Splitterbomben des Wunderbaren

Der Erste Weltkrieg gilt als die Ur-Katastrophe des der Moderne. Während das Grauen des Zweiten Weltkriegs in der menschenverachtenden Ideologie begründet liegt, die diesen auslöste, bewegt der Erste Weltkrieg, weil er von so vielen befürwortet wurde, und das in Unkenntnis dessen, dass die Entwicklung der Technologie und ihrer Handhabung dem Krieg schon jegliche Möglichkeit genommen hatte, auf welche argumentative Weise auch immer positiv betrachtet werden zu können. Vor allem die Euphorie, mit der auch Künstler und Literaten an die Front zogen oder ziehen wollten, ist ebenso faszinierend wie irritierend.

Das Kino, ob im Kriegsfilm oder in anderen Genrezusammenhängen, hat sich dieses reichen Themengebietes bei weitem noch nicht genug gewidmet. Im ersten, von Heinz Bütler betreuten Teil der vorliegenden DVD Edition, „Kunst und Krieg“, der in sich wiederum in die Kapitel „Ich-Geschichten zu Zeiten des Krieges“ und „Dada und Surrealismus: Splitterbomben des Wunderbaren“ unterteilt ist, wird jetzt zumindest dokumentarisch dieser Komplex reflektiert. Wir bekommen Einblicke etwa in das ‚Ich‘ des Kriegstagebuchs von Otto Dix, in einem Rundfunk-Interview aus dem Jahre 1967 davon spricht, dass es seine nur allzu menschliche Neugier gewesen sei, die ihn dazu trieb, den Krieg an vorderster Front erleben zu wollen. Die Reaktion der Dadaisten und Surrealisten auf den Krieg in ihren avantgardistischen Aktionen und Performances wird mit einer Fülle von Bildmaterial, der schauspielerischen Darbietung bekannter dadaistischer Lautgedichte und klugen wissenschaftlichen und publizistischen Kommentaren veranschaulicht. Dabei variiert die Länge der Beiträge erheblich.

Alexander Kluge geht auf DVD 3 und 4 zum Thema „Die Abwesenheit von Kriegskunst“ in seiner bewährten aus den dctp TV-Produktionen bekannten Manier vor. Einmal mehr erweist er sich als der neben Jean-Luc Godard (Histoire[s] du cinéma) wichtigste Vertreter einer neuen Form von audiovisueller Geschichtsschreibung. Die Markierungen innerhalb von Schriftzügen mögen mitunter Überhand nehmen und leicht den Eindruck erwecken, dass nur die Möglichkeiten des Texteditors im Schnittprogramm ausgeschöpft werden. Grundsätzlich montiert Kluge aber Bild- und Tonmaterial unterschiedlichster Herkunft – Kluges „Rohstoffe“ wie es Matthias Uecker in seinem Buch über Kluges Fernsehproduktionen bezeichnet hat – in einer zwar disparaten, nicht immer leicht erschließbaren Form. Ihm gelingt es aber dennoch ein hochinteressantes und aufschlussreiches Gesamtbild der Umstände des Ersten Weltkriegs zu präsentieren, das als audiovisuelle Diskursanalyse auf der Grundlage der dokumentarischen Form bezeichnet werden könnte.

Die Mitwirkenden, Publizisten (Stefan Zweifel), Kunsthistoriker (Juri Steiner), Sammler (Eberhard W. Kornfeld), Schriftsteller (Rolf Hochhuth), Verleger (Bernhard Echte), Wissenschaftler (Michael Geyer, Elisabeth Lenk), Startheoretiker (Friedrich Kittler), Schauspieler (Robert Hunger-Bühler, Martin Wuttke), die Pianistin Ragna Schirmer, die Maurice Ravel am Klavier interpretiert oder der langjährige Begleiter Kluges auf dessen Wanderungen durch das Fernsehformat ‚Kulturmagazin‘, Peter Berling, sie fungieren nicht nur als pure Informations- und Wissensvermittler. Ihre Vermittlungsform, was sich etwa in ihren Gesichtern abspielt, wenn sie von den Künstlern und anderen Personen sprechen, denen sie mitunter viele Jahre ihres beruflichen Lebens gewidmet haben, ist annähernd so wichtig wie das, worüber sie reden.

Im üppigen Begleitheft steht, dass es sich um bei der DVD Edition um work in progress handelt. Für 2014, wenn sich der „Ausbruch des Ersten Weltkriegs jährt“ ist eine Erweiterung geplant. Es ist zu hoffen, dass Kluges und Bütlers Arbeit dann noch mehr Öffentlichkeit findet.

Heinz Bütler/Alexander Kluge: Wie ein Jahrhundert entgleist – Der Erste Weltkrieg. Kunst und Krieg / Die Abwesenheit von Kriegskunst.
Dctp TV/NZZ Format 2010

Thomas Klein

Ausstattung:

  • 4 DVDs
  • Bild: DVD 1& 2: 16:9 / DVD 3& 4: 4:3
  • Extras: 100-seitiges Begleitheft
  • FSK: ohne Altersbeschränkung
  • Preis: 69,90 Euro

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