L.A., offene Stadt

„Just wrap your legs round these velvet rims / And strap your hands across my engines.” (Bruce Springsteen)

Das Automobil zählt zweifelsohne zu den bedeutendsten Fetischobjekten des Kinos. Seine Faszinationskraft lässt sich nicht bloß thematisch begründen: viel eher ist von einer strukturellen Anziehung zwischen ihm und dem kinematographischen Apparat auszugehen. Die Bewegung: der Filmstreifen, die Fahrbahnmarkierung. Der glattglänzende Lack der Oberfläche, das Grob-Motorische, Zerklüftete unter dem Lack, und schließlich: der destruktive Akt, die Verformung der Oberfläche, die Offenlegung letztlich des versteckten Maschinellen – alles erotische Momente, nachzuschlagen etwa bei Ballard/Cronenberg. Die Bewegung: das Grundfaszinosum des Kinos. Allein im Dunkel sitzen und gebannt werden – nicht von Erzählung, sondern von Bewegung. Der Traum vom Kino: von einem Leben ohne Stillstand, immer on the road und on the run. Die Objekte des Bildes, von der Photographie noch in Ewigkeit eingefroren, werden vom Filmprojektor  stetig vorangepeitscht. Wo sie selbst stillstehen mögen, wird die Welt um sie herum in Bewegung gesetzt. „Aber nicht mehr die Figuren reagieren auf die optisch-akustischen Situationen, sondern die Bewegung der Welt tritt an die Stelle der zurücktretenden Bewegung der Figur.“ (Gilles Deleuze) Weil es auf eine grundlegende Sehnsucht des modernen Menschen zu antworten weiß – die Sehnsucht, es möge immer irgendeine Richtung geben, in die es weiterzugehen gilt –, muss die Beziehung des Menschen zum Kino als eine amour fou betrachtet werden.

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The Legend of Su

Die Geschichte des Bettlers Su, der als großer Wushu-Meister nach der Ermordung seiner Frau dem Wahnsinn verfällt, aus der Irrationalität seines vernebelten Geistes heraus jedoch den „Drunken Fist“-Stil entwickelt und somit die Welt der Kampfkunst revolutioniert, zählt zu den klassischen Stoffen der chinesischen Kung-Fu-Folklore und wurde bereits mehrfach auf die Kinoleinwände gebracht, in Gestalt von großen Stars wie Chow Yun-Fat, Donnie Yen oder Stephen Chow. Auch Regisseur Yuen Woo-Ping, der 1978 mit dem Klassiker „Drunken Master“ schon einmal eine komödiantische Variation auf den Stoff vorlegte und damit einem jungen Kampfkünstler namens Jackie Chan zum Durchbruch verhalf, versucht sich nun mit „True Legend“ erneut an einer kinematographischen Umsetzung der Legende. Für den großen Choreographen bedeutet dies die Rückkehr auf den Regisseursstuhl nach 14 Jahren, und die allzu oft auf Sparflamme gesetzten Anhänger des Martial-Arts-Kinos erkoren „True Legend“ sehr bald zum großen Hoffnungsträger des chinesischen Kinojahres. Löst der Film, der sich zudem noch mit dem Titel des ersten chinesischen Digital-3D-Films schmücken kann, diese hochgesteckten Hoffnungen aber auch tatsächlich ein?

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Mein Leben als Kriegsgott

Das also ist es, was der Krieg vom Menschen übrig lässt. Nach seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg bleibt vom hochdekorierten Offizier Kurokawa nur ein arm- und beinamputiertes, sabberndes, entstelltes und zur Artikulation kaum fähiges Stück Mensch zurück, mit ein paar salbungsvollen Worten und einer Urkunde, die ihn zum „Kriegsgott“ erklärt, bei seiner entsetzten Familie abgeladen. Nachdem sie den ersten Ansatz, ihren Gatten (und vor allem: sich selbst) von seinem Leid zu erlösen, verwirft, beschließt Kurokawas Ehefrau Shigeko, sich fortan um das hilflose Wrack zu kümmern. Sie findet ihren Mann dabei zurückgeworfen auf seine nackte Körperlichkeit: Schlafen, Essen, Pissen, Ficken. Mehr bleibt nicht von Kurokawa, nachdem er vom Krieg vereinnahmt, gefressen, kastriert wurde. Letzteres freilich, darin liegt die böseste Pointe hier, nur symbolisch, an Armen, Beinen und Handlungsmacht. Der Penis bleibt, ebenso wie der bloße Trieb, und der Mensch in der Welt von Kôji Wakamatsu findet sich radikal darauf reduziert.
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Enter Metalopolis

Die nahe Zukunft: das Internet und seine virtuelle Community OZ sind zur veritablen Parallelgesellschaft geworden. Unternehmen betreiben Zweigstellen im Digitaluniversum, Geschäfte werden dort getätigt, Behörden verwaltet – der Cyberspace ist untrennbar mit der Außenwelt verzahnt. Ein klassisches Szenario des jüngeren Science-Fiction-Kinos, das man jedoch so, wie es Mamoru Hosoda in seinem Anime „Summer Wars“ umsetzt, noch nie gesehen hat.

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„Wir sind hier alle Zeitbomben.“

„Deine Frau ist potthässlich, deine Kinder verachten dich, dein Haus ist eine Müllhalde und du hasst dein Leben!“ – „So ein Leben führen die meisten Menschen …“

Dieser Dialog zwischen dem abgewrackten Polizisten Schneider (Daniel Auteuil) und seinem etwas weniger verkommenen Partner bringt den finsteren Tonfall von Olivier Marchals „MR73“ auf einen nachdrücklichen Punkt. Bereits die ersten Minuten stellen klar, dass Schneider ganz unten angekommen ist. Stockbetrunken und mit vorgehaltener Dienstwaffe nimmt er da einen ganzen Linienbus zur Geisel und zwingt den Fahrer, ihn nach Haus zu fahren. Der Vorfall wird vertuscht, als Schneider mit vollgepisster Hose in der Ausnüchterungszelle zu sich kommt, doch zur Strafe wird dieser offensichtliche Antiheld versetzt. An den Beschwerdetisch, in die Nachtschicht. Wie könnte man einen Polizisten noch stärker demütigen?
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Survival of the Undead

Manchmal bemerkt man eine jahrelang klaffende Lücke erst dann, wenn sie plötzlich unerwartet gefüllt wird. Dass es zum Beispiel im deutschsprachigen Raum bis heute keine Monographie zu George A. Romero gab, der dem amerikanischen Kino mit „Night of the Living Dead“ und „Dawn of the Dead“ zwei seiner ganz großen Meisterwerke schenkte, das mutet eigentlich kaum glaublich an und dürfte wohl in erster Linie der schwierigen Zensurgeschichte zumindest des letzteren Films geschuldet sein. Der umfassenden Wiederentdeckung nicht nur durch die Splatterfanbasis, sondern auch von Seiten der Filmwissenschaft standen die Probleme mit Verfügbarkeit, Kürzungen, Verboten und vergleichbaren Hindernissen jedoch nicht im Weg, sodass Romeros Ästhetik und Gesellschaftsanalyse im Grunde seit gut einer Dekade zum filmanalytischen Grundwissen zählen dürften.
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Steven Seagal. Hard to Kill, oder: Die Würde des alternden Actionhelden

„Das Kino ist eine dramatische Kunst; die Welt organisiert sich hier Kräften gemäß, die in Konfrontation stehen; alles hier ist Duell und Konflikt; aber ohne jeden Zweifel findet es seine Erfüllung in seiner eigenen Negation: in der Kontemplation“, schreibt Jacques Rivette, und das nach schier endloser Zeit der Irrelevanz seit einigen Jahren wieder quicklebendige amerikanische B-Movie funktioniert vielleicht vor allem deshalb so hervorragend, weil seine alternden Heroen erkannt haben, dass in den Genres der cineastischen Bewegungspoesie mehr Bewegung nicht zwangsläufig auch mehr Poesie bedeutet.

