Aber Großproduktion, warum hast du so riesige Schwächen?

Märchen waren nie als Entertainment gedacht. Ihre Unterhaltsamkeit wurde lediglich ausgenutzt, um kleine Kinder unbemerkt moralisch zu erziehen. Entsprechend des oft immensen Alters der Geschichten wurden dabei zumeist rigide, konservative Werte vermittelt. Die christliche Rechte in den USA nutzt heute mit Vorliebe das jugendgerechte Medium Film, um den selben Effekt zu erreichen, also ein junges Publikum mit traditionellen Moralvorstellungen zu indoktrinieren. Und welches Märchen wäre da besser geeignet als „Rotkäppchen“, in dem (leicht als sexuell zu dechiffrierende) Neugierde ein junges Mädchen vom rechten Weg führt und ein süß lockender Fremder sich als böser Wolf entpuppt, was offensichtlich eine kaum kaschierte Metapher für den Mann mit seiner für die keusche Frau so bedrohlichen Sexualität ist? Der Aufgabe, diese Subtexte filmisch umzusetzen, hat sich die Regisseurin Catherine Hardwicke angenommen, die schon mit „Twilight“ die sexuelle Askese gepredigt hatte.

Ihr Teenie-Horrorfilm „Red Riding Hood“ hat mit dem Grimm’schen Märchen allerdings nicht mehr viel gemeinsam. Die Protagonistin heißt Valerie (was ein Verweis auf Jaromil Jireš‘ psychosexuellen Märchenfilm für Erwachsene, „Valerie and her Week of Wonders“, sein mag), trägt statt einer Kappe einen Umhang von roter Farbe und wird nicht bloß von irgendeinem Raubtier, sondern – um den Wolf im Mann noch mehr zu verdeutlichen – von einem Werwolf bedroht. Einem Menschen aus der Mitte ihres Dorfes also, der sich in ‚Blutmond‘-Nächten in ein übernatürliches Monstrum verwandelt und junge Frauen (auf)reißt. Der überwiegende Teil des Films ist als bloßes „Whodunit“-Rätselspiel angelegt, das falsche Fährten legt und am Ende erwartungsgemäß einen unerwarteten Täter aus dem Hut zaubert. Ob der Zuschauer sich sonderlich dafür interessiert, wer nun die Bestie ist, hängt unter anderem davon ab, inwieweit man einen Film ernst zu nehmen bereit ist, der einen zwei mal vier Meter großen (!), quasi fliegenden (!!) und auch noch sprechenden (!!!) Wolf präsentiert.

Nicht, dass der Film vorher von besseren Entscheidungen gekennzeichnet gewesen wäre. Ganz zu Beginn gleiten wir über immense Wälder hinweg in ein mittelalterliches Dorf, das sicher authentisch aussähe, wenn es nicht zur einen Hälfte animiert und zur anderen Hälfte mit extrem unnatürlichem Licht und großzügigem Weichzeichner-Einsatz im sterilen Studio aufgenommen worden wäre. Das Dorf ist umringt von Bäumen mit erigierten Stacheln, denen Valerie mit ihrem signalfarbenen Umhang ausweichen muss, wenn sie sich in den tiefen dunklen Wald begibt. Amanda Seyfrieds Leistung als Valerie besteht hauptsächlich darin, volle Lippen, ein schneeweißes Gesicht, langes goldenes Haar und große Augen zu haben. Verliebt ist sie in Peter (Shiloh Fernandez), der auch im Mittelalter stets Haargel zu finden scheint, heiraten aber soll sie auf Vermittlung der Mutter den wohlhabenden Handwerkersohn Henry (Max Irons).

Die Dorfgemeinschaft gerät in große Unruhe, als der eintreffende Priester und Werwolfjäger Vater Solomon (Gary Oldman) ihnen eröffnet, dass der von den Männern erlegte Wolf keineswegs der gesuchte Mörder war. Der jähzornige Geistliche, der zum Leidwesen des Publikums ausschließlich über Schreien kommuniziert, zieht mit seinem Hofstaat (afrikanische Wachmänner und eine völlig sinnfreie Elefantenstatue) in das Dorf ein und errichtet ein von heiligem Eifer angetriebenes Inquisitionsregime. Dass er überdies zwei als vollkommen legitim dargestellte Kinder hat, obwohl das in der dargestellten Epoche vor dem christlichen Schisma kaum möglich war, und den Bewohnern das kopernikanische Weltbild erklärt, das sich aufgrund der vehementen Unterdrückung durch die Kirche erst ab dem 17. Jahrhundert durchzusetzen begann, offenbart die mangelnde Recherche-Sorgfalt des Filmteams. Ähnliche logische Löcher zeigen sich, wenn im vom Schnee eingehüllten Dorf die Laubbäume blühen und die Menschen leicht bekleidet umher laufen.

