Derrida, USA 2003, Amy Ziering Kofman/Kirby Dick
Der französische Philosoph Jacques Derrida gilt als einer bedeutendsten Denker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit 1967 veröffentlicht er kontinuierlich philosophische Bücher und Aufsätze, die in akademischen Kreisen (aber auch im Feuilleton) – vornehmlich in der Philosophie, der Literaturwissenschaft und den Kulturwissenschaften, aber auch in Bereichen wie der Architektur oder dem Ballett –, lebhaft rezipiert werden. Bekannt geworden ist Derrida als Begründer des so genannten ‚Dekonstruktivismus‘, einer Überbietung der Heideggerschen ‚Destruktion‘ der abendländischen Metaphysik (vgl. Sein und Zeit, § 6), die sich darauf besinnt, dass man der Tradition nicht so ohne weiteres entkommt (wie Heidegger selbst gehofft hatte), und folglich aus ihr heraus und in ihr operiert: Die Tradition wird nicht einfach zerstört, sondern zerlegt und umgebaut; dem destruierenden Gestus ist auch etwas Konstruktives zu eigen. Die De(kon)struktion Derridas meint mithin eine Lektüre philosophischer Texte, die nicht nur auslegt, was der Text sagt (das wäre Hermeneutik), sondern auch auslegt, was er nicht sagt, was er verschweigt. Durch solche Lektüren legt der französische Denker die Hypotheken frei, die auf der abendländischen Philosophie lasten: Sie ist seit Platon logozentrisch (d.h. auf das gesprochene Wort fixiert), phallozentrisch (d.h. männlich dominiert) und ethnozentrisch (westeuropäisch geprägt). Gegen die von ihm auch als Präsenzmetaphysik bezeichnete Tradition setzt er ein Denken, das sich über die Beschränkungen, denen unser Welt- und Wahrheitszugang unterliegt, völlig im Klaren ist: Sinn gibt es nicht präsent, sondern immer nur aufgeschoben. Alle Präsenz ist eine abgeleitete.
Seine eigenwillige Lektüre der Tradition hat dem Philosophen nicht nur Bewunderung, sondern auch scharfe Kritik eingetragen. Das Image Derridas oszilliert dabei zwischem dem eines Esoterik produzierenden Scharlatans und dem eines Geistesriesen von der Größe Platons oder Heideggers, der die Philosophie entscheidend geprägt habe. Dieses schillernde Bild hat sicherlich dazu beigetragen, daß der französische Denker einen öffentlichen Bekanntheitsgrad erlangt hat, für den der Begriff des ‚öffentlichen Intellektuellen‘ à la Sartre, Foucault oder Bourdieu beinahe schon zu schwach ist: Derrida ist – so kann man es wohl sagen – ein Theoriestar. Obgleich sein Denken hochkomplex und voraussetzungsreich ist, füllt er mit Leichtigkeit Hör(und nunmehr auch Kino-)säle. Interessant ist dabei der Umstand, dass er dabei auch Hörer/Zuschauer anzieht, die freimütig gestehen, nie auch nur eine Zeile von ihm gelesen zu haben.
Jetzt ist ein Dokumentarfilm über Derrida in die Kinos gekommen, der von einer seiner Schülerinnen inszeniert worden ist. Dabei hat die Philosophin und Filmemacherin Amy Ziering Kofman auf das technische Knowhow des Dokumentarfilmers Kirby Dick zurückgegriffen. Fünf Jahre lang hat das Regisseurteam den französischen Philosophen begleitet. Gezeigt wird Derrida in seinem Heim, bei Vorträgen, bei Spaziergängen und bei events wie der Inauguration des Derrida-Archivs an der University of California, Irvine. Überdies werden Gespräche mit Freunden, Verwandten und akademischen Mitstreitern einbezogen. Gelegentlich integriert der Film Derridasche Textstücke, die von der Regisseurin aus dem Off vorgelesen werden.
