Zeitreisefilme reflektieren in ihren Erzählungen, aber auch in ihrer Struktur die Bedingungen ihrer Möglichkeit und das Wesen des filmischen Erzählens überhaupt. Das zeigt sich insbesondere in Zeitschleifen-Erzählungen, die eine besondere Art der Zeitreise-Erfahrung für ihre Protagonisten darstellen: Von „… und täglich grüßt das Murmeltier“ über „Lost Highway“ bis „Déjà Vu“ erleben die Filmfiguren, was es heißt, Filmfigur zu sein und damit der Willkür der erzählten Zeit zu unterliegen. „Science Fiction“ sind diese Filme in dem Maße, wie sie subtil film- und medienwissenschaftliche Positionen als Fiktionen in ihren Stories reflektieren. Mit Duncan Jones‘ „Source Code“ ist nun ein Zeitschleifen-Film entstanden, in den sich die Bedingungen seines Filmseins auf besondere Weise eingeschrieben haben.
Das erzählerische Grundgerüst ist so rudimentär, als sei es für einen Kurzfilm konzipiert worden: Ein Mann erwacht in einem fahrenden Zug. Ihm gegenüber sitzt eine Frau, die ihn anspricht, als kenne sie ihn sehr gut – er hingegen kann sich weder an sie erinnern noch daran, wie er in den Zug gekommen ist. Nach ein paar Minuten voller Desorientierung wird er erlöst: Der Zug explodiert und er sowie alle anderen Insassen kommen dabei ums Leben. Als nächstes findet sich der Mann eingeschlossen in einer Kapsel wieder, vor ihm ein Monitor, auf dem ihn eine Frau in Militäruniform fragt, ob er wisse, wer er ist und ob er herausgefunden habe, wer den Anschlag in jenem Zug durchgeführt hat. Die Desorientierung des Protagonisten verstärkt sich noch, aber ehe er sich versieht (und bevor eine seiner Fragen beantwortet wird), sitzt er abermals in jenem Zug, erwacht an derselben Stelle, erlebt dasselbe noch einmal. Und dieses Erleben wird sich noch mehrfach wiederholen, bis der Zug-/Zeitreisende alle Informationen darüber gesammelt hat, wer für die Explosion des Zuges verantwortlich ist.
Damit ist die Erzählung von „Source Code“ freilich (und wie sich zeigen wird: konsequenterweise) noch nicht abgeschlossen. Duncan Jones möchte sich – wie schon in „Moon“ – nicht damit abfinden, dass ein bloßes Kalkül und eine blanke Technologie die menschliche Wärme gänzlich verlöschen lassen, die sich in der Verzweiflung, der Liebe und sogar der Wut seiner menschlichen Protagonisten offenbart. Sei es nun ein Klon wie in „Moon“ oder ein für Zeitreise-Experimente missbrauchter US-Soldat aus dem Irak – die Würde und die Wünsche des Menschen sind für die Jones’sche Science Fiction unantastbar. Und so lässt er seinen Protagonisten, nachdem eigentlich alle Fragen geklärt sind, kraft seiner Menschlichkeit aus der Maschine etwas sehr Menschliches hervorbringen bzw. in sie eingehen.
Neben dieser überaus warmherzigen und mitreißenden Erzählung offenbart „Source Code“ jedoch noch die eingangs erwähnte Selbstreflexivität. Sein Titel verspricht es ja beinahe schon, dass er den Paradigmen der Erzähltechnik auf den Grund geht – bis zurück zu deren Quellcode, der bekanntlich die Basis jeder Software ist und der Maschine, auf der die Software „läuft“, am nächsten steht. Der Source Code ist die primäre, immaterielle semantische Einheit, aus der sich die Erzählung entwickelt; sie ist der erste Schritt, um aus dem technischen Dispositiv Film das diskursive Konstrukt Film zu machen. Durch sie wird die Maschine zum Erzähler.
Der medien- und technikhistorische Ursprung des Films ist zunächst scheinbar kein narrativer: Film ist ursprünglich ein Mess-Medium gewesen, mit dem Bewegungsabläufe in diskrete Einzelschritte zerteilt wurden, die dann als Serienfotos untersuchbar wurden und – durch Abrollen vor einer flimmernden Lampe und unter Berücksichtigung der Trägheit des menschlichen Sehsinns – wieder in Bewegung gebracht werden konnten. 12, 18 oder 24 Einzelbilder pro Sekunde waren in der Filmgeschichte nötig, um diese Bewegung aus Einzelbildern zu suggerieren. In prädigitalfilmischen Zeiten konnte dieser Mess-Ursprung des Films durch bloßes Anhalten des Filmlaufs und Anschauen des Einzelbilds (im Vergleich mit den vorherigen und nachfolgenden Einzelbildern) noch durch einen Blick aufs Trägermaterial (den Filmstreifen) nachvollzogen werden.
