Berlinale 2011 – Norwegische Seelenlandschaften

Zwei Frauen wandern durch eine einsame, verschneite Bergwelt. Noch bevor die ersten Worte gesprochen werden, grundiert die seelische Zustände reflektierende Landschaft die Stimmung des Films und charakterisiert zugleich die Figuren. Die winterlich-kalten Farben Weiß und Blau dominieren die Palette und deuten das zentrale Problem von Solveig (Ellen Dorrit Petersen ) und Nora (Marte Magnusdotter Solem) metaphorisch an: Die Beziehung der beiden ist eingefroren, eine eisige Decke des Schweigens hat sich über ihr Miteinander gelegt. Ein am Beginn noch chiffriertes Bild wird ein zweites Mal im Film auftauchen und den Grund der Beziehungsprobleme aufzeigen. In „The Mountain“ („Fjellet“) geht es nicht etwa um ein allmähliches emotionales Erkalten durch Alltagsroutine. Ganz im Gegenteil: Es gibt einen abrupten, datierbaren Bruch. Solveig und Nora sind diesen Weg schon einmal gegangen, damals mit ihrem gemeinsamen Sohn Vetle – zurück gekehrt sind damals nur die beiden Frauen. Das erneute Beschreiten des selben Weges soll ihre Beziehung retten und als Konfrontationstherapie dienen. Durch die gezielte Bewusstmachung von Vetles tödlichem Unfall hofft Solveig das Unglück besser verarbeiten zu können. Allein, die in sich gekehrte Nora hat den Weg der Verdrängung gewählt, sie will sich ihrem Schmerz nicht stellen und wandert nur aufgrund von Solveigs als Drohung instrumentalisierten Trennungsabsichten mit.

Inmitten der atemberaubenden Landschaften brechen über Jahre hinweg aufgestaute Vorwürfe und Verletzungen hervor. Immer wieder entfernen sich die Frauen physisch und affektiv von einander – und ebenso häufig suchen sie Versöhnung, Nähe und Zärtlichkeit. Die verbitterte Nora wird sich gegenüber der Vergangenheit öffnen müssen, um sich auf einen Neubeginn mit der schwangeren, in die Zukunft schauenden Solveig einlassen zu können. Die Informationen über den Unfallhergang und die daraus entstehenden Beziehungsgräben streut der Film oft ein wenig ungeschickt über allzu sehr ausformulierte Dialoge ein, statt sie lediglich subtil anzudeuten oder nonverbal im Bild zu erschließen. Dabei geht es dem Regisseur Ole Giæver gar nicht so sehr um die konkreten Gründe der Entzweiung oder das Ergebnis der therapeutischen Wanderung. „The Mountain“ beobachtet viel mehr in stiller Anteilnahme den Prozess der Trauerverarbeitung von zwei Menschen mit unterschiedlichen coping-Strategien. Entsprechend hält der Plot auch keinerlei Twists oder dramaturgische Höhepunkte bereit – Giæver will weniger eine Geschichte erzählen als jenen Moment einfangen, in dem die Beziehung der beiden Frauen einen Scheidepunkt erreicht. Dass es sich dabei um eine homosexuelle Beziehung handelt, ist für „The Mountain“ angenehmerweise überhaupt kein Thema. Giæver führt diese Tatsache als so selbstverständlich ein, dass sie keinerlei Erläuterungen oder Differenzierungen von heterosexuellen Paaren bedarf.

Die narrativ reduzierte Herangehensweise des Films wird durch stimmungsvolle Aufnahmen atemberaubender Landschaften komplementiert. Øystein Mamen gelingen mit seiner Digitalkamera vor allem in spärlich beleuchteten Dämmerungsszenen atmosphärische Bilder der Figuren in einem weiten Raum, der sie umso verlorener erscheinen lässt. Wie im Road Movie ist der Weg durch diesen Raum das eigentliche Ziel. Das Motiv der Reise war immer schon ein physischer Ausdruck der psychischen Gleichgewichtsfindung und der Selbstsuche. Nora und Solveig haben dabei – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne – einen hohen Berg zu erklimmen.

The Mountain
(Fjellet, NOR 2011)
Regie: Ole Giæver; Drehbuch: Ole Giæver; Kamera: Øystein Mamen; Schnitt: Astrid Skumsrud Johansen, Wibecke Rønseth; Musik: Ola Fløttum; Darsteller: Ellen Dorrit Petersen, Marte Magnusdotter Solem;
Länge: 73 Min.
Verleih: Bavaria Film International

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