Zwei Punkte, eine Linie

Grell sind die Farben, grell wie im Giallo. Grell ist auch die Märchenwelt, in die Saverio Costanzos ebenso stilistisch beeindruckender wie emotional berührender Film „Die Einsamkeit der Primzahlen“ („La solitudine dei numeri primi“) den Zuschauer gleich zu Beginn versetzt. In der Grundschule wird ein Theaterstück gespielt. Zu sehen ist ein düsterer, verwunschener Wald, in dem eine Prinzessin und ein Monstrum schlafen, dargestellt von zwei in groteske Kostüme gehüllten Kindern. Die Szenerie wirkt unheimlich, doch die Kleinen spielen brav ihre einstudierten Rollen – bis Michela (Giorgia Pizzio) die Bühne betritt. Ihre Augen sind vor Angst geweitet, aus ihrem Rücken sprießen Äste, ihren Kopf ziert ein Vogelnest. Michela schreit und schreit und kann gar nicht mehr aufhören zu schreien. Das Stück muss abgebrochen werden, die Illusion der Aufführung zerbricht – und mit ihr die Illusion der Kindheit als Zeit des Glücks. Im Drama „Die Einsamkeit der Primzahlen“ dräut immer wieder subtil verstörende Musik über den Bildern und nimmt damit das Schauermärchenhafte vorweg, das der Kindheit von Michelas Bruder Mattia (hier: Tommaso Neri) und der gleichaltrigen Alice (hier: Martina Albano) innewohnt.

Saverio Costanzo verwebt in seinem komplexen Film je vier zeitliche Ebenen aus zwei Leben miteinander. Indem er meisterhaft mit diesen acht Ebenen jongliert, sie dabei über lange Phasen parallel schneidet, deutet er das unsichtbare Band an, das seit jungen Jahren zwischen Mattia und Alice besteht. Beide sind einzelgängerische Außenseiter, beide erfahren Leben als kontinuierliches Leiden, beide haben in ihrer Kindheit ein Trauma erlitten, das sie dauerhaft zeichnen wird, auch physisch. Alices psychische Wunden manifestieren sich in einem humpelnden Gang, Mattias Körper ist von Selbstverstümmelungsnarben übersät. In einer 30 Minuten langen, atmosphärisch unwahrscheinlich dichten Parallelmontage zeigt Costanzo den Ursprung dieser Stigmata. Der kleine Mattia, der sich für seine geistig behinderte Schwester schämt, lädt eine schwere Schuld auf sich, als er ihr endgültiges Verschwinden verursacht. Alice, in der er die Reinkarnation seiner Schwester erkennen wird, leidet unter einer distanzierten Mutter und einem tyrannischen Vater, der im Nebel einer Skifahrt seine Tochter physisch und emotional verliert. Immer wieder trennt der Film dabei Bild und Ton und spiegelt mit träumerisch losgelösten Melodien die zunehmende Entfremdung der Figuren von der sie umgebenden sozialen Realität wider.

Zur Schulzeit begegnen sich die beiden verlorenen Seelen erstmals, unmittelbar entsteht eine unlösbare affektive Verbindung, die der Film dann über die Studienzeit bis in die Welt der Erwachsenen verfolgt. Was sich durch alle vier Zeitebenen zieht, ist das Motiv der Leiderfahrung. In der Schule wird die introvertierte Alice (hier: Arianna Nastro) gemobbt und von ihren Klassenkameradinnen gedemütigt, während der intellektuelle, aber sozial ungeschickte Mattia (hier: Vittorio Lomartire) heimlich mit anhört, wie seine Mutter (Isabella Rossellini) sich von ihm abgestoßen fühlt. Während des Studiums ist aus den Beiden endlich ein (heimliches) Paar geworden, kurz darauf werden die Zwei (ab hier Luca Marinelli als Mattia und die mehrfach für ihre Leistung prämierte Alba Rohrwacher als Alice) jedoch vom Schicksal schon wieder getrennt. Als Erwachsener findet sich Mattia erfolgreich, aber vereinsamt in Deutschland wieder, während Alice nach einer gescheiterten Ehe magersüchtig wird und ihr Körper sich voller physischem und psychischem Schmerz windet.