Doch birgt der medienhistorische Ursprung des Films – die Bewegungsstudien von Muybridge – noch etwas anderes; es ging nicht nur um das Abmessen der Zeit eines Bewegungsablaufs; dazu hätte man kein Bild einfangen müssen. Es ging darum, eine für das Auge unsichtbare Bewegung anzuhalten, um einen Momentausschnitt daraus sichtbar zu machen (wie etwa im Screenshot auf der linken Seite.) Die Frage „Hat das galoppierende Pferd irgendwann keines seiner Hufe auf dem Boden?“ war der Ausgangspunkt dieses Experiments. Dass diese Frage bejaht werden konnte, führt nun zu der Tatsache, dass der Ursprung des Mediums Film eben auch sein Inhalt gewesen ist, welcher in seinem Material als Bild gespeichert ist.
Das leitet nun zurück zu Duncan Jones‘ „Source Code“, der diesen zweifachen medienhistorischen Ursprung des Films in seiner Zeitschleifen-Erzählung reflektiert. Der Zeitreisende reist ja nicht wirklich in der Zeit zurück – ihm wird immer wieder klargemacht, dass die Zugexplosion längst Vergangenheit ist und er nichts mehr daran ändern kann. Er wird nicht in „der Zeit“ zurückgeschickt, um die Ursache für die Explosion herauszufinden, sondern er wird in die Erinnerungen eines der Zugreisenden versetzt – erlebt dessen letzte acht Lebensminuten immer wieder, jedoch mit der Möglichkeit, diesen Erinnerungsraum jeweils anders „auszuleuchten“. Das Messen des schon fertigen achtminütigen Erinnerungsfilms geschieht hier also nicht nach einer zeitlichen, sondern nach einer inhaltlichen Vorgabe – ganz so als konzentriere sich Muybridge bei jeder neuerlichen Betrachtung des galoppierenden Pferdes auf einen anderen Aspekt des Bildes, nicht bloß auf die Beine – um herauszufinden, welche Facetten der Gesamtbewegung von Tier und Reiter noch durch das Einzelbild sichtbar werden.
Und genau das wird höchstwahrscheinlich auch geschehen sein, wenn man nicht davon ausgeht, dass die Fotoserie nur ein einziges mal und nur unter der einen, ursprünglichen Perspektive betrachtet wurde. Duncan Jones‘ Protagonist tut dasselbe, was wir bei der abermaligen Betrachtung eines schon bekannten Films tun: Er achtet auf weitere Details, die sich aus dem Bild ergeben. Er löst sich vom Barthes’schen Punctum (das für Muybridges Bilderserie die Pferdebeine waren und für Duncan Jones‘ „Source Code“ der Terrorist ist) und beginnt mit dem (nicht nur Barthes’schen) Studium des weiteren Bildinhaltes.
Dass Jones‘ Film, nachdem das Punctum – der Anschlag, der Terrorist – vollständig erhellt ist, die Achtminuten-Erinnerung dann für einen viel größeren erzählerischen Raum öffnet, erscheint vor diesem Hintergrund beinahe als zwangsläufig. Denn der Bildinhalt ist nicht festgeschrieben, er ergibt sich erst aus der Lektüre des jeweiligen Betrachters. Jones‘ Protagonist macht aus der fremden Erinnerung eine eigene; er richtet sich förmlich in ihr ein, beginnt in ihr zu leben. Der Spielfilm „Source Code“ wird an dieser Stelle zum Science Fiction im eigentlichen (Genre-)Sinne, weil er mit dem fantastischen Element operiert, dass der Betrachter in den Film(raum) eindringen kann. Er erinnert damit (und schon allein dadurch, dass er überhaupt eine Zugfahrt zum Handlungsort wählt) an die Anfänge des filmischen Erzählens bei Lumière und ihrer scheinbar grenzüberwindenden Ästhetik. Reduziert man dieses Eindringen jedoch auf die Grundfrage nach dem Wesen des Films, offenbart „Source Code“ eine fiktionale Reflexion über Zeitlichkeit und Inhaltlichkeit als den Source Code des Mediums Film.
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Source Code
(USA/Frankreich 2011)
Regie & Buch: Duncan Jones; Musik: Chris Bacon; Kamera: Don Burgess; Schnitt: Paul Hirsch
Darsteller: Jake Gyllenhaal, Michelle Monaghan, Vera Farmiga, Jeffrey Wright, Michael Arden u. a.
Länge: 93 Minuten
Verleih: Kinowelt
Start: 02.06.2011