Feeling good about feeling bad

Als die Bilder gerade erst laufen lernten, brachten europäische Missionare von ihren Reisen Filmmaterial mit, das ferne Völker und ’Rassen’ in ihrer Lebensweise und ihren vermeintlichen Eigenarten dokumentieren sollte. Heutzutage ist man sich darüber einig, dass diese Ethno-Filme eher rassistischen Stereotypen Vorschub leisteten als kulturelle Informationen zu transportieren. Sie stellen die beobachteten Menschen aus wie es zuvor in den höfischen Kuriositäten-Kabinetten der Fall war. In Debra Graniks „Winter’s Bone“ wird man ebenfalls das Gefühl nicht los, dass da halb belustigt, halb abgestoßen, auf jeden Fall aber fasziniert durchs Schlüsselloch geschaut wird. Als Faszinosum dient hier die weiße Unterschicht eines vergessenen Amerikas, das in hoffnungsloser Armut und Klein-Kriminalität vor sich hin vegetiert und – in Zeiten, da der „schwarze Mann“ aus Gründen der Political Correctness nicht mehr als Schreckgespenst dienen darf – das Andere einer von der Finanzkrise bedrohten weißen Mittelschicht repräsentiert.

In „Winter’s Bone“ lastet auf der erst 17-jährigen Ree (Jennifer Lawrence) viel Verantwortung: Der abwesende Vater Jessup ist ein flüchtiger Verbrecher, die Mutter ist durch jahrelangen Drogenmissbrauch handlungsunfähig geworden und die Familie besitzt nicht einmal genügend Geld, um Ree und ihre beiden kleinen Geschwister zu ernähren. Und dann steht auch noch der Sheriff vor der Tür und teilt Ree mit, ihr Vater habe das kleine Holzhaus der Familie als Kaution angegeben, sodass es geräumt und versteigert werden müsse, falls der Vater nicht zum nächsten Gerichtstermin erscheine. Ree, die Jugendliche ohne Jugend, macht sich gemeinsam mit ihrem Onkel Teardrop (John Hawkes) auf die Suche nach ihrem Vater und trifft dabei nicht nur auf eine Mauer des Schweigens, sondern auch auf große Gewaltbereitschaft unter den mit Jessup verbundenen Menschen aus der lokalen Drogenszene.

Wenn die Hillbillies im elegant verschneiten Missouri selbst gejagte Eichhörnchen grillen, Banjo spielen und allesamt miteinander inzestuös verwoben sind, dann finden sich fast sämtliche Klischees versammelt, die man für das Sub-Genre der Rednexploitation braucht. Die prekäre Existenz der Figuren wird hier weniger als politischer Hintergrund eingesetzt, sondern als stilistischer Rahmen der Narration – als chic pauvre – missbraucht. Das für einen sozial-realistischen Ansatz allzu oft ausbrechende, über allem dräuende Spektakel der Gewalt markiert den Film merklich als voyeuristisches Entertainment. So wird in einer völlig grotesken Szene gar das Hauptwerkzeug des Splatter-Klassikers „The Texas Chainsaw Massacre“ hervor geholt, um einer Wasserleiche beide Hände abzutrennen, da man diese als juristisches Beweismaterial benötigt. Auch sonst spart Granik nicht mit abenteuerlichen Übertreibungen, die wenig mit der Realität zu tun haben dürften. So werden die einfältigen Hinterwäldler zu schillernden Gangstern stilisiert, die einen professionell organisierten Drogen-Ring unterhalten. Die Mythologisierung der Hillbilly-Kultur kulminiert dabei in der Figur einer Paten-ähnlichen Führungspersönlichkeit, die meilenweit Angst und Schrecken verbreitet.

Dieses Bild des amerikanischen White Trash entstammt merklich der Imagination und nicht der sozialen Realität. Hier brauen die wilden Alpträume der liberalen Küsten-Eliten kollektive Horror-Fantasien zusammen, die äußerst unterhaltsam sind, jedoch mehr über die Ängste der Mittelschicht als über das Redneck-Leben zwischen Trailern, Rinder-Auktionen und Rodeo-Wettbewerben aussagen. Die Figuren im typischen Milieu-Slang kräftig „ain’t“ und „y’all“ sagen zu lassen, bedeutet noch lange keine authentische Darstellung dieser sozialen Schicht. Es dient lediglich der Kaschierung von filmischen Ausbeutungs-Mechanismen, welche die Menschen einer Nischengesellschaft zu Staun-Objekten degradiert. Granik liefert hier weniger ein Sozial-Drama, das die Lebensumstände gesellschaftlicher Randgruppen porträtiert, als einen Thriller, der sich deutlich mehr auf Konflikte und Gewalt konzentriert als auf Armut, Drogensucht und Marginalisierung, also auf Schauwerte statt eine sorgfältige Milieu-Studie.

Das kitschige Zuckerguss-Ende, in dem die Familie gerettet, mit Geld beschenkt und durch eine neue Vater-Figur wieder vervollständigt wird, hätte Hollywood nicht sentimentaler schreiben können. Dass dieser Film 2010 das Sundance-Festival gewonnen hat, unterstreicht die industrielle Kooptation großer Teile des amerikanischen ‚Independent‘-Kinos durch feste Studio-Strukturen. Erklären lässt sich der dortige Preis daher nicht unbedingt mit der Qualität oder Authentizität von „Winter’s Bone“, sondern mit der Selbstzufriedenheit, die er seinen Zuschauern spendet. Man hat sich als cineastischer Bourgeois einmal aus seinem Kokon gewagt und sich der kalten rauen ‚Realität’ zumindest in der Virtualität gestellt. Das Happy End befreit den Zuschauer zudem von jeglicher Handlungspflicht jenseits des Mitleids, da sich alles von selber zu lösen scheint. Die auf Spielfilmlänge begrenzte kathartische feel-bad-Solidarisierung kippt also um in feel-good-Selbstgerechtigkeit statt politische Aktivierung. Die porträtierten Menschen sind nur Mittel, nicht Zweck für den Betrachter.

Winter`s Bone
(USA 2010)
Regie: Debra Granik; Drehbuch: Debra Granik, Anne Rosellini, Daniel Woodrell (Roman); Kamera: Michael McDonough; Schnitt: Affonso Gonçalves; Musik: Dickon Hinchliffe; Darsteller: Jennifer Lawrence, John Hawkes, William White, Lauren Sweetser, Shelley Waggener;
Länge: 100 Min
Verleih: Ascot Elite
Kinostart: 31.03.2011

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