Los Angeles gehört wohl – neben New York, London und Paris – zu den meist gefilmten Städten der Welt. Anders als diese musste sich aber Los Angeles sein filmisches Dasein per se erst erkämpfen. Während die Weltstädte wie von selbst zu Objekten cinematografischer Begierde wurden, war die „horizontal city“ am Anfang des Jahrhunderts noch ein aus urbaner Perspektive unattraktives Dorf und hat sich erst nach und nach den Status einer filmenswerten Lokalität erarbeitet. Gefilmt wurde in Los Angeles zwar schon immer, seit sich in Hollywood die Kinoindustrie angesiedelt hatte, aber das Gefilmte wurde verkleidet: Das Gezeigte war immer andernorts. Heute ist dies natürlich nicht mehr so, und Los Angeles ist nicht nur Dreh-, sondern auch Handlungsort einer kaum überschaubaren Anzahl von Filmen und Fernsehserien. L.A. ist in mehr als einer Hinsicht die Film-Stadt.
So ist es nur folgerichtig, dass sich die Viennale 2008 in ihrer Retrospektive dem Thema „Los Angeles – eine Stadt im Film“ angenommen hatte. In insgesamt 6 Programm-Blöcken wurde dem Publikum im letzten Jahr ein Überblick über Filme gewährt, die nicht nur in Los Angeles gedreht sind, sondern überdies die Film-Stadt auch selbst in den Fokus rücken: Stadtfilme über die Film-Stadt. Das Programm der Retrospektive wurde von Thom Andersen kuratiert. Der Filmwissenschaftle, selbst Autor eines Dokumentarfilms über L.A. als Dreh- und Handlungsort („Los Angeles plays itself“, 2003), der am California Institue of the Arts Filmtheorie und -geschichte lehrt, ist ein ausgesprochener Kenner der Materie; entsprechend kompetent und durchdacht ist die Auswahl des Festivalprogramms. Die Retrospektive gehörte, so zumindest die Darstellung der Viennale, im Hinblick auf die Besucherzahlen zu den erfolgreichsten der Geschichte des Festivals.
Dokumentiert worden ist diese Retrospektive in einem von Astrid Ofner und Claudia Siefen herausgegebenen Sammelband, der im Marburger Schüren-Verlag erschienen ist. Der sorgfältig edierte Hardcover-Band bietet in seinem ersten Teil eine Reihe in Deutsch und Englisch vorliegender filmästhetischer Essays, die die Film-Stadt Los Angeles in verschiedener Hinsicht aspektieren: Thom Andersen zeichnet in seinem einführenden Beitrag „Los Angeles: A City on Film“ zentrale Stationen der cinematografischen Stadtgeschichte nach – vom Stummfilm der zwanziger Jahre bis ins Jahr 2008. Andere Beiträge untersuchen den Zusammenhang zwischen Urbanität und Film oder rücken einzelne Filmemacher (z. B. Fred Halsted oder H. B. Halicki) ins Zentrum. Der zweite Teil des Bandes bietet eine reich bebilderte Übersicht über die 87 für die Retrospektive ausgewählten Filme. Dankenswerterweise beschränkt sich diese Übersicht nicht auf reine Stabs- und Darstellerangaben, die allein – vor allem bei den weniger bekannten Werken – wenig aussagekräftig wären; vielfach sind zeitgenössische Besprechungen und eigens für den Band geschriebene kommentierende Zusammenfassungen beigefügt.
Wenn man angesichts dieser schönen Publikation überhaupt ein Desiderat formulieren wollte, so wäre es dieses: Ein Aspekt bleibt nahezu vollkommen außen vor – es fehlt jeder Hinweis auf das dystopische Los Angeles, das vielfach im Katastrophen- und Science-Fiction-Film modelliert worden ist. Diese Stadtdystopien sind ja nur die cinematografische Verlängerung heute schon zu beobachtender Tendenzen der Megalopolis Los Angeles. Dass dieser Aspekt nicht wenigst in einem der Essays ausführlicher thematisiert wird – bei Dimenberg gibt es immerhin knappe Ausführungen zu Blade Runner -, ist ein Manko des Bandes, respektive der Retrospektive. Aber nur ein sehr kleines. (Wer sich für diesen Aspekt interessiert, sei auf Mike Davis‘ Buch Ökologie der Angst. Los Angeles und das Leben mit der Katastrophe, München: Kunstmann 1999, verwiesen, der in zwei Kapiteln auf rund 150 Seiten die fiktionale Zerstörung von Los Angeles und die dystopischen Weiterentwicklungen der Stadt dokumentiert.)
Astrid Ofner/Claudia Siefen (Hrsg.)
Los Angeles – Eine Stadt im Film.
Marburg: Schüren 2008.
223 Seiten (Paperback), 19,90 Euro