Lolita – Macht – Schwierigkeiten

Der 1958 erschienene Roman Vladimir Nabokovs schildert mit einfühlsamer Eindringlichkeit einen Mythos, den es in seinen vielfältigen Ausformungen seit jeher zu geben scheint, dessen Beschreibung sich jedoch jetzt erstmalig in einem Wort formiert, seine bislang inhärent schemenhafte Gestalt offenbart und durch das Aussprechen eines Namens seine Existenz preisgibt – Lolita. Die Melodie, die diese drei Silben in einem jeden Humbert Humbert zum Klingen bringen, ertönt sogleich zu Beginn der (von der Kritik recht kontrovers aufgenommenen) Filmadaption durch Adrian Lyne (1997): »Lolita. Licht meines Lebens. Feuer meiner Lenden. Meine Sünde. Meine Seele. Lo-li-ta: Die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.« Der insgesamt ausgefallene, wortgewandte, einladend ausschweifende Prosastil, mit dem Nabokovs Erzähler Humbert Humbert die Reise in jene schicksalhafte Zeit beginnt, spiegelt in beiden gleichnamigen filmischen Adaptionen durch Stanley Kubrick (1961) wie durch Adrian Lyne die unwirklich-märchenhafte Perspektive eines Mannes auf seinen Traum: den Traum vom Stillstand der Zeit, vom Wieder-Holen der unabänderlichen Vergangenheit, vom erneuten Durchleben der verronnenen Jugend wie auch vom Losgelöstsein des Augenblickes und der Freiheit von aller gesellschaftlichen Restriktion … Lolita wird für den ihr verfallenen Protagonisten Professor Humbert zum Inbegriff all dessen und noch viel mehr. Sie ist seine ganz persönliche, inkarnierte Verheißung einer paradiesischen Existenz auf Erden.

Das Konstrukt »Kindfrau« gibt es seit dem 18. Jahrhundert: in Form der »Entdeckung« der Kindheit, die nun als ein vom Erwachsensein losgelöste Stufe der individuellen menschlichen Entwicklung aufgefasst wird. Mit der gesonderten Lebensphase »Kindheit« wird von nun an stets »Unschuld« – im Sinne sexueller Unschuld – konnotiert. Erst im Kontrast zu diesem Kindheitskonzept kann sich dieser der Kindfrau inhärente Widerspruch, das Paradoxon von Unschuld einerseits und Schuld/Sexualität andererseits, entfalten. Man begegnet dem stilisierten Konstrukt Kindfrau besonders häufig in der Kunst/Fotografie – nun wird es im Film definitorisch »umkreist« und in der Beschreibung wie auch dem filmischen Imago, die immer nur eine Annäherung sein können, vom Betrachter »wiedererkannt«. Hier setzt ein Prozess ein, der den Filmproduktionen langwierige Einführungen in die Thematik erspart: Es eröffnet sich eine Parallele zwischen der medialen Präsentation des Kindfrauen-Körpers und dem impliziten Wissen der Zuschauer um das Phantasma »Kindfrau«: Das Kindfrauen-Imago (Stereotyp »Lolita«), das dem Unbewussten des Protagonisten (Stereotyp »Humbert Humbert«) innewohnt, wird mit all seinen Konsequenzen auf die Leinwand gebracht und damit dem Zuschauer mit den Augen des Protagonisten selbst zugänglich gemacht.

Die Schwierigkeit, sich mit dem Konstrukt Kindfrau im Film zu befassen, ist der speziell gelagerten, sensiblen Thematik inhärent. Im Folgenden soll es um diese vielfältigen Schwierigkeiten gehen, die vor allem der unterstellten Impudizität wie auch dem Vorwurf der Pädophilie geschuldet sind. Im Zentrum meiner Analyse stehen die Lolita-Filme von Stanley Kubrick und Adrian Lyne, darüber hinaus ausgewählte Filme, deren zentrales Topos das »Lolita-Phänomen« in seinen unterschiedlichen Facetten ist

Die legendäre Kindfrau (Lolita) und das Problem ihrer »Erfassung«

»Die Kindfrau irritiert durch ihre Nichtdefinierbarkeit, die daraus resultiert, daß sie insofern jeder Zuschreibung verwehrt bleibt, als so gut wie jede Zuschreibung zulässig ist.« (Bramberger, 125)

Das Sprechen über etwas erfordert das sprachliche Erfassen und Beschreiben des »Gegenstandes«. Die Probleme im Umgang mit dem »Typus« Kindfrau beginnen schon mit dem Versuch, sie allgemeingültig zu definieren. So existieren nebeneinander unterschiedlichste Bestimmungsversuche, deren Definiendum die »Kindfrau« (im vorliegenden Text meist prototypisch namentlich »Lolita«) ist. Einerseits gibt es fiktionale Definitionen wie die des Protagonisten Humbert, des Antihelden Lolitas, Literaturprofessor aus England, welcher der zwölfjährigen Tochter seiner Vermieterin vom ersten Augenblick ihrer Begegnung hoffnungslos verfällt. Er wählt bei Lyne mit Sorgfalt folgende Worte für die Kindfrauen-Wesen: »Zwischen den Altersgrenzen von neun und vierzehn gibt es Mädchen, die gewissen behexten, zwei- oder vielmal älteren Wanderern ihre wahre Natur enthüllen; sie ist nicht menschlich, sondern nymphisch (das heißt dämonisch); und ich schlage vor, diese auserlesenen Geschöpfe als ›Nymphchen‹ zu bezeichnen.« (Nabokov, 22)

