafes Bruder“ nicht nur die „sprichwörtlichen“ Zusammenhänge zwischen den beiden Aspekten aufzuzeigen, sondern auch die – nahe liegenden – Aspekte „Genialität“ und „Wahnsinn“ im Hinblick auf ihre gesellschaftliche und literarische Komponente näher zu beleuchten. Sie geht dabei von der Genie-Konzeption des Sturm und Drang, dem Geniebegriff Otto Weinigers und der Verbindungstheorie von Genialität und Wahnsinn bei Gottfried Benn aus, um daraus eine eigene Definition beider Begriffe zu entwickeln und auf beide Romane zu applizieren.
Pflügl schreibt:
Ein Genie ist ein Mensch, der bei einer Vielzahl von Personen, unabhängig voneinander, in Bezug auf seine eigene, sich wiederholende, produktive, schöpferische und kreative Leistung Faszination und Staunen hervorruft. (16) […] Der Wahnsinn ist eine von der Gesellschaft als solche bezeichnete Anomalie, die sich in einer Person durch ihre Verhaltensweise ausdrückt und die es ihr unmöglich macht, ein gesellschaftlich konventionelles Leben zu führen. Durch den Wahnsinn wird jegliche Art des psychisch „normalen“ oder konventionellen Denkens durchbrochen und somit ein von der gesellschaftlichen Norm abweichendes Bewusstsein in der jeweiligen betroffenen Person geschaffen.(32)
Der Literaturwissenschaftler Werner Frizen betont, dass das Genie durch eine körperliche Abnormität gekennzeichnet ist. Süskind und Schneider haben ihre Protagonisten mit einer spezifischen Form der Genialität begabt, die auf solchen körperlichen Aspekten basiert. Jean-Baptiste Grenouille ist ein Geruchsgenie, Johannes Elias Alder ist ein Gehörgenie; Grenouille wird dadurch zum größten Parfumeur und Elias zum größte Musiker aller Zeiten. Gelernt haben sie ausschließlich durch die Natur: Sie allein ist ihr Vorbild und hat sie tief inspiriert. Pflügl schreibt, dass schon „in der Genie-Konzeption des Sturm und Drang das geniale Produkt das Abbild der Natur darstellt. Dieses Abbild der Natur wird mit dem Innersten des Genies gleichgesetzt.“ (89)
Aufgrund ihrer körperlichen Abnormität werden sowohl Grenouille als auch Elias nicht von der Gesellschaft akzeptiert. Da Grenouille keinen menschlichen Geruch, sogar überhaupt keinen Eigen-Geruch besitzt und Elias eine „gläserne Stimme“ hat, werden beide zu Außenseitern der Gesellschaft. Pflügl geht davon aus, dass der daraus resultierende Wahnsinn dazu führt, dass sie auch nicht mehr fähig sind, sich in das Gesellschaftssystem einzufügen. (Vgl. 25) Die Ursache von Grenouilles Wahn sei, so die Autorin, eben seine „abnorme“ Genialität. Er will das beste und großartigste Parfum erschaffen, um geliebt zu werden und zu lieben: „mit seinem Plan, das absolute Parfum zu erzeugen, intendiert er, die Liebe zu erlangen. Die Menschen sollen ihn aus Liebe anbeten und ihn als neuen Gott anerkennen“, schreibt sie und fährt fort:
Sein Denken oder Bewusstseinszustand unterscheidet sich von Beginn an von dem eines „Normalbürgers“ und kann somit als hinführende Entwicklung zum Wahnsinn oder als Verbote desselben gedeutet werden. […] Der Wahnsinn wird bei ihm also durch seine Genialtät verursacht, als er diese erkennt und begreift, zu welchen Taten er fähig ist. (54)
Elias’ Wahnsinn hingegen entstehe aufgrund des Verlusts von Elsabeths Liebe und seines gescheiterten Lebens. Eines Tages hat Elias von der Botschaft eines Schaupredigers gehört: „Wer liebt, schläft nicht.“ Um seine Liebe zu Elsabeths zu beweisen und die Gewissheit der ewigen Seligkeit im Himmel zu erlangen, beschließt er daher bis zu seinem Tod nicht mehr zu schlafen. Pflügls eigene Definition des Wahnsinns greift zwar an dieser Stelle nicht mehr, weil sie den Aspekt der direkten Selbstzerstörung nicht berücksichtigt, dennoch erklärt sie Elias‘ Entwicklung treffend.
Die Autorin hat in ihrem Buch sowohl die Aspekte „Genialität“ und „ Wahnsinn“ explizit hergeleitet, als auch das Kausalverhältnis zwischen beidem bei Grenouille und Elias nachgewiesen. Hierzu vergleicht sie die Protagonisten beider Romane, ihren Handlungsraum, ihre Charakterentwicklung, ihre verschiedenen Formen von Genialität und den Wahnsinn, an dem beide leiden. Pflügl gelingt es dabei nicht nur durch ihre theoretischen Ausführungen zu überzeugen, sondern gleichzeitig eine sehr kundige und anspruchsvolle Interpretation beider Romane anzubieten. Insofern ist der recht dünne Band aus dem vdm-Verlag trotz seines hohen Preises durchaus empfehlenswert.
Bettina Pflügl
Patrick Süskinds „Das Parfum“ und Robert Schneiders „Schlafes Bruder“.
Die Aspekte „Genialität“ und „Wahnsinn“ in einer Bearbeitung des literarischen und gesellschaftlichen Kontextes.
Saarbrücken: vdm 2009.
112 Seiten (Paperback), 49,00 Euro
Chi-Chun Liu