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Durch Schlamm und die Hölle erlöst.

F.LM: Expliziter Sex, Sodomie, Vergewaltigung, Mord, Snuff – Ihr Film „The Life and Death of a Porno Gang“ (Zivot i smrt porno bande, Serbien 2009) behandelt eine Menge kontroverser Themen. Gleichzeitig scheint er in jedem Moment von einer sehr konkreten, dunklen Realität zu erzählen.

Mladen Djordjevic: Der Film ist sozial und politisch in den Kontext des heutigen Serbiens eingebunden. Die Nachwirkungen der Kriege auf mich sind evident: Ich bin in einer Gegend aufgewachsen, in der es normal war, die Gräueltaten des Krieges unzensiert im Fernsehen zu sehen. Dies ist ein Film über den Kampf zwischen Eros und Thanatos. Dieser Kampf ist grade innerhalb des Balkans interessant, wo es oft der Tod ist, der gewinnt. Für mich ist diese Dunkelheit nicht abstoßend, sie ist attraktiv. Ich mag diese gefallenen Charaktere und Outsider, daher hat dieser Film auch kein zu starkes Lokalkolorit. Außenseiter werden in jedem System ziemlich ähnlich behandelt. Meine Charaktere sind Ausgestoßene, und das sind sie unabhängig vom jeweiligen politischen System. Der Film geht außerdem auf ein beliebtes Thema hier in Serbien ein – dem Aufeinanderprallen des urbanen und ländlichen Serbiens. Ich habe gezeigt, dass die Grenzen zwischen den beiden unscharf sind und nicht existieren. Ich wollte keinen Schwarz-Weiß-Film machen, keine Partei ergreifen.
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Eher kleines Licht

„Die Geschichte des Filmlichts ist die Geschichte des Films“ – so vollmundig und natürlich vollkommen korrekt konstatiert Richard Blank im Untertitel seines jüngst im Alexander-Verlag erschienenen Bandes „Film & Licht“ und verspricht somit, jene Geschichte des Filmlichts darin auch zu erzählen, zumindest aber anzureißen. Ebendies stellt ja im Grunde längst ein Desiderat der Filmwissenschaft dar, handelt es sich doch im Falle des Lichts nicht nur um ein entscheidendes Element des Kinobildes, sondern um nichts weniger als dessen Urmoment. Somit ist es also in jedem Fall begrüßenswert, dass diese Publikation die Frage des Filmlichts ins Bewusstsein der cineastischen Öffentlichkeit rückt. Leider ist das aber auch schon das einzig Positive, das man über Blanks Buch sagen kann.

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Serbien, postapokalyptisch

Marko ist ein junger, ambitionierter Filmschüler und will eigentlich Kunstfilme machen. Nicht als gefälliges Arthousekino, sondern in Horror- und Science-Fiction-Stoffe verpackt die nationalen Mythologien Serbiens erkundend. Natürlich findet er für seine ehrgeizigen Projekte keine Finanziers, und so nimmt er, was er bekommen kann: zunächst einmal das Geld des schmierigen Pornoproduzenten Cane. Damit inszeniert er einen surreal-prätentiösen Kunstpornofilm, der bei seinem Auftraggeber und dessen Kompagnon, einem skrupellosen Polizisten, auf wenig Begeisterung stößt. Marko wird gefeuert, bedroht und schließlich brutal zusammengeschlagen. Darauf entschließt er sich zu einem Medienwechsel und begründet das erste serbische Porno-Theater. Noch während der Premiere von der Polizei zerschlagen, entschließt sich die bunte Truppe um Marko herum schließlich, auf Tournee durch die Dörfer des ländlichen Serbiens zu gehen.

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Mehr Licht!

„Sit back and enjoy in total darkness“, diese Gebrauchsanweisung gibt Khavn de la Cruz, Multimediakünstler, Wunderkind und Filmemacher von den Philippinen, zum Auftakt seines Films „3 Days of Darkness“ mit auf den Weg. Dies ist ja ohnehin zum angemessenen Konsum von Horrorkino stets anzuraten, hier allerdings ist es unabdinglich, geht doch Khavn in seiner filmischen Bearbeitung der Urangst vor der Dunkelheit wohl weiter als jeder Filmemacher zuvor. Dabei fängt erst alles so abstrakt, so farbgesättigt und stilllebenhaft an, dass man sich für einen Augenblick in einem der enigmatischen Filme des Thailänders Apichatpong Weerasethakul wähnt: Die ersten Bilder von „3 Days of Darkness“ zeigen menschenleere Räume, in statischen Kameraeinstellungen streng kadriert. Und Fenster. Durch sie drängt sich gleißendes Licht in die leblosen Arrangements hinein, und doch scheint dieses nur die dunklen Ecken, die schattigen Winkel dieser Räume und dieser Bilder umso mehr zu betonen. Das Gleiche gilt für die Darsteller: Zwar wandeln sie anfangs noch im Licht, in der brennenden Sonne von Manila, doch ist dieses stets nur im Kontrast zu den schon immer von tiefen Schatten gefurchten Gesichtern zu denken. Dieser Film strebt von Beginn an dem Dunkel zu.
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Die Geister der Ghettos

Matt sieht tote Menschen. Seit sein jüngerer Bruder Tom spurlos verschwand, wird er von Schuldgefühlen geplagt und (vielleicht) auch vom Geist des Jungen verfolgt. Ganz schuldlos ist Matt am vermuteten Tod seines Bruders nämlich nicht, hing er doch saufend und kiffend mit seinen Freunden herum, statt sich wie vorgesehen um das Kind zu kümmern. Die Erzählung von Johnny Kevorkians Geisterfilm „The Disappeared“ setzt erst einige Zeit später ein, als Matt nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nach Hause zurückkehrt und sich dort mit seinem zur Gewalttätigkeit neigenden Alkoholiker-Vater und der schmerzhaft klaffenden Lücke der Ungewissheit, die das Verschwinden Toms gerissen hat, auseinandersetzen muss. Von Erscheinungen und Stimmen verfolgt und mit der Hilfe des offenbar selbst mit familiärer Gewalt konfrontierten Nachbarmädchens Amy dringt Matt immer tiefer in die Geschehnisse der Vergangenheit vor und kommt allmählich der Wahrheit näher – doch welche dunklen Geheimnisse birgt diese? Steckt der Vater selbst hinter dem Verschwinden des Jungen? Oder war es gar der offensichtlich verwirrte Matt selbst, der Schuld trägt am Tod des Kindes?