Der Film ist dabei aber, auch wenn er oberflächlich so wirken mag, keine filmische Biografie Derridas, sondern eher eine Denkübung im Stile Derridas im Medium Film. Das Thema: Ist Biografie überhaupt möglich? Wenn ja, unter welchen Bedingungen? Und im besonderen: Ist eine Philosophen-Biografie möglich? Die philosophische Tradition trennt scharf zwischen Person und Werk. Das Motto von Kants Kritik der reinen Vernunft lautet programmatisch „De nobis ipsis silemus…“ (‚Von uns aber schweigen wir..‘), und noch in jüngster Zeit hat der deutsche Philosoph Georg Meggle daran erinnert, daß es – zurecht, wie er sagt – in fachphilosophischen Kreisen nach wie vor als unfein gelte, Sätze zu formulieren, die mit „Ich…“ beginnen (vgl. Joachim Schulte/Uwe Justus Wenzel (Hrsg.): Was ist ein philosophisches Problem? Frankfurt/Main 2002, S. 102 f.). Gegen diese Tradition wendet Derrida ein, dass sich Leben und Werk nicht exakt trennen lassen. Das Leben hinterläßt im Werk seine Spuren; in diesem Sinne ist das Werk auch Biografie. Jeder Denker bringt sich, wie subtil auch immer, in sein Werk in seiner Singularität ein. Biografie ist demnach – auch für den Philosophen – in diesem Sinne nicht nur möglich, sondern unvermeidlich. Zugleich aber – so zeigt es der Film, und so sagt es Derrida im Gespräch und vollzieht damit eine der für sein Denken charakteristischen Volten – ist Biografie unmöglich. Wo immer das Leben aufgezeichnet wird, ist es immer schon durch den Akt der Aufzeichnung fixiert, festgestellt und damit verfälscht. Derrida wird im Gespräch nicht müde, die Artifizialität der Situation zu betonen: „Das bin ich gar nicht, was Sie hier sehen.“
Nicht nur in dem, was gesagt wird, wird diese Künstlichkeit hervorgehoben. Auch in seiner Stilistik unterläuft der Film die Ästhetik des Dokumentarfilms, für die klassischerweise Strategien der Authentifikation charakteristisch sind (d.h. die Kamera tut so, als wäre sie gar nicht da): Das Filmteam läßt sich zum Teil selbst bei seiner Arbeit filmen. Derrida betrachtet in einigen Szenen auf einem Videomonitor Sequenzen, die zuvor im Film selbst gezeigt wurden. Ganz im Sinne des Philosophen demonstriert der Film – mit filmischen Mitteln! – , daß Präsenz immer nur sekundär, abgeleitet, ist, auch wenn man das Gefühl hat, quasi ‚live‘ dabei zu sein. In einer emblematischen Szene sieht man den französischen Denker im Gespräch mit Studenten, während der Tontechniker das portable Mikrofon Derridas justiert: Der Dialog der Sprechenden bleibt unverständlich, durch das Rauschen des Mikrofons dringen nur Sprachfetzen. Wir sind zwar durch die Kamera Augenzeugen, aber wir sind doch nicht ‚dabei‘, wie uns durch den gestörten Ton signalisiert wird. Gelungene Einfälle wie dieser machen den Film zu einem intellektuellen Genuß – insbesondere für den Derrida-Leser. Zur Einführung in sein Denken freilich eignet das Werk sich nicht; es hat keine im engeren Sinne pädagogische Zielsetzung. So werden Derridasche Fachtermini wie différance, Dissemination oder Phallogozentrismus unkommentiert gebraucht. Wer aber mit Philosophie – zumal poststrukturalistischer – vertraut ist, für den ist Derrida – the Movie ein lohnendes Erlebnis.
Derrida
(USA 2002/3)
Regie: Kirby Dick, Amy Ziering Kofman
Kamera: Kirsten Johnson, Musik: Ryuichi Sakamoto, Schnitt: Matt Clarke, Kirby Dick
Verleih: Eurozoom, Länge: 84 Minuten
Homepage: http://www.derridathemovie.com/
Patrick Baum
Eine Antwort auf „Die unmögliche Biografie“