Fantasy Filmfest 2011: Meine Stadt, mein Bezirk, mein Block

Nachts toben in den Straßen Londons Chaos und Gewalt. Im britischen Horror-Spaß „Attack the Block“ liegt das allerdings weniger an Polizeigewalt, Sozialkürzungen und jugendlicher Perspektivlosigkeit, sondern an Aliens. Schwarze, stark behaarte Aliens, die – um vom einen Ende des Kino-Spektrums zum anderen zu springen – vage an den Geist aus Apichatpong Weerasethakuls metaphysischem Kunstfilm „Uncle Boonmee who can recall his past lives“ erinnern. Aliens, die messerscharfe illuminierte Reißzähne sowie bläulich leuchtende Augen haben und sich auf der Erde einnisten wollen. Diese Wesen, die der lokale Drogendealer treffend als „big alien-gorilla-wolf- motherfuckers“ bezeichnet, haben es auf den jugendlichen Gang-Leader Moses (John Boyega) abgesehen, weil der einem der ihren den Garaus gemacht hat. Und so müssen Moses und seine Crew aus Möchtegern-Gangstern plötzlich ihren Plattenbau-Block in den ärmlichen Randbezirken der Stadt gegen die Invasion der Außerirdischen verteidigen. „Fantasy Filmfest 2011: Meine Stadt, mein Bezirk, mein Block“ weiterlesen

Zwei Punkte, eine Linie

Grell sind die Farben, grell wie im Giallo. Grell ist auch die Märchenwelt, in die Saverio Costanzos ebenso stilistisch beeindruckender wie emotional berührender Film „Die Einsamkeit der Primzahlen“ („La solitudine dei numeri primi“) den Zuschauer gleich zu Beginn versetzt. In der Grundschule wird ein Theaterstück gespielt. Zu sehen ist ein düsterer, verwunschener Wald, in dem eine Prinzessin und ein Monstrum schlafen, dargestellt von zwei in groteske Kostüme gehüllten Kindern. Die Szenerie wirkt unheimlich, doch die Kleinen spielen brav ihre einstudierten Rollen – bis Michela (Giorgia Pizzio) die Bühne betritt. Ihre Augen sind vor Angst geweitet, aus ihrem Rücken sprießen Äste, ihren Kopf ziert ein Vogelnest. Michela schreit und schreit und kann gar nicht mehr aufhören zu schreien. Das Stück muss abgebrochen werden, die Illusion der Aufführung zerbricht – und mit ihr die Illusion der Kindheit als Zeit des Glücks. „Zwei Punkte, eine Linie“ weiterlesen

Todessehnsucht

Kultur entsteht durch Leid. Die wohl überwiegende Zahl großer Kunstwerke basiert nicht etwa auf Freude und Glück, sondern auf Schmerz, Trauer und Einsamkeit. Auf das Werk Lars von Triers bezogen lässt sich aus dieser Einsicht folgern, dass es dem Regisseur noch nie so schlecht gegangen zu sein scheint wie bei der Arbeit an seinem Meisterwerk „Dogville“. Auch während der Produktion von „Antichrist“ litt von Trier bekanntlich unter schweren Depressionen – sein neuer, kürzlich in Cannes vorgestellter Film „Melancholia“ hingegen entstand unter besseren psychischen Bedingungen. Es nimmt daher nicht Wunder, dass in allen bisherigen Besprechungen ein Adjektiv verdächtig oft auftauchte: „Schön“ sei der Film, hieß es immer wieder. Das ist für das dänische Enfant terrible freilich ein vernichtendes Urteil. Von Trier macht schließlich keine Filme, die „schön“ sein, sondern, die den Zuschauer provozieren sollen, wenn sie das Böse im Menschen, die Hybris der Vernunft und das Leiden am Sein offenlegen. „Todessehnsucht“ weiterlesen