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In 14 Filmen um die Welt. Ein Reisebericht

Bereits zum vierten Mal fand in diesem Jahr das Filmfestival „Around the World in 14 Films“ im Berliner Kino Babylon Mitte statt, und erneut hat es sich zum Ziel gesetzt, dem hauptstädtischen Publikum einen jedenfalls kurzen Einblick in all jenes zu bieten, was ihm den Rest des Jahres über in cineastischer Hinsicht so vorenthalten wird. 14 Filme aus 14 Ländern, plus drei Special Screenings, alle Filme auf internationalen Festivals gezeigt und meist auch prämiert, und alle noch ohne deutschen Verleih. Da bereits in den letzten Jahren durchaus einige Filme präsentiert wurden, bei denen sich diese missliche Situation im Anschluss an das Festival noch änderte, bleibt zu hoffen, dass jedenfalls die eine oder andere der von Festivalleiter Bernhard Karl zusammengeklaubten Perlen noch einem größeren Kinopublikum vorgestellt werden wird. Tatsächlich erwies sich das diesjährige Programm als reich an Kleinodien. Das Spektrum reichte dabei von bedeutenden neuen Arbeiten längst etablierter Filmemacher bis hin zu überraschenden Werken von Regiedebütanten, von formalen und narrativen Experimenten bis zu in klassischen Strukturen funktionierenden Independentfilmen.

Zu den letzteren ist etwa die neue Arbeit des hoch- und höchstgelobten US-amerikanischen Filmemachers Ramin Bahrani zu zählen, der in „Goodbye Solo“ zwei höchst unterschiedliche Männer aufeinander treffen lässt: Der senegalesische Taxifahrer Solo lebt in zwar prekären Verhältnissen, aber doch mit unerschütterlich guter Laune seine Version des amerikanischen Traums, während der suizidale William scheinbar bereits mit dem Leben, den Träumen und der Hoffnung auf Erlösung abgeschlossen hat. Der Zufall verschlägt William in Solos Taxi, und fortan werden die beiden Männer ein Stück Weges gemeinsam gehen. Ein solcher Stoff bietet natürlich allerlei offenkundige Vorlagen für ödes Kunsthandwerk; umso schöner, dass Regisseur Bahrani in kaum eine dieser Fallen hineintappt. Stattdessen gelingt es ihm, eine ganz eigene und eigenwillige Poesie zu kreieren, die seinen Film bis zum fast surreal wirkenden Finale zu tragen durchaus imstande ist. Zwar rechtfertigt er damit noch kaum die Lorbeeren, die ihm von allerlei amerikanischen Kritikern bereits umgehangen wurden – insbesondere der unvermeidliche Roger Ebert sah in Bahrani bereits einen neuen großen Regisseur in den Fußstapfen eines Scorsese –, eine beachtenswerte neue Stimme im gegenwärtig florierenden US-Independentkino stellt Bahrani in jedem Fall dar.

Freilich hatte das Festivalprogramm nicht nur solche gelungenen, aber weitestgehend konventionellen Erzählentwürfe zu bieten. Bereits im Hinblick auf die Filmlänge fiel etwa „Historias extraordinarias“ des argentinischen Filmemachers Mariano Llinás aus dem Rahmen: Geschlagene 252 Minuten an den Kinosessel zu fesseln nahm sich dieser Regiedebütant nämlich vor, und wählte dafür ein Sujet – oder besser: eine Reihe von Sujets – irgendwo zwischen dem magischen Realismus eines Marquez oder den labyrinthischen Verschwörungsfabeln eines Pynchon oder auch Borges. Diese literarischen Bezugspunkte scheinen hier gar ausnahmsweise einmal ganz und gar angemessen, lehnt sich doch Llinás’ Filmsprache recht weit einer literarischen Erzählweise entgegen. Nahezu ohne (hörbare) Dialoge kommt er über vier Stunden lang aus, alles intradiegetisch Gesprochene wird durch einen atemlosen, beinahe omnipräsenten Erzählerkommentar übertönt. Das mag man für ein interessantes Experiment halten oder auch für eine eher unfilmische, in ihrem vorgeschobenen Willen zur Kunst angestrengte Verfahrensweise; in jedem Fall fällt es in Bezug auf Laufzeit und ästhetische Konzeption weit aus dem Rahmen dessen, was man für gewöhnlich im Kino zu sehen bekommt. Das allein macht es bereits erwähnens- und zeigenswert.

Noch weiter von der Grammatik des kommerziellen Kinos entfernt sich der große iranische Regisseur Abbas Kiarostami in seinem jüngsten Film „Shirin“. In diesem cineastischen Experiment wendet er den Kino-Blick herum und lässt ihn auf die Zuschauer fallen. Die Zuschauer seines Filmes blicken in einen Kinosaal hinein, auf ein anderes Publikum, das einen anderen (?) Film sieht. Dieser (ungedrehte) Film erzählt die tragische Liebesgeschichte der Prinzessin Shirin, eine Art persisches Nationalepos, und indem Kiarostami uns zum Soundtrack dieser Erzählung die Gesichter von 112 iranischen Schauspielerinnen (plus Juliette Binoche) zeigt, die gebannt in Richtung Leinwand und somit wieder auf uns, ihr Publikum, schauen, gelingt ihm gleich zweierlei. Zum Einen ist „Shirin“ zu deuten als eine Meditation über das Kino, über die Filmkunst und das, was sie mit uns macht – und zum Anderen drängt sich auch eine Lesart als böse Parodie auf. Jene einstmals systemkritischen Filmemacher, die sich durch die Inszenierung pompöser Nationalepen zu Visitenkarten ihrer oft repressiven Systeme machen – der Chinese Jia Zhang-ke wird der nächste sein – kommen unweigerlich in den Sinn, wenn Kiarostami seine Darstellerin zum schwelgerischen Kitsch der hier verweigerten Bilder Tränen verdrücken lässt. Ein mutiger, ambivalenter, vielschichtiger, beachtlicher Film, und sicher eines der Highlights des Festivalprogramms.

Im Gestus der Bilderverweigerung durchaus verwandt, aber doch sehr viel brachialer brannte sich „Kinatay“, der neue Film des philippinischen Regisseurs Brillante Mendoza und ein weiterer Höhepunkt des Festivals, in die Erinnerung seines Publikums ein. Dabei setzt auch Mendoza über weite Strecken eher auf das Nichtnarrative und das Nichtgezeigte – was er dann aber doch zeigt, das genügte immerhin zum kleinen Skandalfilm des diesjährigen Cannes-Festivals. Die Klammer schließt sich hier wiederum bei Roger Ebert, der zu Protokoll gab, dies sei mit größter Sicherheit der schlechteste Film, der je in Cannes gezeigt wurde. Nun kann man dies freilich ja durchaus als ein Empfehlungsschreiben verstehen, und tatsächlich ist „Kinatay“ ein überaus nachdrückliches Stück Filmkunst. In einem naturalistisch anmutenden Gestus, vom anwesenden französischen Produzenten nicht ganz treffend als cinéma vérité definiert, folgt Mendoza einem jungen Polizisten auf einer Reise in die Nacht, sowie gleichzeitig aus dem urbanen Manila und dem vorgeblich zivilisierten Leben heraus. Um eine korrupte Polizeitruppe geht es dort, die eine drogensüchtige Prostituierte vergewaltigt, ermordet, zerstückelt – einfach so. Der junge Protagonist, dessen Hochzeit wir in der sonnendurchfluteten ersten halben Stunde noch beigewohnt haben, wird als Handlanger angeheuert und verfolgt fassungslos das sich ihm darbietende Grauen. Diesem Herzstück seines Films – die Folterung und Zerstückelung der hilflosen Frau – entzieht Mendoza durch den Aufbau von „Kinatay“ jeglichen Hauch des Reißerischen. Durch eine beinahe halbstündige, im Nachtdunkel versinkenden Autofahrt verpasst er der schrecklichen Tat eine Art Ouvertüre, ein hypnotisches Vorspiel, das einerseits die Atmosphäre bis ins Unerträgliche anreichert und andererseits jenen Teil des Publikums mit Anlauf vor den Kopf stößt, das sich vielleicht einzig vom reißerischen Titel – „Kinatay“ bedeutet soviel wie „abgeschlachtet“ – angezogen fühlt.

