Enter Metalopolis

Die nahe Zukunft: das Internet und seine virtuelle Community OZ sind zur veritablen Parallelgesellschaft geworden. Unternehmen betreiben Zweigstellen im Digitaluniversum, Geschäfte werden dort getätigt, Behörden verwaltet – der Cyberspace ist untrennbar mit der Außenwelt verzahnt. Ein klassisches Szenario des jüngeren Science-Fiction-Kinos, das man jedoch so, wie es Mamoru Hosoda in seinem Anime „Summer Wars“ umsetzt, noch nie gesehen hat.

Nach dem futuristischen Prolog nämlich, der in das Szenario von „Summer Wars“ einführt, schlägt der Film erst einmal eine völlig andere Richtung ein. Der 17jährige Schüler Kenji arbeitet in den Sommerferien für die Wartungsabteilung von OZ, lässt jedoch alles stehen und liegen, als ihm die umschwärmte Mitschülerin Natsuki einen anderen Ferienjob anbietet: Kenji soll sie zur Geburtstagsfeier ihrer Großmutter begleiten und bei der Durchführung des Familienfestes helfen. Dort angekommen, überrumpelt ihn Natsuki, indem sie ihn der versammelten Verwandtschaft als ihren Verlobten vorstellt. Um eine Lügengeschichte zu decken, soll der schüchterne Junge für die Dauer der Feierlichkeiten ihren Freund spielen. Dank Natsukis Überredungskünsten lenkt Kenji nach einigem Widerstreben ein, und zunächst scheint das schwärmerische Credo – Sommer, das sei vor allem „Wassermelone, Feuerwerk und Mädchen“ – sich aufs Harmonischste zu erfüllen. Doch die Lügen fliegen auf, als Kenjis Foto plötzlich in den Nachrichten erscheint: als vermeintlicher Computerhacker, der das System von OZ gekapert und ins Chaos gestürzt habe. Tatsächlich hat Kenji, im „richtigen“ Leben ein mathematisches Wunderkind, den Sicherheitscode von OZ gehackt, jedoch ohne zu wissen, was er dort eigentlich berechnet – nur als spielerisch zu lösende Rätselaufgabe.

Aus dem Spiel wird freilich schnell Ernst, denn wer OZ kontrolliert, der kontrolliert auch die Welt außerhalb. Immer mehr Avatare bringt der mysteriöse Hacker, der sich schließlich als ein nichtmenschliches Computerprogramm namens Love Machine entpuppt, vom Verteidigungsministerium zu Testzwecken in das System eingespeist, unter seine Kontrolle. Die Lage spitzt sich schnell zu, als eine per GPS zur Erde zurückgelenkte Raumstation, von Love Machine gesteuert, zur verheerenden Vernichtungswaffe zu werden droht. Angesichts der Bedrohung beginnt die versammelte Familie, gemeinsam gegen den scheinbar unbezwingbaren Gegner, der bereits mehr als 400 Millionen Avatare steuert, vorzugehen – vom 13jährigen Gamer-Kid Kazuma bis zum jovialen Großonkel, jeder mit seinen Mitteln.

Der Schuljunge, der angesichts einer futuristischen Bedrohung zum Weltenretter wird, zählt ja grundsätzlich zum Standardrepertoire des shōnen anime, auch die nostalgisch-verklärte Familienidylle ist eher ein klassisches Versatzstück des japanischen Animationsfilms. Die Originalität von „Summer Wars“ lässt sich folglich aus diesen Einzelelementen kaum herauslesen, ergibt sich eher aus der Summe der Teile: So stehen hier nostalgischer Traditionsreichtum – die Geschichte von Natsukis Familie wird bis in die Muromachi-Ära im 16. Jahrhundert zurückverfolgt – und Technikfetisch direkt nebeneinander, ohne jedoch gegeneinander ausgespielt zu werden und wie nicht selten in einer technophoben Dystopie zu münden. Obgleich Hosoda natürlich die Gefahren eines in derartiger Konsequenz virtualisierten und per Hackerangriff fernsteuerbaren Gesellschaftssystems skizziert, stellt er niemals den Gedanken der virtuellen Vernetzung selbst in Frage. Die Angehörigen der Jinnouchi-Familie, gleich welcher Generation, verwenden die technischen Geräte sicher mit unterschiedlicher Fertigkeit, aber niemals mit grundsätzlichen Vorbehalten. Es geht hier nicht um einen Widerstreit zwischen gelebter Wirklichkeit und dem Verlorengehen im Virtuellen – eher um einen Brückenschlag zwischen beidem und der produktiven Koexistenz in unterschiedlichen Sphären von Wirklichkeit. Mit größter Selbstverständlichkeit bewegen sich die Protagonisten von „Summer Wars“ durch reale wie virtuelle Räume und widerlegen so mit spielerischer Leichtigkeit die medienpessimistische These von der Verarmung der Gesellschaft und der Kommunikation durch die eskapistische Bewegung in den virtuellen Raum.

Das stetige Umschalten zwischen dem opulenten, detailverliebten Design der immer stärker zersprengten Welt von OZ und der impressionistisch gezeichneten Naturkulisse im paradiesisch anmutenden Nagano wirkt zwar zunächst ein wenig verschroben, aber auch stets glasklar und völlig unangestrengt. Beide Ebenen der Erzählung – ergänzt noch durch mindestens eine weitere in Form eines im TV übertragenen Baseballspiels, dessen Kameras seltsam personalisiert scheinen – fließen immer wieder nahtlos ineinander, bis sie schließlich ganz organisch als unterschiedliche Ebenen einer erzählten Welt erscheinen. Die Realität erdet immer wieder die abstrakten Sphären von OZ, die so vor einem Verströmen in futuristischen Phantastereien bewahrt werden. Und die wuchernde Cyber-Metalopolis, die OZ darstellt, wird von Menschen bewohnt, gestaltet und schlussendlich auch wieder kontrolliert.

„Kommunikation ist alles“, so formuliert „Summer Wars“ bereits im Prolog ein entscheidendes Credo. Die weltweite Vernetzung bietet unzählige Kanäle zur Kommunikation, die jedoch schweigen (oder umso lauteren Unsinn tönen), wenn sie nicht ihren Möglichkeiten entsprechend verwendet werden. Die Antwort darauf kann selbstverständlich nicht die medienkonservative Abkehr von den virtuellen Netzen, ihren Kommunikationsräumen und ihrem information overflow bedeuten: Kein radikales Zurück zur Wirklichkeit, sondern ein (selbst)bewussteres Bewegen im Virtuellen schiene erforderlich. „Summer Wars“ feiert den Menschen, ohne die Technik zu fürchten oder zu verdammen. Das macht ihn zu einem so freien, humanistischen, zukunftsgewandten und klugen Film.

Summer Wars
(Samâ Wôzu, Japan 2009)
Regie: Mamoru Hosoda; Buch: Satoko Okudera; Musik: Akihiko Matsumoto
Länge: 114 Min.
Verleih: AV Visionen
Kinostart: 12.08.2010

Dieser Text ist erstmals erschienen in Splatting Image Nr. 81.

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