Der Zauber und (subjektiv empfundene) unwiderstehliche Reiz, den die prototypische Lolita auf einen Mann humbertinischer Prägung auszuüben vermag, liegt in ihrer (dem vergänglichen Moment verhafteten) gedachten Existenz als Kindfrau, als »Halbwesen«, begründet. Mythische Züge wohnen ihr, so glaubt er, inne. Es verkörpern etwa Quell- und Wassernymphen die weibliche Naturgottheit des griechischen Volksglaubens. Eine geheimnisvolle, unbändige Anziehungskraft der kurzen Zeit des Übergangs vom Kind zur Frau ist es, die das Faszinosum Kindfrau für den speziell »sensibilisierten« Humbert – er selbst spricht von »einer angeborenen Besonderheit« (S. 18), wobei ihm gleichzeitig »Tabus die Kehle zuschnürten« (vgl. Nabokov, 25) hervorzubringen vermag. Humbert weiß natürlich um das gesellschaftlich diktierte Tabu des Begehrens der unschuldig und zugleich verführerischen Kindfrau, doch fühlt er sich nach eigener Aussage »von kleinen Mädchen bis zur Raserei angezogen« (Nabokov, 25), »vor perversem Entzücken nach Luft schnappend« (Nabokov, 24)

Einer ganz anderen (fiktionalen) Beschreibung eines Kindfrauenwesens begegnen wir in der mythischen Gestalt der Lilith, der ersten Frau Adams, von der sowohl die jüdische als auch die christliche Fantasie seit jeher beflügelt wurde. Ihr wird nachgesagt, sich in die Schlange am Baum der Erkenntnis verwandelt zu haben. »Humbert war durchaus zum Geschlechtsverkehr mit Eva fähig, aber es war Lilith, nach der er sich sehnte.« (Nabokov, 27) Lilith – ich möchte der humorigen Lesart und Deutung des Lilith-Mythos von Isolde Kurz (Die Kinder der Lilith, 1908) folgen – ist zugleich geheimnisvoll, verführerisch und Unheil drohend. »Kindlich« an ihr kann vor allem ihre ungestüme, spielerisch-sorglose Art, ihr nicht Verweilen und nicht Veralten wie auch ihre Selbstvergessenheit gedeutet werden. Sie ist von Adam radikal unabhängig, ist nicht Teil seiner Selbst – wie und woraus Gott sie erschuf, ist uns unbekannt. Sie ist selbstbewusst und im Gegensatz zur deutlich »erdenschweren« Eva alles andere als genügsam! Sie verlässt Adam schließlich und er begegnet ihr fortan nur noch im Traum. Dergestalt wird Lilith zum »Irrlicht«, das über Jahrtausende durch Männerfantasien geistert wie Vera Zingsem feststellt. Die im Kern erotische Sehnsucht (je)des Mannes auf Erden, dessen Stellvertreter Adam ist, nach der Synthese aus unschuldiger Kindlichkeit und verführerischer Braut nimmt (in der Gestalt Liliths) mit Beginn der Menschheit ihren Anfang. Wie Lilith, das Medium ewiger Sehnsucht, das schwerelose Feenwesen, sind die Kindfrauen (in ihren Zuschreibungen) genuin »unverbraucht«, sie sind »Urweiber« im Sinne ihrer adhäsiv ungezähmten, ungebändigten Unverfälschtheit. Sie gehorchen keiner Norm, weil sie die restriktiven Spielregeln gesellschaftlicher Regularien gar nicht kennen und folglich nicht beherrschen, ebenso wenig wie die immanent hierarchisierte abendländische Liebesordnung. In dem Maße in dem Lilith – bedingt durch ihr göttliches Dasein – geschlechtslose Integrität repräsentiert und lebt, führt die Kindfrau (jedoch nur bis zu ihrer »Entdeckung«) ein Leben in »Ungeschlechtlichkeit«, denn sie ist nicht »Frau« und wird auch nie »Frau« sein. So »konstruktivistisch« Simone de Beauvoir die Frage der Frauwerdung beantwortete (»Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht.«), so konsequent entlarvte Judith Butler in ihrem Werk Gender Trouble den oben postulierten Mythos vom »Naturzustand«, der im Begehren auf die Kindfrau Anwendung findet.