Als eines der zentralen Themen des ansonsten erfrischend eklektischen Festivalprogramms erwies sich also das des Bildentzugs. Was bleibt ansonsten noch zu sagen zum 2009er Jahrgang des Festivals „Around the World in 14 Films“? Auf jeden Fall noch, dass mit Kiyoshi Kurosawas „Tokyo Sonata“ und Mamoru Oshiis Anime „The Sky Crawlers“ zwei essenzielle Werke des jüngeren japanischen Kinos zu sehen waren – von zwei eigenwilligen und brillanten Filmemachern, deren reiches Schaffen in Deutschland noch immer unterrepräsentiert ist. Und dann abschließend, auf jeden Fall: dass dem Gedanken dieses Festivals – dem Kino jene aufregenden, innovativen, ungewöhnlichen Werke zurückzugeben, die ansonsten allzu oft nur noch in digitaler Form im Heimkino zugänglich sind – immer größere Bedeutung zukommt in einer Kinokultur, der zwischen Multiplexen und Arthousemainstream die Nischen zunehmend abhanden kommen.

Das Festival Around the World in 14 Films fand vom 27.11. – 05.12.2009 im Babylon Mitte Berlin statt.

Das Versprechen

Die Rettung der Filmkunst als soziales Erlebnis – mit keiner geringeren Erwartung ist der nun endlich erfolgte Kinostart von James Camerons 3D-Epos „Avatar“ verbunden. Der angesichts der immer avancierteren Heimkinotechnik und des zunehmenden Niederganges der Kinokultur ersehnte neue Mehrwert des Kinos gegenüber DVD/BluRay, digitalen Downloads und vereinsamtem Filmgenuss vor dem heimischen Flatscreen scheint endlich greifbar mit den neuen digitalen 3D-Projektionstechniken – die zum ersten Mal überhaupt auf eine qualitativ hochwertige Weise das Kinobild dreidimensional gestalteten. Bereits die ersten Filme, die in RealD auf den (deutschen) Kinoleinwänden zu sehen waren – der gediegene Animationsfilm „Monster und Aliens“ und Patrick Lussiers Slasherfilmremake „My Bloody Valentine“ – machten zumindest in manchen Momenten ein Versprechen, das sie selbst freilich noch nicht einlösen konnten. Das in die Tiefe geöffnete Filmbild, das sich eben nicht, wie so viele in der mangelhaften Rotgrüntechnik produzierte Streifen bis hin zu jüngsten Versuchen wie Robert Rodriguez’ „Spy Kids 3D: Game Over“, in den Huibuh-Wegduck-Effekten in der Tradition der thrill rides erschöpfte, wie man sie etwa aus Freizeitparks kennt, versprach dem Kino als Kunstform ganz buchstäblich neue Türen zu öffnen, die selbstverständlich auch grundlegend neue Formen filmischen Erzählens erforderlich machen würden.

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8½ Jahrzehnte Kino – eine Liebeserklärung

Schon mit dem Prolog kriegt er uns. Auf gerade einmal vier Seiten erzählt er da eine Geschichte zum vorangestellten Bild einer schönen Frau. Wie großes Kino ja überhaupt so oft vom Bild einer schönen Frau ausgeht. Godard sagte, für einen Film brauche man nicht mehr als ein Mädchen und einen Revolver. Und sein ewiger Antipode Truffaut war der Ansicht, Filme machen bedeute, schönen Frauen bei schönen Dingen zuzusehen. Dominik Graf und sein Herausgeber Michael Althen, der ein schönes Vorwort beisteuert, verstehen freilich, dass zur Schönheit etwas Weiteres hinzukommen muss: die Traurigkeit. Das Mädchen aus dem Bild ist noch nicht sehr traurig, eher hoffnungsfroh wartend; doch die Traurigkeit schwebt bereits über ihr, wird später umso brutaler zuschlagen. Das Mädchen stammt aus dem Film „L’Ainé des ferchaux“ von Jean-Pierre Melville, einem der allergrößten französischen Filmemacher überhaupt, und Dominik Graf erzählt nicht nur diese kurze Sequenz am Anfang dieses bestimmten Filmes nach. Gleichzeitig erzählt er davon, was das Kino mit uns machen kann.

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Both Ends Burning

„I could talk, talk, talk, talk, talk myself to death / But I believe I would only waste my breath, oh!“ (Re-make/Re-model) – Tatsächlich scheint es im Grunde müßig, noch einmal zu schreiben, dass Roxy Music zu den allergrößten Bands der Populärmusikgeschichte zu zählen sind. Nicht nur zu den großen Songwritern, sondern zu den Neuerfindern, den Visionären, denen, nach denen nichts mehr so war wie vorher. Notwendig scheint es nichtsdestotrotz, denn obgleich Popgeschichte inzwischen längst allgemein anerkannte Kulturgeschichte geworden ist und jeder bildungsbürgerliche Haushalt zumindest einen Grundsatzkanon von den unsäglichen blauroten Greatest-Hits-Doppelalben, die das Œuvre der Beatles vergewaltigen, bis hin zu, je nach Hipnessgrad, der letzten Platte von wahlweise Radiohead oder Coldplay im Schrank hat, scheinen die Großtaten von Roxy Music irgendwo auf dem Weg in den Popolymp ein wenig verloren gegangen zu sein. So gehören sie eher zu den Bands, die jeder irgendwie kennt – und sei es nur durch die Handvoll Gassenhauer, die noch heute in den Heavy Rotations jener Radiostationen vertreten sind, welche unermüdlich die Superhits der 70er, 80er, 90er und das Beste von Heute in der Dauerschleife zersenden –, die aber auch kaum noch jemand wirklich zu hören scheint. Vielleicht ist das auch das Beste, das ihnen passieren konnte.

more_than_thisSo nämlich zählt das acht Alben und zehn Jahre umfassende Werk von Roxy Music zu jenen Schätzen, die man nicht unter gefühlten achtzigtausend Durchgängen „Ob-la-di, ob-la-da“ durch bewusstes Albenstudium freilegen muss, sondern zu jenen, über die man noch über irgendeinen obskuren Umweg, ganz unvermittelt, stolpern kann. Zum Beispiel: „Beauty Queen“, vom famosen zweiten Album „For Your Pleasure“, dem großen Wurf vor dem Bruch mit Brian Eno. „Deep in the night / Plying very strange cargo / Our soul-ships pass by / Solo trips to the stars / In the sky“ – Bryan Ferrys Songs sind seltsame Bastarde, aus hemmungslosem, ironisch zugespitzem Kitsch, seltsam berührender Lyrik und atonalen Ausbrüchen. Das stetige Aus-der-Rolle-Fallen als künstlerisches Credo – Roxy Music waren im Grunde Punk, lang bevor Punk so genannt wurde, und sie haben Punk wohl auch sehr viel besser verstanden als all jene, die ihn später zum Genre gemacht und im Grunde damit bereits zu Grabe getragen haben.

