Siegfried Kracauer gilt als der Begründer der soziologischen Filmanalyse. In seiner Frühgeschichte des Kinos „Von Caligari bis Hitler“ verdeutlicht er, dass Film vor allem Spiegel der Gesellschaft sei, in der er entsteht, und zeichnet (hierin liegt die Doppelbedeutung des »bis« in seinem Buchtitel) gleichfalls die historische Co-Entwicklung von Film und Gesellschaft, wie sie einander bedingt, nach.
Dass solche Analysen äußerst produktiv und bis heute die Analyse des Mediums mitbestimmend waren, zeigt sich auch am jetzt im Gardez!-Verlag neu erschienenen Band „Kino der Extreme“, herausgegeben vom Mainzer Kulturwissenschaftler Marcus Stiglegger. Aufgrund der verschobenen/gewichtigeren Bedeutung, die das Kino für die Gesellschaft seit Kracauers Zeiten bekommen hat, stellt Stiglegger nicht mehr die gesellschaftlichen Diskurse, wie sie sich daraufhin im Film »spiegeln«, in den Vordergrund, sondern greift gezielt cineastische Diskurse heraus, um deren intrinsischen Charakter für die Gesellschaft in Form einer Kulturanthropologie darzustellen.
Dabei fokussiert er – daher der Titel des Bandes – die »extremen« Motive und Motivgeschichten des Films und stellt in 17 Aufsätzen und Essays verschiedener Dichte Themen wie Suizid, Prostitution, Snuff, Gewalt, Pädophilie oder den Widerstreit zwischen Realität und Medialität dar. Neben dem Sujet der Themen ist den Texten dabei gemein, dass sie nicht als Ästhetiken des »…«-Films oder Subgenre-Theorien zu verstehen sind, sondern allesamt auf den gesellschaftlichen Einfluss und den medialen Rückfluss (in die Gesellschaft) referieren. Dies muss insofern hoch angerechnet werden, da für die behandelten Themen (trotz der mittlerweile für Pulp und Underground weit geöffneten Institutstore) ein theoretischer und theoretisierender Überblick immer noch (ge-)fehlt (hat).
Diesen liefert nun Stiglegger und ist sich dabei aber durchaus über des kursorischen Charakters der Einzelbeiträge bewusst. In einem abgrenzenden und genauso eingrenzenden Vorwort kennzeichnet er die Beiträge des Bandes als in jeder Hinsicht heterogen: Verschiedenste Autoren unterschiedlicher Generationen, verschiedenste theoretische Ansätze und nicht zuletzt verschiedenste Filme, die der Herausgeber durch seinen Band allesamt nicht als »moderne Klassiker« kanonisieren will.
Für die Auseinadersetzung mit den jeweiligen Diskursen bieten die Texte ein solides Fundament und für eine »verstehende Soziologie« des Films, wie Kracauer sie mitbegründet hat, eine adäquate zeitgenössische Fortschreibung.
Marcus Stiglegger (Hrsg.)
Kino der Extreme – Kulturanalytische Studien
St. Augustin: Gardez!, 2002
Taschenbuch, ca. 340 Seiten, 24 Euro