Auch die Surrealisten befassten sich mit der Kindfrau, einer ihrer Wortführer, Andre Breton, will das literarische Konstrukt Kindfrau als diffuses, viel verprechendes »Paradigma« in der herkömmlich binär angelegten, institutionalisierten Ordnung der Geschlechter begreifen: »Ich wähle die Kind-Frau, nicht um sie der anderen Frau entgegenzusetzen, sondern weil mir scheint, daß in ihr und nur in ihr im Zustand völliger Transparenz das andere Paradigma vorhanden ist, das zur Kenntnis zu nehmen man sich hartnäckig weigert, weil es ganz anderen Gesetzen gehorcht.« (Breton, 1993, S. 66 zit. n. Bramberger, 84 f.) Auch Humbert bekennt: »Für mich gab es nicht ein, sondern zwei andere Geschlechter […]; beide würde ein Anatom mit »weiblich« bezeichnen. Aber für mich, im Prisma meiner Sinne, waren sie so verschieden wie Tag und Nacht.« (Nabokov, 25)

Die Darstellung der (erwachsenen) Frau und damit von (sexuell erfahrener) Weiblichkeit in Filmen, deren zentrales Thema die Kindfrau ist, ist auffallend negativ: Frauen sind – in Relation zu den dargestellten Kindfrauen – berechnend, raffiniert, stets auf ihren Vorteil bedacht wie in Tess (F/GB 1979) verschlagen, schlechte Mütter (Taxi Driver, USA 1976, The Little Girl Who Lives Down the Lane, Can/F/GB 1976 oder Poison Ivy, USA 1992). Symptomatisch und stellvertretend egoistisch und unverantwortlich in ihrem Handeln ist auch Hattie (Susan Sarandon), als sie ihre erst 11-jährige Tochter Violet (Brooke Shields) verleugnet und im nicht länger legalisierten Hurenhaus in New Orleans 1917 zurücklässt (Pretty Baby, USA 1978), um ein neues, bürgerliches Leben zu beginnen. Die Kindfrauen der genannten Filme dagegen sind vollkommen, unverfälscht, urwüchsig, unabhängig, frei von Restriktionen; all ihre Vorzüge gereichen ihnen in der Diskussion um Moral und Schuld jedoch plötzlich zum Nachteil wie später zu zeigen ist. Humbert Humbert kennzeichnet besonders deutlich in der Kubrick-Verfilmung alles Fraulich-Weibliche monströs und in seinen willentlich-bewussten Verführungsversuchen geradezu verachtenswert (beeindruckend: Lolitas Mutter, Shelley Winters, beim gemeinsamen Dinner mit dem begehrten »Objekt« Humbert), wohingegen seine Nymphe idealisierte kobold- wie elfenhafte Wesenszüge in sich vereint, dabei sich »ihrer phantastischen Macht selbst nicht bewußt« (Nabokov, 23). Die Kindfrauen gebärden sich der männlichen Figur ebenbürtig und von dieser unabhängig! Sie besetzen in der Gesellschaft den Status unbedingter Freiheit (wie Rousseau sie in seinem für den Knaben gedachten Erziehungsroman Emile ausführt), jegliche Form von Unterordnung ist ihnen unbekannt. Nabokov, der neben seiner literarischen Tätigkeit Schmetterlingsforscher aus Leidenschaft war, bezeichnet Lolita als ein »Nymphchen« (s. o.) – er schreibt ihr damit metaphorisch eine zoologische Definition ein, jenes Stadium der Verpuppung des Insekts, das bereits Anlagen zu Flügeln besitzt womit er Lolitas »Zwischenstadium« zwischen Kind und Frau benennt.

Die Widersprüchlichkeit der ausgewählten Ansätze, die Kind-Frau sprachlich zu erfassen wird deutlich. Die Umschreibungen erhellen den Blick auf die Kunstfigur »Kindfrau« nicht, sondern verkomplizieren einen Definitionsversuch. Und dennoch wird sie in der Kunst als solche »aufgespürt« und »erkannt«. Die filmisch-sprachlichen Zuschreibungen erwecken sie zum Leben, zeichnen ein (immer der Fragilität verhaftetes) »Bild« von ihr. Der über 400 Seiten fassende Roman selbst wie das Drehbuch Nabokovs (für Kubrick) repräsentieren das Unterfangen, sich Lolita inhaltlich wie sprachlich zu »nähern«. Das »Nymphchen« Humberts wird im Laufe der Filmhandlung versuchsweise komplettiert und beständig erweitert, eine Annäherung an das, was »seine« Lolita ausmacht, findet unentwegt statt. Und dennoch: Nie wird sie zu etwas »Ganzem«, immer bleibt sie fraktal, bruchstückhaft, ungreifbar … Lolita bleibt stets nur Idee, fiktionales Wunsch- und Erinnerungsbild, »Fragment«, ungreifbar, flüchtig und zu keinem Zeitpunkt objektivierbar. So gibt es etwa auch keine allgemeingültige »Ontologie der (Geschlechts-)Identität« der Kindfrau. Das vom männlichen Liebhaber-Betrachter verkündete Postulat einer – wie auch immer gearteten – »ontologischen Identität der Kindfrau« fungiert in Wahrheit als ideologisches Konstrukt (vgl. Butler). Diese Mechanismen spürte bereits Simone de Beauvoir (für die Dichotomie »Mann – Frau«) auf, als sie die Differenz der Geschlechter, die als hierarchisch strukturiertes Naturverhältnis festgeschrieben wurden, analysierte. Sie betont den »Objektstatus« der Frau, die gefangen ist in den Konstruktionen männlicher Vorstellungen.