Mit „The Story of Roxy Music: More Than This“ erscheint nun eine DVD mit einer Art Materialsammlung, die das Phänomen Roxy Music zu kontextualisieren und zu vermitteln sucht. Im Zentrum der DVD steht die titelgebende Dokumentation „More Than This … The Roxy Music Story“ von Bob Smeaton, die in knapp 52 Minuten die dekadenlange und recht ereignisreiche Karriere der Band nachzuvollziehen sucht – und dabei in nahezu jeder Hinsicht scheitert. Denn leider ist dies über weite Strecken nur eine von jenen Dokumentationen, bei denen man prominenten talking heads beim Versichern ihrer Begeisterung für Roxy Music zuhört. Die ersten Worte gehören ausgerechnet dem unvermeidlichen Bono und danach wird es kaum besser. Jedenfalls über die Gründung aus dem Geiste der Kunsthochschule heraus erfährt man noch einiges, über die großen Alben der Band, von „Roxy Music“ (1972) bis „Avalon“ (1982), huscht der Film regelrecht hinweg, auch das Erforschen der immer wieder eskalierenden Konflikte der Bandmitglieder, die früh zum Ausstieg Enos und auch später immer wieder zu Umbesetzungen führte, und der bis heute zu Unrecht unter kommerziellen Anbiederungsverdacht gestellten ästhetischen Entwicklungen in der Spätphase der Band bleibt geradezu schmerzhaft oberflächlich und elliptisch. Überhaupt, das Spätwerk: Hier hätte die Chance bestanden, einen historischen Irrtum zu korrigieren. Statt aber das viel gescholtene vorletzte Album „Flesh + Blood“ (1980), als Tiefpunkt der Banddiskographie diffamiert, endlich als das brillante Konzeptalbum zu würdigen, das es tatsächlich ist, sahen sich hier die Bandmitglieder offenbar buchstäblich zur Entschuldigung für ihr Meisterwerk genötigt.

Während nun also der Hauptfilm dieser DVD allerlei Desiderate übrig lässt, bringt das Bonusmaterial, das insgesamt noch einmal gut 40 Minuten Spielzeit ausmacht, jedenfalls teilweise etwas Erhellung. Einige längere Interviews, die es nicht in den Film geschafft haben, sind dort noch enthalten, die zumindest einige Aspekte dieser vielschichtigen Band ausführlicher beleuchten. Und dann gibt es abschließend noch etwas Musik zu hören, in Liveaufnahmen der frühen Songs „Do the Strand“ und „Editions of You“ (beide auf „For Your Pleasure“) sowie dem etwas späteren „Both Ends Burning“ (auf „Siren“ [1975]). Natürlich hätte man auch dies besser machen können, hätte man doch diesen ohnehin sehr spärlichen Aufnahmen, allesamt entstanden 2006 in London, nach der Bandreunion, zumindest ein paar Aufnahmen aus den 1970er- oder 1980er-Jahren an die Seite stellen können. So bleibt letzten Endes dann leider doch, sowohl in Bezug auf musikalischen wie informationellen Mehrwert, schlicht und einfach zu wenig. In every dream home a heartache …

The Story of Roxy Music: More Than This
(More Than This … The Roxy Music Story, UK 2008)
Regie: Bob Smeaton; Produktion: Martin R. Smith
Länge: ca. 52 Min.
Verleih: Eagle Vision

Zur DVD von Eagle Vision

Bild: 1,78:1 (anamorph)
Ton: Englisch (Dolby Digital 2.0)
Untertitel: Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch
Extras: Extended Interviews, 3 Musikclips: „Do the Strand“, „Editions of You“, „Both Ends Burning“ (Dock Rock London 2006, in Dolby Digital 5.1 & DTS)
FSK: ab 0 Jahren

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Die Nacht der Jägerin

Dieser Film beruht auf einer wahren Geschichte, heißt es im Vorspann, aber das ist wohl eher abstrakt gemeint. So wie auch dieser Film der Abstraktion zuneigt, verzichtet er doch auf alles vermeintlich überflüssige Beiwerk und geht fast direkt in medias res: Durch die Augen des zehnjährigen Jimmy hetzt er durch eine lange, mörderische Nacht irgendwo im Nirgendwo des sunshine state Florida. Tatsächlich scheint sich zunächst noch die Sonne brutal in die farbgesättigten Bilder einzubrennen, doch wähnt man sich atmosphärisch eher im Herz des Bible Belt. Scheunen, endlose Maisfelder, und einsame Häuser, inmitten des Nichts. Ein Ort, an dem sich dunkle Märchen noch ereignen können.

CradleWillFallEin solches bricht auch über Jimmy herein: der abwesende Vater, die mörderische Mutter. Mehr muss man nicht wissen über den Plot von „Baby Blues“ („Cradle Will Fall“), und viel mehr gibt es auch nicht nachzuerzählen. Jimmy und seine zwei jüngeren Geschwister, ihm vom Vater vor dessen Abreise explizit zum Schutze übergeben, versuchen der zur motivlos mordenden Irren gewandelten Mutter zu entkommen und aus dem Dunkel der Nacht irgendwie in den Rettung verheißenden Tag zu entfliehen. Nicht allen wird dies gelingen… „Lauf ruhig weg. Wir haben die ganze Nacht“, so ruft die böse Mutter einmal dem erneut entkommenen, schon übel zugerichteten Jimmy nach, und macht damit sehr klar, welcher Kampf hier im Grunde ausgefochten wird: nicht der einer prosaisch Wahnsinnigen gegen ihr auserkorenes Opfer, auch nicht bloß der der bösen Mutter gegen das auf schwärzeste Weise zu initiierende Kind. Im Grunde ist es der Kampf der Nacht gegen das Tageslicht, der Einbruch des Irrationalen, der Urangst, in das nur oberflächlich heile Leben in den ruralen USA. Gegen Ende des Films kehrt Jimmy nach einer Fluchtbewegung durch Maisfelder, Ställe und Scheunen, die ihn doch nur im Kreis geführt hat, in das Haus der Familie zurück, das sich inzwischen in ein blutiges Schlachtfeld verwandelt hat. Er betritt die nunmehr in Halbdunkel gehüllte Küche, um die am Nachmittag noch die Familie versammelt war, bis der Vater sie wieder allein ließ. Jimmy schaut sich einen Moment um, wie erstaunt, als sähe er diese Küche zum ersten Mal. Ein Kaffeebecher sagt „No.1 Mom“. Plötzlich bricht alles aus ihm heraus, er wirft den Tisch um, fegt das Geschirr von den Schränken, reißt die Schubladen heraus, verwüstet die gesamte Küche. Dann erst wird er erneut versuchen, mit dem alten CB-Funkgerät seines Vaters Hilfe zu rufen. Spätestens in dieser Sequenz wird evident: Es geht nicht nur um die Mutter, die zur Mörderin wird, hier wird – bis zum beunruhigenden Ende in bitterster Konsequenz – die Familie als Institution ins Visier genommen und zerschossen.

„Baby Blues“ ist deshalb ein so guter Film, weil er so konzentriert ist. Ein bisschen wie ein filetierter Stephen-King-Roman, eine Variation auch auf Charles Laughtons Überklassiker „The Night of the Hunter“ taucht er tief in eine Welt hinein, aus deren Mythen heraus sich der Kosmos Amerika, seine Ideologeme und Träume heraus überhaupt erst verstehen lassen. Die zum Schreckensbild verzerrten Familien, die rettungslose, unerlöste Weite des amerikanischen Nirgendwo, die endlos wogenden Maisfelder – das ist eindeutig King-Territorium, doch „Baby Blues“ lässt all das pompös Aufgeblasene, das dessen Werke oft so schwer lesbar macht, einfach weg. Nicht einmal 70 Minuten benötigt er, bis der Abspann zu laufen beginnt und nichts wieder gut ist.