2011: A Space Odyssey

Nun ist er also da. „The Tree of Life“ – ein Film, auf dem ungeheure Erwartungen lasten, weil er seit Jahren in Produktion war, sein Start immer wieder verschoben wurde und im Oeuvre des Regie-Unikats Terrence Malick erst das fünfte Werk innerhalb von 40 Jahren darstellt. Malick gilt – wie Kubrick – als Perfektionist. Und je mehr durchsickerte, dass „The Tree of Life“ ein ähnlich avantgardistischer und philosophisch anspruchsvoller Film werden würde wie Kubricks „2001: A Space Odyssey“, wurden aus Cineasten Jünger, die weniger einen Film als eine Offenbarung antizipierten. Fast schon erwartungsgemäß wurde „The Tree of Life“ vor wenigen Wochen zum Sieger des prestigeträchtigen Festivals von Cannes gekürt. Und nun ist er also da, im Kino, aus ätherischen Höhen in die Profanität des für alle Sichtbaren hinabgestiegen, wo es mit Romantic Comedies und Action-Blockbustern zu konkurrieren gilt. Im Legendendunst seiner Vorgeschichte mag es enttäuschend erscheinen, dass „The Tree of Life“ letztlich nicht das große Meisterwerk vom Range der Kubrick’schen Vision ist. Nimmt man aber Abstand von diesen übersteigerten, nahezu unerfüllbaren Erwartungen, bleibt dennoch ein sehr gelungener, visuell berauschender und atmosphärisch starker Film. „2011: A Space Odyssey“ weiterlesen

Insane Clown Posse

„Kann ich mein Kostüm ausziehen?“, fragt der Clown bevor er Francos vorrückende Soldaten aufhalten soll. Nein, anlassen solle er es, befiehlt der Rebellenführer – angesichts eines solchen Aufzuges würden sich die feindlichen Truppen „vor Angst in die Hosen machen“. In der Tat ist die Angst vor Clowns (Coulrophobie) erstaunlich weit verbreitet: In psychologischen Studien wurde herausgefunden, dass zahlreiche Kinder sich vor Clowns fürchten, obwohl die Eltern ja gerade glauben, ihrem Nachwuchs mit dem Besuch eines Clown-Auftritts Freude zu bereiten. Diese Angst wird von Horrorfilmen wie der Stephen-King-Adaptation „It“, „House of 1000 Corpses“ oder „The Devil’s Rejects“ ausgebeutet. In der spanischen Zirkus-Groteske „A Sad Trumpet Ballad“ („Balada triste de trompeta“) hört man, bevor die ersten Bilder einsetzen, Kinder in einer Mischung aus Faszination und Furcht schreien. „Insane Clown Posse“ weiterlesen

Messen und Speichern

Zeitreisefilme reflektieren in ihren Erzählungen, aber auch in ihrer Struktur die Bedingungen ihrer Möglichkeit und das Wesen des filmischen Erzählens überhaupt. Das zeigt sich insbesondere in Zeitschleifen-Erzählungen, die eine besondere Art der Zeitreise-Erfahrung für ihre Protagonisten darstellen: Von „… und täglich grüßt das Murmeltier“ über „Lost Highway“ bis „Déjà Vu“ erleben die Filmfiguren, was es heißt, Filmfigur zu sein und damit der Willkür der erzählten Zeit zu unterliegen. „Science Fiction“ sind diese Filme in dem Maße, wie sie subtil film- und medienwissenschaftliche Positionen als Fiktionen in ihren Stories reflektieren. Mit Duncan Jones‘ „Source Code“ ist nun ein Zeitschleifen-Film entstanden, in den sich die Bedingungen seines Filmseins auf besondere Weise eingeschrieben haben.

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Abendmahl

Kaum ein Genre ist so politisch wie der Horrorfilm. In der Beschäftigung mit dem individuellen Bösen werden häufig auch die bösartigen Tumore der Gesellschaft gestreift – und wer ein Monstrum zeigt, definiert immer auch implizit, was es heißt menschlich zu sein. Der Vietnamkrieg spiegelte sich im amerikanischen Genrefilm wider, indem die Bedrohung durch das Böse nicht mehr nur von außen oder von übernatürlichen Wesen hergeleitet wurde, sondern plötzlich Menschen, ja amerikanische Bürger zu kaltblütigen Mördern wurden. Den globalen Siegeszug des Kapitalismus kommentierte George Romero wiederholt mit seinen Zombie-Filmen, in denen die geist- und willenlosen Untoten als Metaphern des Konsumenten dienen. Im mexikanischen Film „Wir sind was wir sind“ sind es nun Kannibalen, die am Beispiel einer Familie zeigen, welche Pathologien und autodestruktiven Mechanismen die mexikanische Gesellschaft unterminieren. „Abendmahl“ weiterlesen

Aber Großproduktion, warum hast du so riesige Schwächen?