Es ist unmöglich, die Kindfrau letztgültig zu definieren, ihre Widersprüche aufzulösen. Sie wäre nicht länger das, was sie darstellt, wenn man sie simplifizierend beschreiben könnte.

Lolita und die Mechanismen der Sexualität

Im Kern ist der so kontrovers geführte Diskurs um die Kindfrau ein Diskurs um Sexualität, um sexuelle Verführungskraft, um sexuelle Tabus und daher um konstatierte Täter- und Opferrollen im sexuellen Kontext. Denn »Die Kindfrau existiert nur in ihrer Funktion als Sexualwesen. Darin liegt die Dramatik und der Sinn ihrer Existenz.« (Bramberger, S. 89) Und genau dieser Umstand gewährleistet dem Thema im Film eine zeitlose Aktualität, eine immer währende Brisanz. Diese uneingeschränkte Aktualität zeigt auf, dass die Kindfrau jenen Diskursen um Geschlechterfragen entspringt (anderes Wort bitte), die ihrerseits bisher weitestgehend ungelöst geblieben sind. Die Identität, die der Kindfrau zugeschrieben wird, ist also immer eine geschlechtliche. Dies geschieht einerseits durch das Begehren des männlichen Protagonisten, andererseits durch die Perspektive des Zuschauers. Das Lolita-Thema im Film wandelt sich im gleichen Maße wie die Gesellschaft ihrer Zeit; der Film spiegelt dabei (immer) auch die zeitgenössischen Tabus wider. So bedauerte Kubrick retrospektiv das gerade in seinem Film fehlende erotische Moment, dessen Darstellung die soeben den prüden 1950er Jahren entkommene Öffentlichkeit nicht zuließ: »In diesem Sinne, glaube ich, hat der Film an Wert verloren, wegen dieser Unmöglichkeit, erotische Dinge zu zeigen. Das ist das einzige an dem Film, das mich enttäuscht. Wenn immer ein starkes erotisches Moment dagewesen wäre, wäre der Film besser gewesen.« (zit. n. Kothenschulte) Tabus sind je nach ihrer Natur abstufbar – doch es gibt letzte, große und dabei besonders restriktiv gesellschaftlich normierte Tabus – das Lieben/Begehren von Mädchenkindern gehört zu ihnen. Die Tabuthemen der Filme ihrerseits wirken wiederum auf die Gesellschaft zurück – die Verbindung eines wesentlich älteren Mannes mit einer deutlich jüngeren Frau, wird seit Kubricks Lolita-Adaption (1961) konstitutiv und meist primär unter dem Aspekt des »Lolitatums«, des »Lolita-Komplexes« betrachtet. Insbesondre heute steht die (Film-)Welt einer (positiv zu bewertenden) sensibilisierten Öffentlichkeit gegenüber. Filme spiegeln nicht nur die Gesellschaft ihrer Zeit, sie bedrohen darüber hinaus die Grenzen der Gesellschaft (das ist Aufgabe und erklärtes Ziel des Films) und offenbaren die gesellschaftlichen Ängste vor dem lauernden Verlust der Norm. Dem Medium Film liegt eine Subversion zu Grunde, ist für ihn seit seinen Anfängen konstitutiv. Es zeigt sich, dass die Figur der Kindfrau ein Konstrukt männlichen Begehrens verkörpert – »[…] sie ist so angelegt, diesem Begehren unermüdlich zu entweichen, es aber gerade durch diese Subversion zu schüren« (Bramberger, 9). Das Bemühen, der Kindfrau im Zuge ihrer Definition eine »Identität« zu stiften, erfolgt nur aus einem Grund: Allein das »Aufstellen« einer Geschlechtsidentität (die sich wie erwähnt als Ontologie ausgibt), also das normative Erfassen ihrer Identität in der hierarchisch strukturierten Matrix, ermöglicht die Forderung nach regulativen Normen durch die Gesellschaft. Über dieses Verfahren wird die Kindfrau im Anschluss konsequent in den politischen Diskurs eingebettet. Sie wird fortan eine Konstante im tabuisierten Diskurs, der die (sexuelle) Beziehung von männlichen Erwachsenen mit Kindern (oder besser: Kindfrauen) zum Thema hat. Bis zur Verfilmung des Romans durch Stanley Kubrick hatte noch kein Film ein 12-jähriges Kind so lasziv-verführerisch in Szene gesetzt! In Kubricks Film verkörpert Sue Lyon allerdings eine bereits 14-jährige, so wird aus einer vollkommen verwerflichen Liaison hier nur noch eine verruchte, verbotene Liebe.