Cradle Will Fall
(Baby Blues, USA 2008, Wenzel Storch)
Regie: Lars Jacobson, Amardeep Kaleka; Buch: Lars Jacobson; Musik: Michael Filimowicz; Kamera: Matthew MacCarthy; Schnitt: Amardeep Kaleka
Darsteller: Colleen Porch, Ridge Canipe, Holden Thomas Maynard, Kali Majors, Joel Bryant, Gene Whitham u.a.
Länge: 74 Min.
Verleih: MIG

Zur DVD von MIG

Die DVD ist im Hinblick auf die Bild- und Tonqualität absolut brauchbar ausgefallen. Die prägnante Farbdramaturgie kommt in einem sehr guten Bildtransfer voll zur Geltung. Die deutsche Synchronfassung ist eher unterdurchschnittlich ausgefallen, aber die Originaltonspur ist wuchtig im Sounddesign und sollte ohnehin vorgezogen werden. Als Bonusmaterial gibt es nur einen Trailer sowie, für diejenigen denen das wichtig ist, ein Wendecover.

Bild: 1,78:1 (anamorph)
Ton: Deutsch (Dolby Digital 5.1, Dolby Digital 2.0), Englisch (Dolby Digital 5.1)
Untertitel: Deutsch
Extras: Trailer, Wendecover
FSK: ab 16 Jahren

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Profondo giallo

Dario Argento ist im Grunde immer ein Märchenerzähler gewesen, und seine Filme dort am stärksten, wo sie am reinsten sind. Wo sie die Mimikry des Narrativen fallen lassen und sich ganz in das Zentrum der irrationalen Furcht, ins Delirium, in die Urangst hineinstürzen. Die Drei Bösen Mütter. Das Mädchen, das mit den Insekten spricht. Der dunkle Wald. Das fremde Land. Das Animalisch-Mörderische, die dunkle Sexualität, das Fallen, Gleiten, Flüchten in den Irrsinn. Seine großen Filme, etwa von „Profondo Rosso“ bis „Opera“, entziehen sich der Plotkritik, weil es ihnen offenkundig um etwas geht, das nicht erzählbar ist, das sich der Zähmung versperrt, die eine Anordnung zu einer schlüssigen Narration stets auch bedeutet. Stattdessen sind sie als Ausdrucksgesten einer (alp-)traumlogischen Weltsicht zu lesen.

Giallo PlakatLeider konnten diese Stärken des Filmemachers Dario Argento im Verlauf der letzten beiden Dekaden nur zu leicht in Vergessenheit geraten, weil seine Filme selbst sie allzu oft zu vergessen schienen. Insbesondere ab „Il Cartaio“ wurde immer offensichtlicher, dass Argento selbst sich nicht mehr so recht darüber im Klaren war, was er überhaupt tut. Hanebüchene Plotkonstrukte konnten neben seinen Horrorphantasmagorien auch seinen frühen Gialli noch verziehen werden – da eben ein Giallo und ein Kriminalfilm nicht unbedingt das Gleiche sind. Zwar von einer klassischen whodunnit-Konstellation ausgehend, untergräbt der Giallo doch regelmäßig durch seine absurden, durch nichts angedeuteten und sich damit dem kriminalistischen Ratespiel mit dem Zuschauer entziehenden Plotvolten die Form des geradlinig auf die Auflösung zustrebenden murder mystery, um sich vielmehr für Fetischismus, Obsessionen und die Ästhetik des Mordens zu interessieren. Das schöne Töten, jenseits der Pragmatik des Plots, mehr aus einem malerischen Stil gespeist denn aus der pulp finzione der titelgebenden, gelb eingebundenen Groschenromane. Das Verständnis des Filmemachens als Malen mit Licht und in der Zeit fand sich dort ausgeprägt – und kam, erst allmählich, dann unübersehbar, irgendwann in den 90er Jahren abhanden. Argentos neuere Filme sind vor allem deshalb so schlecht, weil sie an die Tradition des Giallo anzuknüpfen vorgeben, dabei aber jedes Verständnis für die gewählte Form vermissen lassen. Diese Fehler, soviel Positives vorweg, wiederholt er im programmatisch betitelten „Giallo“ eher nicht.

GialloZunächst einmal geht es Argento hier offensichtlich nicht um ein Ratespiel: Um die Identität des Mörders wird kein Geheimnis gestrickt, auch seine Motive sind so schlicht wie klar. Der Deformierte, Hässliche, der den Anblick von Schönheit nicht ertragen kann und sie deshalb zwanghaft zerstören muss, ist natürlich letztlich ein Stereo-, oder vielmehr noch: ein Archetyp. Dem gegenüber steht der nicht weniger obsessive, von den Geistern der eigenen, traumatischen Vergangenheit getriebene Ermittler, und der einzige Clou, mit dem Argento diese Konstellation ausschmückt, ist ein Besetzungscoup: Sowohl Ermittler als auch Mörder (unter dem anagrammatischen Pseudonym „Byron Deidra“) lässt Argento von Adrien Brody darstellen, dessen Performance gewissermaßen das Herz von „Giallo“ bildet. Tatsächlich passt die Traurigkeit Brodys, der ja von Wes Anderson erst jüngst zum Nachfolger Bill Murrays erkoren wurde, gut in diese Rolle, die in ihrer Verlorenheit als Spiegelbild des gelbsüchtigen Mörders durchaus glaubhaft wird. Der schizophrenen Dynamik zwischen diesen beiden Antagonisten obliegt es dann auch, „Giallo“ zu tragen, denn ansonsten ist der Film sehr schlicht gebaut. Es gibt kein Rätsel, das es zu lösen gibt, es gibt keine nachvollziehbare Ermittlung, es gibt keine Vertiefung der Beziehung zwischen Avolfi und der nach ihrer entführten Schwester suchenden Linda (Emmanuelle Seigner), es gibt nicht einmal einen wirklichen Spannungsbogen und auch nicht – wie jüngst in „La terza madre“ noch exzessiv ausgekostet – einen Hang zu extremsten Gewaltspitzen. Stattdessen bleiben nur Rudimente einer Kriminalerzählung, betont geradlinig und in nachgerade selbstparodistischer Manier nicht einmal richtig zu Ende erzählt und um die grob skizzierten Protagonisten herum arrangiert.

GialloIn dieser extremen Reduktion lässt sich „Giallo“ durchaus als eine Skelettierung seines Genres verstehen. Indem er, beinahe schon collageartig, Selbstzitate und Standardsituationen aus seinen eigenen Gialli aneinanderreiht, schafft Argento zunächst einen Resonanzraum, der über „Giallo“ als Einzelwerk hinausgreift und das gesamte Genre und seine Regularien in den Blick nimmt. Dann nimmt er sich eine Regel nach der anderen vor, bricht sie gezielt oder straft sie schlicht mit Desinteresse, bis am Ende nur noch die reine Essenz des Giallo bleibt und wir uns unversehens inmitten eines jener Alpträume wiederfinden, die Argento uns einst so unmittelbar und kompromisslos in Bild und Klang goss: Es gibt nur die schönen Mädchen und die hässlichen Männer, die sie quälen und töten – und dann gibt es noch die Melancholiker, die diese Männer jagen und damit im Grunde eher ihre eigenen Dämonen zu bannen suchen.

Dieser Text ist zuerst erschienen in Splatting Image Nr. 79 (September 2009).