Märchen waren nie als Entertainment gedacht. Ihre Unterhaltsamkeit wurde lediglich ausgenutzt, um kleine Kinder unbemerkt moralisch zu erziehen. Entsprechend des oft immensen Alters der Geschichten wurden dabei zumeist rigide, konservative Werte vermittelt. Die christliche Rechte in den USA nutzt heute mit Vorliebe das jugendgerechte Medium Film, um den selben Effekt zu erreichen, also ein junges Publikum mit traditionellen Moralvorstellungen zu indoktrinieren. Und welches Märchen wäre da besser geeignet als „Rotkäppchen“, in dem (leicht als sexuell zu dechiffrierende) Neugierde ein junges Mädchen vom rechten Weg führt und ein süß lockender Fremder sich als böser Wolf entpuppt, was offensichtlich eine kaum kaschierte Metapher für den Mann mit seiner für die keusche Frau so bedrohlichen Sexualität ist? „Aber Großproduktion, warum hast du so riesige Schwächen?“ weiterlesen

Unheimliche Begegnung der humanoiden Art

Leben auf fremden Planeten gibt es nicht, glauben die Bürger des 50er-Jahre-Nests, in dem Jorge Blancos Animationsabenteuer beginnt. Ein Raumschiff belehrt die Kleinstädter eines Besseren. Science-Fiction-Filme haben es prophezeit: Humanoide greifen an! Auf „Planet 51“ sind die Menschen die Außerirdischen. Der computergenerierte Kinderfilm stellt das klassische Science-Fiction-Szenario auf den Kopf. Für die Bewohner von „Planet 51“ kommt der Schrecken aus dem All von der Erde.

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Fantasy Filmfest Nights 2011 – If you go out in the Woods today…

Das Unangenehmste am Job eines Trolljägers ist der Papierkram. Die geheime staatliche Agentur TST (Troll Security Service) verlangt doch tatsächlich, dass man ein bürokratisches Formular ausfüllt, das unter anderem darüber Auskunft geben soll, ob man nun einen Ringlefinch, Tosserlad oder Jotnar erlegt hat. Da die essentiellen Unterschiede allgemein bekannt sind, braucht hier nicht auf die Spezifika dieser einzelnen Unterarten eingegangen werden. Was indes weniger bekannt ist: Die norwegische Regierung versucht – vermutlich, um den Tourismus nicht zu gefährden – die Existenz der Wald- und Bergmonster mit allen Mitteln geheim zu halten. „Fantasy Filmfest Nights 2011 – If you go out in the Woods today…“ weiterlesen

Feeling good about feeling bad

Als die Bilder gerade erst laufen lernten, brachten europäische Missionare von ihren Reisen Filmmaterial mit, das ferne Völker und ’Rassen’ in ihrer Lebensweise und ihren vermeintlichen Eigenarten dokumentieren sollte. Heutzutage ist man sich darüber einig, dass diese Ethno-Filme eher rassistischen Stereotypen Vorschub leisteten als kulturelle Informationen zu transportieren. Sie stellen die beobachteten Menschen aus wie es zuvor in den höfischen Kuriositäten-Kabinetten der Fall war. In Debra Graniks „Winter’s Bone“ wird man ebenfalls das Gefühl nicht los, dass da halb belustigt, halb abgestoßen, auf jeden Fall aber fasziniert durchs Schlüsselloch geschaut wird. Als Faszinosum dient hier die weiße Unterschicht eines vergessenen Amerikas, das in hoffnungsloser Armut und Klein-Kriminalität vor sich hin vegetiert und – in Zeiten, da der „schwarze Mann“ aus Gründen der Political Correctness nicht mehr als Schreckgespenst dienen darf – das Andere einer von der Finanzkrise bedrohten weißen Mittelschicht repräsentiert. „Feeling good about feeling bad“ weiterlesen