Die Rollen, die Lolita und Humbert einnehmen, werden erst im Umgang miteinander erschaffen und charakterisiert – Humbert wird durch Lolita erst zu der besessenen, bedauernswerten Figur »Humbert« mit all ihren Schwächen und umgekehrt Lolita beginnt durch ihn auch erst als »Kindfrau« zu existieren. Das Prozesshafte steht hier im Vordergrund- es handelt sich um eine spezifische Ausformung des »doing gender«. Für Charlotte Haze dagegen ist ihre pubertäre Tochter »Lo« ein egoistischer, aufsässiger Teenager, tendenziös noch ein Kind, nicht mehr. Generell findet jede Auslegung des Verhaltens der Kindfrau diegetisch aus der Perspektive des Erwachsenen statt – wenn Humbert von Lolita als einem »mutwilligen Mädchen« spricht, die ihn zu seiner größten Verwunderung verführt hat, ist das seine Sicht auf sie. Nie kann seine Perspektive eine objektive Basis zur Beurteilung der Beziehung beider sein; denn gleichzeitig glaubt er fest daran, dass Lolita allein das für seinen »geheimen Genuss präparierte Koboldkind« ist, das er sich in seiner Fantasie erst erschafft. Humbert resümiert am Ende des Films: »Was ich so rasend besessen hatte, war gar nicht sie gewesen, sondern meine eigene Schöpfung, eine andere, eine Fantasie-Lolita – vielleicht wirklicher als die echte.« Die Kindfrau dagegen ist fast immer »sprachlos«, ungehört, ihre Perspektive kennen wir ebenso wenig wie Humbert. Lolita und ihren Kindfrau-Genossinnen ist es verwehrt, sich durch Sprache von ihrer »Leiblichkeit«, ihrem sexuell wahrgenommenen Körper zu distanzieren. Die »Austreibung aus dem Reich kindlicher Lüste hin zu einem instrumentellen Körperverhältnis, wie es die Welt des Erwachsenen kennzeichnet«, ihre »psychosomatische Sozialisation« (Tischleder, 60) findet nicht statt. Sie ist auch deshalb geheimnisvoll, ihr Handeln auslegbar, das ist konstitutiv für sie. Analog sind die Perspektiven der einzelnen Filme nur scheinbar objektiv, erfahren wir doch stets ausschließlich die subjektive Sicht der männlichen Figuren (wie in L’ennui, F/P 1998, American Beauty, USA 1999 so auch in den Lolita-Adaptionen oder Taxi Driver). Nur scheinbar eine Ausnahme bildet im ausgewählten Filmkanon J. J. Annauds L’Amant (F/GB/Vietnam 1991). In einer französischen Kolonie lernt 1929 ein französisches Mädchen aus eher ärmlichen Verhältnissen einen wohlhabenden chinesischen Geschäftsmann kennen, dem sie sich aus (kindlicher) Neugier (wiederholt) hingibt. Aus dem Off hören wir die längst erwachsene Frau, die ihre schicksalhafte Begegnung retrospektiv und damit aus der »wissenden« Sicht einer Erwachsenen kommentiert; an mancher Stelle blickt sie auf sich, auf das 15-jährige Mädchen aus der zeitlichen Distanz heraus wie auf eine Fremde, so dass der Zuschauer glauben könnte, es spreche nun eine andere, außenstehende Person über die vergangenen Geschehnisse.

Aus der Perspektive des männlichen Parts findet die Behauptung einer kind(frau)lichen Sexualität, der Initiative durch das Kind, statt. Tatsächlich ist dies aber nur seine Interpretation ihres Verhaltens. Dadurch, dass er sie einzig in einem sexuellen Kontext wahrzunehmen vermag, wird auch all ihr Benehmen zur Sexualität in Relation gesetzt. Sie selbst weiß gar nicht, in welch fremde Welt sie vordringt (in Anlehnung an Alice im Wunderland durch Humbert als »schwarzes Humberland« konnotiert). Sie begegnet der übermächtigen männlichen Sexualität, die allein strukturell betrachtet aus ihrem Blickwinkel schon eine gewalttätige sein muss. Adrian Lyne verwehrte sich gegen den Vorwurf der Pädophilie: »Einen Film zu machen, der das Thema Pädophilie behandelt, heißt nicht, dass man es duldet.« So simpel diese Aussage erscheint, das Publikum vor der Jahrtausendwende tat sich mit dem Stoff noch genauso schwer wie zuvor 1961, als Kubricks Adaption erschien. Die Sinnen-feindliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts verdammte die bis dahin selbstverständlich existierende Nymphe auf Grund ihrer ambivalenten Eigenschaften und Liebreize fortan zur »Nymphomanin«, zur »Sexbestie«, welche mit aller Raffinesse ihr wehrloses, ihr verfallenes Opfer ins Verderben stürzen will (exemplarisch in Poison Ivy und Poison Ivy II, USA 1995, welche zentral die berechnende – hier erst jugendliche – »Femme fatale« thematisieren, nicht jedoch die humbertinischen »Nymphchen«, die »Kindfrauen«). Angesichts solcher Positionen wie sie konträrer nicht sein könnten, gibt Marianne Sinclair in ihrem Buch zu bedenken: »Who has seduced who? That is not the question. The real issue is that the weaker of two parties must always be protected against the stronger.«