Giallo
(USA/Italien 2009)
Regie: Dario Argento; Buch: Jim Agnew, Sean Keller, Dario Argento; Musik: Marco Werba; Kamera: Frederic Fasano; Schnitt: Roberto Silvi
Darsteller: Adrien Brody, Emmanelle Seigner, Elsa Pataky, Robert Miano, Byron Deidra u.a.
Länge: ca. 92 Min.

Arabo-was?

„Wir brauchen Sie in Ägypten. Einen Experten der arabo-muslimischen Welt.“ – „Arabo-was?“ Dieser Witz, in der Auftaktviertelstunde zum Besten gegeben, ist der eine Witz, den Michel Hazanavicius’ Agentenfilmpersiflage „OSS 117: Le Caire, nid d’espions“ in den gut 95 Minuten seiner Laufzeit stets aufs Neue variiert. Das ist nicht einmal besonders schlimm, handelt es sich dabei doch zumindest um einen recht guten Witz, aber es schränkt die komischen Möglichkeiten seines Trägerfilms doch einigermaßen ein.

dvm000644dDrei Dinge, so scheint es, gehören zu den zentralen komödiantischen Aufgaben der Agentenfilmpersiflage: zunächst, das Umkippen der globalen Kontrollphantasien, die sich in den 007s der Kinogeschichte bündeln, in die Lächerlichkeit – und damit auch stets gleichzeitig die Freilegung des kolonialistischen Weltbildes und der narzisstischen Selbstverliebtheit der westlichen Nationen. Dieses gelingt Hazanavicius’ Film, der jetzt mit dreijähriger Verspätung und dem deutschen Untertitel „Der Spion, der sich liebte“ erscheint (und damit gleichzeitig eine Brücke zu einer anderen kulturellen Traditionslinie des internationalen Spionagekinos schlägt), auf das Schönste. Manifest wird dieses Topos im Protagonisten Hubert Bonisseur de la Bath, alias OSS 117, perfekt besetzt mit einem vollkommen überzeugenden Jean Dujardin. Diese Figur, direkt aus einer einstmals äußerst erfolgreichen Filmreihe des Eurospy-Kinos der 1950er und 1960er Jahre herausgegriffen, bleibt grundsätzlich vollkommen flach, aber Dujardins exaltiertes, aber nie hysterisches Minenspiel und sein grandioses Timing vermag ihr doch genug Kontur zu verleihen, um den Film zu tragen. Darin offenbart sich ganz große komödiantische Schauspielkunst. Weiterhin ginge es um die Offenlegung und Dekonstruktion der Genremechanismen des Spionagefilms sowie, drittens und idealiter, die Verzerrung hin zu einer eigenen, produktiven Vision des Genres und damit einer Korrektur des darin verfälschten Weltbildes. Leider sind dies Ambitionen, die nur die wenigsten Beiträge zum Subgenre der Agentenfilmpersiflage überhaupt erst entwickeln. In den besten (wenigen) Momenten ließ Jay Roachs „Austin Powers: International Man of Mystery“ (1997) ein grundlegendes Verständnis dieser Zusammenhänge erahnen, leider aber verlor sich die daran anschließende Reihe ja schnell in den Tiefen des Kloakenhumors (und wurde, auch dies soll nicht verschwiegen werden, erst damit so richtig erfolgreich). Und jüngst versuchte sich eine Reihe eher aus dem Wirtschaftsthriller der Soderbergh/Clooney-Schule gespeister Satiren wie „Burn after Reading“ von den Coen-Brüdern, „The Informant!“ von Soderbergh selbst oder der recht avancierte „Duplicity“ von Tony Gilroy auf interessante Weise an einer parodistischen Zuspitzung von Modellen des Agentenkinos im Hinblick auf eine gegenwärtig gedachte Gesellschaftskritik.

oss_117_caire_8_articleSo weit denkt „OSS 117“ in keinem Moment, obgleich sein fish out of water-Grundplot den extrem überspitzten Culture Clash zwischen dem „Alten Europa“ und der muslimischen Kultur fest in den Blick nimmt. Die Witzeleien sind oft mehr, auch mal weniger komisch, meist repetitiv, aber nie wirklich bissig. Einzelne Episoden sind fantastische Solonummern von Jean Dujardin, aber Regisseur Hazanavicius gelingt es niemals, aus einer Aneinanderreihung von Gags etwas zu kreieren, das über die Summe seiner Teile hinausgeht. Somit bietet er auch nie wirklich eine Anschlussmöglichkeit an Diskurse der Gegenwart an, sondern erschöpft sich – daran erinnert er an den zwar wenig komischen, aber in seinem Retro-chic ähnlich angelegten „The Good German“, wieder von Soderbergh – in der möglichst (und tatsächlich annähernd) perfekten Nachstellung der Bildwelten seiner Vorlagen. Die Farben, die Kulissen, die Ausstattung, das alles zeugt von großer Sorgfalt und liebevoller Detailarbeit – aber es friert den Film eben auch in den Grenzen der Hommage fest. Das ist nicht wenig, und es ist bedeutend mehr als etwa die beiden „Austin Powers“-Sequels noch zu bieten hatten. Der vielleicht größte Vorteil einer solchen Verspaßung ohne wirkliche Dekonstruktion des persiflierten Genres liegt freilich letztlich in der erneuten Serialisierbarkeit, und konsequenterweise erschien die Fortsetzung „OSS 117: Rio ne répond plus“ bereits in diesem Jahr. Ein dritter Teil ist bereits in Planung.

OSS 117: Der Spion, der sich liebte
(OSS 117: Le Caire, nid d’espions, Frankreich 2006)
Regie: Michel Hazanavicius; Drehbuch: Jean-François Halin, Michel Hazanavicius; Musik: Ludovic Bource, Kamel Ech-Cheik; Kamera: Guillaume Schiffman; Schnitt: Reynald Bertrand
Darsteller: Jean Dujardin, Bérénice Bejo, Aure Atika, Philippe Lefebvre, Constantin Alexandrov, Richard Sammel
Länge: ca. 95 Minuten
Verleih: Koch Media

Zur 2 DVD Collector’s Edition von Koch Media

Der Film erscheint bei Koch Media in tadelloser Qualität auf DVD wahlweise als Single-DVD oder 2 Disc Collector’s Edition, letztere erscheint auch als BluRay. Dieser Rezension liegt die 2 DVD Collector’s Edition zugrunde. Diese ist randvoll mit Extras, die es an Unterhaltungswert durchaus mit dem Hauptfilm aufnehmen können. Als besondere Attraktion kann zudem (jedenfalls für seine Fans) die von Komiker Oliver Kalkofe vorgenommene und überraschend akzeptable deutsche Synchronfassung gelten. Diese hat erfreulicherweise wenig mit den Vergewaltigungen fremdsprachiger Filme zu tun, derer Kollegen wie „Richie“ oder „Erkan & Stefan“ bereits schuldig wurden und bemüht sich um eine angemessene Übertragung des Witzes der Vorlage.