Berlinale 2011 – Norwegische Seelenlandschaften

Zwei Frauen wandern durch eine einsame, verschneite Bergwelt. Noch bevor die ersten Worte gesprochen werden, grundiert die seelische Zustände reflektierende Landschaft die Stimmung des Films und charakterisiert zugleich die Figuren. Die winterlich-kalten Farben Weiß und Blau dominieren die Palette und deuten das zentrale Problem von Solveig (Ellen Dorrit Petersen ) und Nora (Marte Magnusdotter Solem) metaphorisch an: Die Beziehung der beiden ist eingefroren, eine eisige Decke des Schweigens hat sich über ihr Miteinander gelegt. Ein am Beginn noch chiffriertes Bild wird ein zweites Mal im Film auftauchen und den Grund der Beziehungsprobleme aufzeigen. In „The Mountain“ („Fjellet“) geht es nicht etwa um ein allmähliches emotionales Erkalten durch Alltagsroutine. Ganz im Gegenteil: Es gibt einen abrupten, datierbaren Bruch. Solveig und Nora sind diesen Weg schon einmal gegangen, damals mit ihrem gemeinsamen Sohn Vetle – zurück gekehrt sind damals nur die beiden Frauen. „Berlinale 2011 – Norwegische Seelenlandschaften“ weiterlesen

Meine liebe Rabenmutter

Die meisten Morde sind Beziehungstaten. Hubert Minels Tat ist ein klassischer Fall. „I killed my Mother“, gesteht er im gleichnamigen Mutter-Kind-Drama; kein kriminalistisches, sondern ein emotionales Bekenntnis. In seinem in Cannes in der Reihe „Quinzaine des realisateurs“ aufgeführten halb-biografischen Beziehungsproträt inszeniert der Regisseur, Drehbuchautor und Hauptdarsteller Xavier Dorval seinen persönlichen Familienkonflikt als zermürbendes Pubertätsdrama.

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Cliffhanger

„Ich kenne einen besseren Weg.“, grinst Alan Ralston (James Franco) auf seiner Tour durch die Wüste Utahs: „Den coolen Weg!“ Einfache Strecken verlacht der Extremsportler, der in der klimatischen Extremzone zwischen zerklüfteten Felsen und hunderte Meter tiefen Schluchten nach einer neuen Herausforderung sucht. Die findet der Held von Danny Boyles auf einer wahren Begebenheit basierendem Bergsteigerdrama, mehr als ihm lieb ist. Nur wenn er physisch und psychisch über sich hinaus wächst, kann Ralston seine neues Abenteuer überstehen. Ein Kampf, bei dem es nicht um Ruhm geht, sondern um sein Überleben.

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Tschaikowski als Body Horror

Kann man einem Film vorwerfen, dass er nicht ernst zu nehmen ist, wenn dieser Film gar nicht beansprucht ernst genommen zu werden? „Black Swan“ wird jene enttäuschen, die ein profundes Drama über eine psychotische Künstlerpersönlichkeit erwarten – wer hingegen an selbstironischem Horror und opernhaftem Spektakel seine Freude hat, dem dürfte Darren Aronofskys neuer Film gefallen. Mit dem Bildungsbürger-Blockbuster „Black Swan“, der die psychische Desintegration einer Prima Ballerina während der Arbeit an Tschaikowskis „Schwanensee“ zeigt, ist der einstige Arthouse-Regisseur endgültig im Affekt-und-Effekt-Kino Hollywoods angekommen. „Tschaikowski als Body Horror“ weiterlesen

Britspotting 2011 – Lachen gegen die Terror-Angst

Die CSU – bekanntermaßen ein bayerischer Zusammenschluss von Filmexperten und Medienwirkungs-forschern – will die Terror-Satire „Four Lions“ nicht in deutschen Kinos laufen lassen, weil der Film Moslems verärgern könnte. Damit rückt im Jahr 2011 – neben reaktionär-autoritären Maßnahmen wie Verbot und Zensur – letztlich der Straftatbestand ‚Blasphemie‘ wieder ins Zentrum einer säkularen, westlichen Gesellschaft. Dabei heißt es doch sonst gerade von rechter Seite, die Terroristen hätten ’schon gewonnen‘, wenn wir aus Rücksicht auf sie unseren Lebensstil einschränken würden. In Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden – allesamt Staaten mit einem hohen muslimischen Bevölkerungsanteil – lief der Film bereits, zur Überraschung der CSU folgten keinerlei Selbstmordattentate. Ganz im Gegenteil: Kunst kann eine befreiende, Ängste kurzzeitig überwindende Wirkung haben, indem sie uns dazu bringt, über die Gegenstände unserer kollektiven Ängste zu lachen. „Britspotting 2011 – Lachen gegen die Terror-Angst“ weiterlesen