Die Kontroversen um die Ambivalenz der Kindfrau

»Jene Ambivalenz, als personifizierte Männerphantasie einerseits männlichem Begehren Genüge zu leisten, andererseits aber als jene mythische Figur zugleich Eigenständigkeit zu besitzen und Idee einer Alternative zum binären Geschlechtermodell zu sein, ist wohl eine der wesentlichsten und interessantesten Bedeutungen der Kindfrau.« (Bramberger, S. 93) Die Kind-Frau ist weder Kind noch Frau; was sie ist, ist sie nur durch den sie konstituierenden, sie konstruierenden männlichen Blick, der sie begehrt. Das Wesen der Kindfrau ist durchweg geprägt durch ihre Ambivalenz. »Lolita vereint die Position des männlichen Opfers und der kindlich-weiblichen Verführung mit der Position des kindlichen Opfers und des männlichen Vergewaltigers.« (Bramberger, S. 24) Die Kunstfigur Kindfrau ist auch ein Ergebnis konträrer Diskurse, die nach ihr greifen, sie aber nie fassen können. Lolita bleibt stets Mysterium: »Die Kindfrau sabotiert ihre Position als Frau, wenn sie in einen Diskurs um Weiblichkeit eingebunden wird. Die Kindfrau sabotiert ihre Position als Kind, wenn sie auf einen Diskurs um Kindheit und Kindlichkeit festgelegt wird. Sie sabotiert diese Positionen, weil sie deren ›unmöglichen‹ Kreuzungspunkt benennt.« (Bramberger, S. 91)

Die Macht der Kindfrau, ihr Vermögen, die männliche Begierde zu unterwandern liegt in ihrer konstitutiven Existenz als Männerphantasma begründet, was zunächst paradox erscheint – sie ist so radikal anders, gerade hierdurch wird sie für ihn unbeherrschbar, sie verselbstständigt sich und flüchtet allen seinen Gedanken, nichts von dem, was sie tut, ist kalkulierbar, sie hat der besitzergreifenden »Liebe« des Mannes nichts entgegenzusetzen. Die Kindfrau ist insofern ein alternatives, in ihrem ganzen Wesen »performatives« Konstrukt – wie besonders deutlich American Beauty, Lolita, L’ennui oder auch L’Amant zeigen. Die Kindfrau Lolita (Nabokov vollendet seinen Roman bereits 1954) ruft seit ihrem Erscheinen (bezeichnenderweise in einem Pornografieverlag) bis heute heftigste Diskussionen hervor. Die einige Zeit später zur gefeierten Legende avancierende Kindfrau verselbstständigt sich von Anbeginn an – immer geht es in den Streitgesprächen um sie, selten um ihren männlichen Gegenpart. Als Nabokovs Roman erscheint, gilt der arme Humbert noch als Opfer des frühreifen Luders Lolita, heute dagegen interpretieren viele Rezipienten den Stoff ganz anders. Die Öffentlichkeit ist sensibel geworden für den Missbrauch durch Pädophile (wobei die Fiktion – in bewusster Abgrenzung – von dem »Nympholepten« (Nabokov, 22) Humbert spricht). Die tragische Realität widerfahrenen Unrechts und unermesslichen Leids entzündet sich an Nabokovs Stoff, wertet hier wie dort moralisch. Aber wie kann man einem tragischen Fiktionalstoff jemals mit handfester Moral beikommen wollen? Diese Frage kann nicht entschieden werden, auch Nabokov ist erstaunt (und amüsiert) angesichts der anklagenden Diskussionen, die »seine« Lolita hervorgerufen hat. Er begegnet den Vorwürfen nicht und propagiert in seinem Nachwort (das – wie der Roman selbst – auch schon als eine Reaktion auf die Rezeption gelesen werden kann bzw. muss) alleinigen ästhetischen Genuss: »Weder lese noch schreibe ich didaktische Prosa, und trotz der Versicherung John Rays [d. i. Nabokov in der Rolle des fiktiven Verlegers] hat Lolita keine Moral im Schlepptau. Für mich existiert ein Werk nur in dem Maße, wie es mir das gewährt, was ich rundheraus ästhetisches Vergnügen nennen möchte – ein Gefühl, irgendwie, irgendwo mit anderen Seinsumständen in Berührung zu sein, bei denen Kunst (Neugier, Zärtlichkeit, Leidenschaft) die Norm ist.« Den Äußerungen des Autors Nabokov zu Lolita ist eine ungewöhnlich starke Beachtung widerfahren. Aber auch die Rechtfertigung seines Sohns, Lolita sei »about love« bereitet bei näherer Betrachtung Schwierigkeiten: In der Beziehung von Humbert und Lolita fehlen die normativen Elemente einer konventionellen Liebesbeziehung. Humbert besetzt die Rolle des Vaters, wodurch sich obendrein (zu der ohnehin kaum zu diskutierenden Problematik) eine inzestuös anmutende Beziehung entwickelt. Es handelt sich zudem von Anfang an um eine einseitige Liebesbeziehung, deren Asymmetrie Humbert zu einem Mord am vermeintlichen Nebenbuhler Quilty treibt – dabei ist er, Humbert, von Beginn der Erzählung an ein »Nicht-Begehrter«, das gesteht ihm Lolita Jahre später bei ihrem Wiedersehen ein. Das »romantische Ideal« der Liebe muss notwendigerweise fehlschlagen. Seine Liebe zur Kindfrau verfolgt nicht die Idee der verklärten Komplettierung, der romantischen Ergänzung zur Einheit durch den Liebenden zu gelangen (auch wenn es uns anfangs so erscheinen mag wegen seiner an den Tod verlorenen Jugendliebe Annabel, die er zur Rechtfertigung seiner »besonderen Beziehung« zu Lolita bemüht). Humbert möchte sich Lolita vielmehr »einverleiben«, wenn er fantasiert. »Ich verübelte der Natur lediglich, dass ich meine Lolita nicht von innen nach außen stülpen konnte, um meine gierigen Lippen an ihre junge Gebärmutter, ihr unbekanntes Herz, ihre perlmutterne Leber, die Meerestrauben ihrer Lungen und an ihre hübschen Nierenzwillinge zu pressen.« (Nabokov, 191)