Bild: 2,35:1 (anamorph)
Ton: Deutsch, Französisch (DTS, Dolby Digital 5.1)
Untertitel: Deutsch
Extras: Audiokommentar mit Michel Hazanavicius und Jean Dujardin, Keine Ferien für OSS 117 (ca. 67 Minuten), Versprochen und verspielt (ca. 12 Minuten), Gaumont Wochenschau: Weltnachrichten (ca. 5 Minuten), entfallene Szenen (ca. 16 Minuten), Making of (ca. 20 Minuten), Featurette über die Synchronarbeiten, Trailer, 3 Teaser, Promo Reel
FSK: ab 12 Jahren

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Gefühle sind ein verdammter Luxus

Um panache geht es in diesem Film: jene Tugend kompromissloser Tapferkeit vor dem Feind, jener eiskalte und schnörkellose Professionalismus, der den harten Jungs irgendwann einmal – wohl mit dem Verlust des Gangsterethos – verloren gegangen ist. Man muss nicht zuerst schießen, man muss lediglich zuerst treffen, das wusste bereits William Munny in Clint Eastwoods epochalem Spätwestern „Unforgiven“. So wie dieser ist auch Jesse V. Johnsons „The Butcher“ ein Film der alten Männer, aber statt Zynismus und Bitterkeit herrschen hier Wärme und Wehmut vor. Die melancholische Färbung der Erzählung etabliert bereits in den ersten Sekunden des Films der große, tragische Mime Michael Ironside mit einem Monolog über die guten alten Zeiten und die harten Jungs, die heute einfach nicht mehr so sind, wie sie einmal waren. Ironside ist nur in diesem Film, um diese wenigen Sätze zu sprechen, und sie bestimmen den Tonfall für alles Folgende.

butcher1Jesse V. Johnson, der in den letzten Jahren bereits mit einigen ungewöhnlichen Arbeiten aus der Masse der Low-Budget-Actionregisseure herausstach, erzählt in seinem bisher ambitioniertesten Werk die Geschichte des alternden Mobsters Merle „Butcher“ Hench (Eric Roberts), einem ehemaligen Preisboxer, der nach seiner Karriere zum Handlanger in einer mafiösen Organisation geworden ist, dort aber nie über den Status als kleiner Gauner hinausgekommen ist und nun „einen Drink einem Kampf vorzieht“, wie es im einführenden Off-Kommentar des Prologs über ihn heißt. Merle sieht dem Herbst seines Lebens und seiner kriminellen Karriere entgegen, als er zur Kenntnis nehmen muss, dass ihm im Grunde niemand wirklich Achtung entgegenbringt. Sein Boss Murdoch (Robert Davi) rät ihm zum vorzeitigen Ruhestand, weil er einen jungen Gangster, der ihm wiederholt Schwierigkeiten bereitet hat, mit warnenden Worten davonkommen lässt, statt ihn dem Jobprofil entsprechend kaltblütig hinzurichten, und sein Rivale Eddie lockt ihn gar in eine Falle, um ihn zunächst zu ermorden und ihm dann den Raub von knapp 5 Millionen Dollar Mafiageld in die Schuhe zu schieben. Doch Merle mag nicht zu den ehrgeizigsten oder brutalsten Jungs im Syndikat zu gehören – ein kühl kalkulierender Professional ist er in jedem Fall. Somit stellt sich Merle gegen den als Vaterfigur fungierenden Murdoch und macht sich mit der Kellnerin Jackie (Irina Björklund) auf den Weg in ein neues Leben – oder doch zumindest auf einen letzten großen Rachefeldzug zur Wiedererringung seiner lang verlorenen Würde.

Die Art und Weise, wie Regisseur Johnson und Hauptdarsteller Roberts diesen Merle Hench zeichnen, als nicht aus Neigung oder Selbstzweck brutalen, aber im Angesicht seiner Gegner absolut kaltblütigen Profi und dennoch gutmütigen, duldsamen und von einem langen Leben auf der falschen Seite des Gesetzes gezeichneten Mann, ist schlichtweg eindrucksvoll. Dabei ist es vor allem Eric Roberts, der „The Butcher“ geradezu beherrscht: Während um ihn herum, und wesentlich durch sein Zutun, der Film insbesondere in der zweiten Hälfte der beinahe zweistündigen Laufzeit immer mehr explodiert in einen blutigen Alptraum, scheint sein Merle in jeder Sekunde in sich zu ruhen – wie eine Art Zen-Meister des Tötens. „Vielleicht lebe ich nicht lang, Eddie – aber immerhin länger als du.“ All den großen alten Männern in diesem Film – Roberts, Ironside, Davi –, die sich nach ihren unvergesslichen Kinorollen in den großen Filmen der 1980er und 90er Jahre nun schon dekadenlang durch den Sumpf achtklassiger DTV-Genreproduktionen schlagen, scheint bewusst zu sein, dass es hier um so viel mehr geht als nur einen weiteren hyperblutigen Gangsterfilm. Es ist eine vielleicht letzte Chance, in einem großen Film zu spielen (und wenn das auch niemand merken wird; diese Rollen scheinen viel zu intim, um sie mit allzu vielen Menschen zu teilen); es ist ein Geschenk, eine Wiederaneignung der zwischen Trashfilm und Massenmanufaktur abhanden gekommenen Selbstachtung. Gleichzeitig ist es ein Abschied, eine in einen exquisiten Jazzsoundtrack voller letzter Klänge hineingeschmiegte Hinterlassenschaft an die Nachwelt, die fortan bleiben und immer wieder von einem ausgesuchten, sehr glücklichen Publikum entdeckt werden wird.

butcher3„Ich habe nie einen Mann um etwas gebeten. Jetzt wird einfach gestorben.“ Weltabgewandter, jenseitiger als „The Butcher“ kann ein Film kaum sein, und das unaufgeregte, aber niemals ungerührte Spiel von Eric Roberts, für den dies hier ein Alterswerk in der Dimension von Tarantinos „Jackie Brown“ darstellt, behält Johnsons gewagtes Konzept in jedem Moment vor dem Umkippen in Kitsch oder schlichten Gewaltfetisch. Tatsächlich ist „The Butcher“ das erste Meisterwerk eines hochtalentierten, kühnen DTV-Filmemachers und einer der schönsten, sentimentalsten Filme des Kino(video)jahres. „Gefühle sind ein verdammter Luxus“, so heißt es einmal darin, und Merle Hench lächelt nur wissend und ein bisschen traurig. Die getragene Erzählweise, die sanfte Elegik. die hyperbetonten Gewalteruptionen, die erlesene Besetzung noch der kleinsten Nebenrollen – das alles macht „The Butcher“, dem kaum nennenswerten Budget zum Trotz und Widerspruch, zu einem wahrhaft luxuriösen Film. Und warum eigentlich sollte man sich mit weniger zufrieden geben?

The Butcher – The New Scarface
(The Butcher, USA 2007)
Regie & Drehbuch: Jesse V. Johnson; Musik: Marcello Di Francisci; Kamera: Robert Hayes; Schnitt: Ken Blackwell
Darsteller: Eric Roberts, Robert Davi, Irina Björklund, Michael Ironside, Keith David, Bokeem Woodbine, Geoffrey Lewis
Länge: ca. 109 Minuten
Verleih: Mr. Banker/Sunfilm

Zur DVD von Mr. Banker

Hier ist Vorsicht geboten, da neben der ungekürzten Fassung mit JK-Freigabe auch eine um knapp 9 Minuten gekürzte Fassung mit FSK-Siegel KJ existiert. Die ungekürzte DVD des Labels Mr. Banker ist aber tadellos und bietet den Film in guter Bild- und Tonqualität im englischen Originalton mit optionalen deutschen Untertiteln sowie in einer (gerade noch) akzeptablen deutschen Synchronfassung. Ein wenig Bonusmaterial gibt es auch noch.

Bild: 1,85:1 (anamorph)
Ton: Deutsch (Dolby Digital 5.1, Dolby Stereo 2.0), Englisch (Dolby Stereo 2.0)
Untertitel: Deutsch
Extras: Trailer, Teaser, Behind the Scenes, Bildergalerie
FSK: JK

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