„Red Riding Hood“ ist zwar atmosphärisch nicht zum Fürchten geeignet, dafür aber ansonsten ziemlich fürchterlich. Die Vampire aus „Twilight“ hat man hier einfach mit dem mythologisch eng verwandten Werwolf ersetzt. Der Film bedient die romantischen Vorstellungen pubertär verunsicherter Mädchen und nimmt dabei den harmlosesten aller Wege – kein Blut, kein Sex –, um nur ja niemanden zu vergraulen. Erst kurz vor Schluss erinnert sich  Catherine Hardwicke der Grimm`schen Vorlage und flicht einige wenige Basis-Elemente des Märchens behelfsmäßig in den Plot ein. Das wirkt ebenso hölzern wie wenn der schließlich als Werwolf enttarnte Dorfbewohner dem Publikum seine Handlungen und Motive minutenlang bis ins Kleinste erläutert, um den Zuschauer nicht zum eigenständigen Denken zu nötigen. Das Ende wartet schließlich mit einer Szene auf, die – wie schon so mancher vorherige Augenblick während der 100 Minuten Laufzeit – vor unfreiwilliger Komik nur so strotzt, gerade weil sich der Film dabei selbst ernst nimmt.

Neben der erwartungsgemäß konservativen Haltung zu Fragen der Sexualität, kristallisiert sich in „Red Riding Hood“ immer wieder das Motiv des Opfers heraus. Mehrfach sehen wir Lebewesen, die von der Dorfgemeinschaft in rituellen Schutzhandlungen geopfert werden, um den Wolf (oder Gott) zu besänftigen. Im Rahmen der vom Film aufgenommenen christlichen Mythologie ist jedoch der Topos der Selbstaufopferung, wie sie Jesus vollzog, noch bedeutsamer. Wie schon in „Twilight“ geht es darum, sich zugunsten des Partners aufzuopfern, auf die Befriedigung der eigenen sexuellen Begierde („Ich könnte dich auffressen!“) aus Rücksicht auf den Anderen zu verzichten. Die Ethik der christlichen Rechten spricht an dieser Stelle ihr zentrales, aber letztlich nicht zu verwirklichendes Gebot aus, den inneren Wolf, den natürlichen Sexualdrang zu überwinden. Aus Freuds psychologischer und nicht zufällig auch religionskritischer Lehre weiß man, dass solch religiös motivierte Unterdrückung der eigenen Sexualität über das notwendige Scheitern zum Selbsthass und zu schweren seelischen Komplexen führen kann.

„Moral: Hier sieht man, dass ein jedes Kind / und dass die kleinen Mädchen (die schon gar / so hübsch und fein, so wunderbar) / sehr übel tun, wenn sie vertrauensselig sind, / und dass es nicht erstaunlich ist, / wenn dann ein Wolf so viele frisst. / Ich sag: Ein Wolf, denn alle Wölfe haben / beileibe nicht die gleiche Art. / Da gibt es welche, die ganz zart, / ganz freundlich leise, ohne Böses je zu sagen / gefällig, mild, mit artigem Betragen / die jungen Damen scharf ins Auge fassen / und ihnen folgen in die Häuser durch die Gassen. / Doch ach, ein jeder weiß, / gerade sie, die zärtlich werben, / gerade diese Wölfe locken ins Verderben“
(Charles Perrault, 1628-1703.
In Perraults Version von „Rotkäppchen“ gibt es kein Happy End – stattdessen wird Rotkäppchen als gerechte Strafe für ihr ungehorsames Verhalten vom Wolf verschlungen.)

Red Riding Hood
(USA, CAN 2011)
Regie: Catherine Hardwicke; Drehbuch: David Johnson; Kamera: Mandy Walker; Schnitt: Nancy Richardson, Julia Wong; Musik: Alex Heffes, Brian Reitzell; Darsteller: Amanda Seyfried, Shiloh Fernandez, Max Irons, Billy Burke, Gary Oldman, Julie Christie, Lukas Haas;
Länge: 100 Min.
Verleih: Warner Bros.
Kinostart: 21.04.2011

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