Ein zentraler Punkt, der die Diskussionen um die Kindfrau mitgestaltet, ist die Thematik der auch noch in einer Beziehung andauernden Fremdheit des Anderen, das Motiv der Undurchdringlichkeit auch des geliebten Menschen. Dieser Unmöglichkeit, den Anderen je zu kennen, begegnen wir in der verzweifelten Liebe der Kindfrauen-Liaison. Humbert, der namenlose Chinese aus L’Amant, Martin aus L’ennui: Sie alle sind vom ersten Augenblick der Begegnung Beobachter. Das Innenleben der Kindfrau bleibt dem Zuschauer verborgen; alles, was wir über sie erfahren, wird durch die männliche Wahrnehmung gefiltert. Ihre Vielgestaltigkeit, wesentliche Aspekte ihrer Persönlichkeit, ihre Motive versetzen ihn in tiefes Staunen, erschüttern ihn bisweilen. Auch Humberts Rätsels Lösung, Lolitas Liebhaber Quilty, ist Mensch gewordener Beweis ihrer immer währenden Fremdheit. Besonders deutlich führt L’ennui diese andauernde, sich sogar steigernde, Fremdheit vor Augen. Der Film zeigt uns erstmalig das konstitutive Element der Kindfrau-Beziehung, das wir bei Nabokovs Stoff nie zu sehen bekommen: Sex. Martin lernt durch merkwürdige Umstände die 17-jährige Cécilia kennen. Ihn reizt das Unbekannte, er weiß von ihrer ausschweifenden sexuellen Beziehung mit einem um ein Vielfaches älteren Maler. Er schläft mit Cécilia täglich, sie kommt zu ihm nach Hause immer zur selben Zeit, pünktlich (und daher vermeintlich verlässlich) wie ein Uhrwerk. Es entsteht ein obsessives, sexuelles Verhältnis. Cécilia trifft sich außer mit Martin noch mit einem Gleichaltrigen. Martin beginnt, Cécilia eifersüchtig zu kontrollieren und misstrauisch zu befragen. Gerade die jederzeite Verfügbarkeit Cécilias wird Martin zur Qual: Sie entgleitet ihm, je öfter sie sich ihm körperlich hingibt. Je vehementer er sie ausfragt, desto weniger traut er ihren Antworten. Noch im intimsten Moment trennt sein Misstrauen das Paar. Ihre stete sexuelle Verfügbarkeit ist geprägt von einem mechanischen, leidenschaftslosen Moment. Am Ende des Films verlässt sie Martin. Aber wie kann man Cécilia, wie Lolita oder das namenlose Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen (L’Amant) »moralisch« anklagen, ihr Verhalten als prätentiös empfinden und mit den Maßstäben bewerten, die man an »konventionellen« Beziehungen festmacht, wenn sie doch dem Regelwerk der abendländischen Liebesweise gar nicht angehören, die Strukturen der Liebesordnung nicht kennen? Die Kindfrau »offenbart« sich und ihre Motive, wenn überhaupt, häufig erst im letzten Drittel des Films, sofern ihre Beweggründe uns und ihrem männlichen Gegenüber überhaupt offen gelegt werden. Wir sind ergriffen, wenn wir mit ansehen müssen, wie Mathilda der Ermordung ihrer ganzen Familie beiwohnt (Leon – Der Profi, F 1994), wenn wir die übergroße Not der 10-jährigen Waise Rynn in The little girl that lives down the lane erfahren. Die vom Protagonisten stets lasziv-verführerisch erträumte American Beauty ist entgegen jeder seiner Fantasien auf Grund ihrer idealisierten Jungfräulichkeit (!) massiv verunsichert, als es zum ernsten Stelldichein kommen soll – womit sein Traum wie eine Seifenblase, absolut ernüchternd zerplatzt. Das schwierig-ärmliche Elternhaus der »Heldin« (dt. Alternativtitel Meine Heldin) aus L’ennui verunsichert Martin wie uns, sie habe es nie vorher erwähnt, woraufhin sie entgegnet, er habe sie nie danach gefragt. Tess erfährt am eigenen Leib die Unbarmherzigkeit und Bigotterie ihrer Umwelt, die sich gegen sie und ihr Kind, das aus einer Vergewaltigung hervorgeht, richtet. Die in Taxi Driver thematisierte Kinderprostitution spricht eine deutliche Sprache des Leidens der Kindfrau. Lolitas Not lassen die Adaptionen nur erahnen, an keiner Stelle werden die Filme explizit, die Moralvorstellungen des Publikums von 1997 sind nur scheinbar gelockert. Und dennoch: So wenig wie Jodie Foster in Taxi Driver sich nach dem Retter in Gestalt von Robert de Niro sehnt, so wenig wünscht sich Lolita eine sexuelle, pädagogisch motivierte Initiation in die Untiefen des »Humberlandes« …

