Man muss ja ehrlich sein: wenn man in einem Michael Moore Film geht, erwartet man die übliche reißerische Polemik gepaart mit lustigen Szenen aus der Populärkultur, abgeschmeckt mit einer Prise Zynismus. Doch seinem neuen Film aus diesem Grund keine Chance zu geben, täte ihm Unrecht. „Kapitalismus: eine Liebesgeschichte“ ist bedeutend reifer und weniger polemisch als noch „Fahrenheit 9/11“ es war.
Zwanzig Jahre nach seinem Film „Roger & Me“, der sich mit dem massiven Stellenabbau bei General Motors in Flint, Michigan befasste, legt Michael Moore nun den Film hin, den er selbst als den Gipfelpunkt seiner Tätigkeit bezeichnet. Seine Absicht ist es, die große Liebe der Amerikaner zum Kapitalismus zu ergründen und zu eruieren, warum dieses System so desaströse Auswirkungen hat. Was ist passiert mit dem Land, das einst in Reichtum schwelgte und für den amerikanischen Traum bekannt wurde? Und warum tut keiner etwas gegen den Niedergang?
Moore legt dem Zuschauer die triste Realität offen. Durch rücksichtsloses Zocken an den Börsen haben die Banken Milliarden verspielt, und sich dann vom Staat ohne Kontrollen oder gar Bedingungen entschädigen lassen. Bürger wurden dazu verleitet, zweite und dritte Hypotheken auf ihr Haus aufzunehmen unter dem Vorwand, ihr Haus sei wie eine Bank; wenige Zeit später werden diese Menschen aus ihren Häusern, die sie nicht mehr bezahlen können, vertrieben. Zwangsräumungen zwingen sie auf die Straße, während Firmen schließen, ihre gesamten Arbeiter entlassen und ihnen den Restlohn vorenthalten.
Der übliche Zynismus Moores bleibt ihm scheinbar im Halse stecken, nur selten stellt er bissige Fragen. Meistens ist er eher damit beschäftigt, verzweifelten Menschen noch ein „I’m so sorry“ zu entgegnen, und auch die Einfügung von Produkten der Kulturindustrie beläuft sich auf ein Minimum. So leitet er den Film sehr gekonnt mit einer Parallelmontage aus Bildern der amerikanischen Geschichte und einem Historienfilm über das alte Rom ein, in dem über die korrupte und dekadente Gesellschaft des späten Roms berichtet wird. Derartige bitter-amüsante Szenen verschwinden über die Gesamtlänge des Films hinweg, da Moore hier ein schockierendes Bild der Entwicklung auf dem Finanzmarkt zeichnet, das eher mit Fakten belegt als mit Cartoons kommentiert wird.
Kann es das denn gewesen sein? Ist dies der Zerfall des amerikanischen Traums? Moore schubst uns noch in eine andere Richtung und offenbart uns Tatsachen, die wir besonders in den deutschen Nachrichten gar nicht so mitbekommen. Wir sehen den Sheriff von Wade County, Detroit, der sich nach dem Wahlerfolg Barack Obamas ein Herz fasst und die Zwangsräumungen jeglicher Wohnungen stoppen lässt, obgleich dies seine Kompetenzen weit überschreitet. Wir lernen die tapferen Anwohner einer fast komplett geräumten Nachbarschaft kennen, die einer im Wohnwagen lebenden Familien dazu verhelfen, in ihr zwangsgeräumtes Haus zurückzukehren und der Polizei solange die Stirn bieten, bis diese aufgibt und das Feld räumt. Und auch die Arbeiter von Republic Doors & Windows, die allesamt ohne Lohn auf die Straße gesetzt wurden als die Firma Bankrott ging, werden ans Licht gebracht. Sie rotteten sich zusammen, besetzten die Räume ihres ehemaligen Arbeitgebers und forderten in einem mehrtägigen Sitzstreik ihre ausstehenden Löhne ein. Sympathisanten aus allen Schichten brachten ihnen Nahrung und unterstützen sie, und sogar Präsident Obama erkannte ihr Recht auf diesen Streik in einer öffentlichen Ansprache lobend an. Die US-Amerikaner haben die Protestkultur (wieder-)entdeckt und tragen ihren Unmut auf die Straßen, machen Gebrauch von den Vorzügen der Demokratie.
In einem Interview zu dem Film entgegnete Moore auf die Frage, was er sich erhoffe, dass der Zuschauer aus dem Kino mitnimmt, „popcorn and pitchforks“. „Kapitalismus: eine Liebesgeschichte“ soll also polarisieren, er soll agitieren, doch sollte man den Unterhaltungswert nie ganz aus den Augen verlieren. Die Tatsache, dass Moore dies offen anspricht zeigt auch, dass er sich seines Rufs und der Kritiken hinsichtlich seiner „verfälschenden“ Art, Dokumentationen zu drehen, bewusst ist.
Das Magazin „Der Spiegel“ führte einmal die erschreckende Statistik, dass der Anti-Amerikanismus die einzige Form von Rassismus ist, die sich direkt proportional zum Bildungsgrad verhält. Es scheint, als würden viele hierzulande Moores Filme gerne sehen, weil er „die Amis schlecht macht“. Michael Moore teilt die Meinung, die viele Deutsche über die USA haben, ganz und gar nicht. Moore produziert seine Filme nicht, weil er sein Heimatland hasst oder es in den Augen der Weltöffentlichkeit verhöhnen möchte. Im Gegenteil. Wenn er zum Ende von „Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte“ sagt, dass er sich weigert, in einem derartigen System zu leben und anfügt „And I’m not leaving“, sollte deutlich werden, dass er sich nur das Beste für sein Land wünscht.
Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte
(Capitalism: A Love Story, USA 2009)
Regie: Michael Moore; Musik: Jeff Gibbs; Kamera: Daniel Marracino, Jayme Roy; Schnitt: Jessica Brunetto, Alex Meillier, Tanya Meillier, Conor O’Neill, Pablo Proenza, Todd Woody Richman, John W. Walter
Darsteller: Michael Moore
Länge: 127 Minuten
Verleih: Concorde
Jana Toppe