Neben dem fesselnden, achronologisch erzählten Plot fasziniert „Die Einsamkeit der Primzahlen“ vor allem mit seiner bedrückenden Atmosphäre und den surrealistischen Stilisierungen, die einen geradezu hypnotischen Sog entwickeln. Am brillantesten ist dabei vielleicht eine Wanderung, bei der Alice durch einen Hausflur und einen Wald läuft, plötzlich mitten in die Kindheit Mattias‘ gerät und jenen Moment miterlebt, als sich nach dem Verschwinden seiner Schwester ein dunkler Schatten über seine Familie legt. Selten wurden diskontinuierliche reale Räume eleganter in einem einzigen psychischen Raum vereint.

Auffällig häufig situiert Costanzo seine Protagonisten in den Kontext eines Festes. In diesen Umgebungen der Zusammenkunft und Freude wirken seine Figuren umso einsamer und trauriger, weil sich die unsichtbare Trennwand zwischen ihnen und den fröhlich Feiernden nicht einreißen lässt. Auf einem Kindergeburtstag mit Kostümpflicht jagt ein diabolisch geschminkter Clown dem jungen Mattia Angst ein, statt ihn zu erheitern. In einer ausgedehnten Partyszene hüpfen Lichtpunkte vergnügt auf der jugendlichen Alice herum, die von ihrer einzigen Freundin verraten und von ihrem Schwarm zurückgewiesen wird. Und auf einer Hochzeit tanzen Mattia und Alice miteinander, bleiben aber dennoch einsam, weil sie sich dabei nicht berühren.

Dieses Motiv – die Einsamkeit der Zweisamkeit, das Füreinander-bestimmt-sein-und-doch-nicht-zueinander-Kommen – führt denn auch zum titelgebenden Phänomen der Primzahlen, die einzigartig, aber eben auch allein sind, weil sie außer durch sich selbst und die Eins durch keine andere Zahl geteilt werden können. In der Buchvorlage führt der Autor und studierte Physiker Paolo Giordano, der gemeinsam mit dem Regisseur auch das Drehbuch zum Film verfasst hat, weiter aus, dass es Paare von Primzahlen gäbe. Paare wie die 11 und die 13 oder die 17 und 19, die sich ganz in der Nähe von einander befinden und doch ewig getrennt bleiben werden.

Am Schluss scheint es, als habe sich Costanzo mit seiner filmischen Repräsentation zweier menschlicher Primzahlen in eine Ecke manövriert, aus der er nur mit einem kitschigen Happy End oder einer niederschmetternden Tragödie heraus finden kann. Doch dieser wunderbare Film findet auch hierfür einen Ausweg, wenn er sowohl auf eine spektakuläre Lösung verzichtet als auch die Erwartungen des mitfühlenden und mithoffenden Zuschauers auf eine glückliche (aber eben unglaubwürdige) Fügung unterläuft. Stattdessen schließt „Die Einsamkeit der Primzahlen“ mit würdevoller Stille und sanfter Reduziertheit.

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Die Einsamkeit der Primzahlen
(La solitudine dei numeri primi, Italien/Deutschland/Frankreich 2010)
Regie:
Saverio Costanzo; Drehbuch: Paolo Giordano, Saverio Costanzo, Filippo Timi; Kamera: Fabio Cianchetti; Schnitt: Francesca Calvelli; Musik: Mike Patton;
Darsteller:
Alba Rohrwacher, Luca Marinelli, Vittorio Lomartire, Arianna Nastro, Tommaso Neri, Martina Albano, Giorgia Pizzio, Isabella Rossellini, Aurora Ruffino
Länge: 118 Minuten
Verleih:
NFP
Kinostart: 11.08.2011

 

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