Nach der Erkenntnis der sexuellen Differenz durch die naive, unschuldige Verführung der bis dahin engelhaften Kindfrau, wird der nunmehr »dämonischen« Kindfrau retrospektiv Schuld zugewiesen, sie wird also rückwirkend sexualisiert. Ihr ganzes Verhalten wird nunmehr retrospektiv re-interpretiert und damit tut man ihr Unrecht. Denn die Kindfrau hat niemand gewarnt, vom Baum der Erkenntnis zu versuchen. Die Bewusstwerdung der (machtvollen) Geschlechtlichkeit durch die Kindfrau schließt die »Sünde« sofort mit ein, für die jene Bewusstheit steht. Gleichzeitig erfährt die bis dahin geschlechtslose Integrität der Kindfrau eine Identitätsstiftung, das Einnehmen einer weiteren weiblichen Position innerhalb – und gleichzeitig außerhalb – der dualen Geschlechterordnung. Von diesem Moment an wird sie einzig aus der ihr zugeschriebenen Rolle gedacht, ihr nunmehr stigmatisiertes, vorgegeben kalkuliert sexuell ausgerichtetes Handeln mit neuen Maßstäben gewertet. Der einer Veränderbarkeit entzogene Status der Kindfrau wird seinerseits als Ideologem entlarvt. Ihren postulierten Status der geschlechtslosen Unschuldigkeit verliert sie bereits im allerersten Moment der Wahrnehmung des sie »Begehrenden«: »Mit dem Begehren des Gegenübers, das sie als Kindfrau erkennt und schafft, löst sie sich zugleich als die ›gute‹ Kindfrau auf, ist verraten. Und dieser Verrat wird als ihr Verrat interpretiert. Ihre Sexualisierung ist der Tod ihrer selbst und zugleich ihr neues, anderes, ihr ›eigentliches‹ Leben als Kindfrau, deren Dasein auf diesem Verrat gründet. Ihre Sexualisierung untergräbt nachträglich ihre Authentizität als ›gute‹ Kindfrau und stellt sie als Lügnerin, ihre vermeintliche Unschuld als Farce dar.« (Bramberger, 46 f.)

Die Kindfrau verändert sich nicht, es variiert nur die Sicht auf sie und ihr Tun. Die einzige Lösung, die sich der Figur der Kindfrau anbietet, ist ihr Tod. Nur so entkommt sie dem Dilemma und existiert für den sie rastlos Begehrenden unverändert und unveränderbar fort. Durch ihren frühen Tod wird auch Lolitas Ebenbild Annabel, jene »Ur-Elfe« (Nabokov, 24) Humberts zu jenem vollkommenen Wesen, das man im irdischen Leben nicht finden kann (vgl. zur Ästhetisierung der weiblichen Leiche: Elisabeth Bronfen). Der Tod der Kindfrau ist so verstanden das einzige, natürliche und notwendige Ereignis, um sie gleichermaßen »unsterblich« werden zu lassen, nur so kann sie ihren Status manifestieren, bleibt auf ewig dieselbe unveränderliche Nymphe. Ihr Tod allein ist also in der Lage, ihren phantasmagorischen Liebreiz zu konservieren. Und genau darum bemüht sich Humbert seinerseits vergebens.

Literatur:

  • Sinclair, Marianne. Hollywood Lolita. Der Nympchen-Mythos. München: Heyne 1988.
  • Bramberger, Andrea: Die Kindfrau. Lust Provokation Spiel. München: Matthes & Seitz, 2000 (Abb. 1).
  • Zingsem, Vera: Lilith, Adams erste Frau. Leipzig: Reclam, 2000.
  • Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Gender Studies. Frankfurt a. M.: edition suhrkamp, 1997.
  • Kothenschulte, Daniel: Das unbekannte Meisterwerk – Zum Tode von Stanley Kubrick, in: Filmdienst 7/99.
  • Tischleder, Bärbel: »They are called Boobs«. In: Margit Fröhlich/Reinhard Middel/Karsten Visarius: No Body is Perfect. Körperbilder im Kino. Marburg 2002. S. 55-70.
  • Sinclair, Marianne: Hollywood Lolita. Der Nymphchen-Mythos. München: Heyne, 1989.
  • Bronfen, Elisabeth. Nur über ihre Leiche: Weiblichkeit und Tod in der Literatur. München: dtv 1996.

Alle nicht näher gekennzeichneten Zitate entstammen den Filmen oder aber der folgenden Ausgabe des Romans: Nabokov, Vladimir: Lolita. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt, 1962.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.