Umleitung

Jeder Weg führt in den Tod. Bedächtig betrachtet der Mann den Grabstein auf dem alten Friedhof, zu dem der Blick ihn verfolgt. Doch er ist ein Niemand, einer der zahllosen Bewohner des gespenstischen Niemandslandes, in das Georgi in Sergei Loznistas „Mein Glück“ gerät. Nach elf Reportagen fantasiert der ukrainische Regisseur und Drehbuchautor ein pessimistisches Road Movie, hinter dessen grausam-bizarrer Realität sich ein surrealer Abgrund öffnet. Georgi (Viktor Nemets) ist der Weg verbaut. Die Landstraße, von der eine Wegposten den Lastwagenfahrer abbringt und der Weg, den sein Leben nehmen sollte. Der Rat einer jugendlichen Hure (Olga Shuvalova) führt ihn in ein entlegenes Dorf im ukrainischen Hinterland.

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Unknown Pleasures 2011 – Trash Humpers

Harmony Korines „Trash Humpers“ ist ein Anti-Kunstfilm – ein Film, der sich allem Schönen verweigert und sich stattdessen Orten des Drecks und Verfalls, vor allem aber menschlichen Abartigkeiten widmet. In „Trash Humpers“ vermischen sich zwei Ästhetiken des Primitiven und Hässlichen. Das gesamte Bildmaterial wurde mit billigen Videokameras gedreht, anschließend über mehrere miteinander verkabelte Videorekorder kopiert und dadurch nochmals gezielt qualitativ degradiert. Für an HD und 3D gewöhnte Zuschauer ist dieser Look des Amateurhaften und Veralteten natürlich ein ästhetischer Affront. Hier wird der technologische Fortschritt nicht einfach nur entschleunigt oder angehalten, sondern komplett zurückgenommen. „Unknown Pleasures 2011 – Trash Humpers“ weiterlesen

Normal ist, was sich sehen lässt

Einmal im Jahr kommt die Familie Yokoyama zusammen, um des Todestages des ältesten Sohnes zu gedenken. Dieser, so erfährt man sehr früh, kam vor Jahren schon beim Versuch ums Leben, einen kleinen Jungen vor dem Ertrinken zu retten. Für einen lauen Sommertag entführt uns „Still Walking“ in ein kleines Küstenstädtchen, hinein ins Elternhaus von Ryota (Abe Hiroshi) und dessen Schwester Chinami (You), um diesem schönen, melancholischen Ritual beizuwohnen. Wie kaum ein anderer seines Faches versteht es der japanische Autorenfilmer Hirokazu Kore-eda dieses recht ereignislose Geschehen in seinen vielen teils ernsten, teils verspielten und zuweilen auch komischen Abläufen und Schattierungen auszumalen, und dabei implizit die vielen kleinen und großen Geschichten aus dem Familienleben, die Geschäftigkeit und die Ruhe zu erzählen. Die ganze Festivität steht unterm Diktum der Alten, von der Zubereitung des Essens bis zu den nicht abreißenden Sticheleien des Vaters, für den der Zweitgeborene eine konstante Enttäuschung ist. Dieser hat es nämlich versäumt, anders als sein toter Bruder, rechtzeitig in die Fußstapfen von Vater Shohei (Harada Yoshio) zu treten und den Arztberuf zu ergreifen, von dessen Prestige und überragender Wichtigkeit sich der Alte unumstößlich überzeugt zeigt.

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Pornfilmfestival Berlin 2010 – Meat

Fleisch. Lust. Fleischeslust. Die Lust auf Fleisch. Die Doppeldeutigkeit des Wortes ‚Fleisch‘ steht im Zentrum des niederländischen Films Meat, der die Lust auf den Verzehr tierischen Fleisches mit dem Begehren nach lebendigem, sexuell konsumierbaren Fleisch verbindet. Diese Ambivalenz lässt sich aus dem nahezu deutsch klingenden Originaltitel Vlees wesentlich besser ablesen als aus dem internationalen Titel Meat. Schließlich nimmt das Englische ja gerade jene Trennung (meat – das essbare Fleisch des Tieres / flesh – das Fleisch am Körper des Menschen) vor, die im Deutschen so nicht existiert. In der deutschen Sprache wird – vielleicht zu Recht – nicht differenziert zwischen dem Fleisch des Tieres und dem Fleisch des Tieres namens Mensch. Ganz im Gegenteil: Sie setzt sogar das „Verschlingen“ des tierischen Fleisches mit der Raserei erotischer Lust gleich: „Ich könnte dich auffressen“, heißt es nicht umsonst auf dem Höhepunkt sexueller Erregung.
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