Die Geister der Ghettos

Matt sieht tote Menschen. Seit sein jüngerer Bruder Tom spurlos verschwand, wird er von Schuldgefühlen geplagt und (vielleicht) auch vom Geist des Jungen verfolgt. Ganz schuldlos ist Matt am vermuteten Tod seines Bruders nämlich nicht, hing er doch saufend und kiffend mit seinen Freunden herum, statt sich wie vorgesehen um das Kind zu kümmern. Die Erzählung von Johnny Kevorkians Geisterfilm „The Disappeared“ setzt erst einige Zeit später ein, als Matt nach einem Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik nach Hause zurückkehrt und sich dort mit seinem zur Gewalttätigkeit neigenden Alkoholiker-Vater und der schmerzhaft klaffenden Lücke der Ungewissheit, die das Verschwinden Toms gerissen hat, auseinandersetzen muss. Von Erscheinungen und Stimmen verfolgt und mit der Hilfe des offenbar selbst mit familiärer Gewalt konfrontierten Nachbarmädchens Amy dringt Matt immer tiefer in die Geschehnisse der Vergangenheit vor und kommt allmählich der Wahrheit näher – doch welche dunklen Geheimnisse birgt diese? Steckt der Vater selbst hinter dem Verschwinden des Jungen? Oder war es gar der offensichtlich verwirrte Matt selbst, der Schuld trägt am Tod des Kindes?

Diese Erzählung ist natürlich eine ganz archetypische innerhalb des Genres, geht es doch im Geisterfilm zuallererst um die ungesühnte Schuld der Vergangenheit, die sich in die Gegenwart hinein gewaltsam Bahn bricht. Somit ist es auch nur schlüssig, dass Kevorkians Film inhaltlich zunächst einmal Assoziationen zu anderen Filmen hervorruft. Den Topos der verschwundenen Personen hatte 2002 etwa Norberto López Amados vollkommen unterbewerteter „Nos miran“ („Sie sind unter uns!“) auf eindrucksvollste Weise aufgegriffen – wie überhaupt einiges hier an das jüngere spanische Horrorkino erinnert –, ansonsten übernimmt „The Disappeared“ viel aus Shyamalans „The Sixth Sense“. (Und nein, damit ist nicht zu viel verraten, denn ausnahmsweise handelt es sich hier nicht bloß um eine Übernahme der Pointe dieses Meisterwerks, das doch darüber hinaus so viel mehr zu bieten hat.)

Ungewöhnlich ist hier also weniger der Stoff als vielmehr die Form, in der er inszeniert ist. Die nämlich rückt den Film nahe an die sozial-realistische Schule des britischen Kinos heran, ohne sich freilich darin zu erschöpfen. Eher als um ein Überschreiten des Horrorstoffes auf ein Gesellschaftsporträt hin geht es folglich um die Integrationskraft des Horrorkinos und seine Funktion als Medium zur Reflexion sozialer wie individueller Problemfelder. In der Inszenierung spiegelt sich das in einem ausdrücklichen Fetisch für die Architektur, in der Kevorkian seine Erzählung verortet: Zahlreiche Sequenzen werden eingeleitet durch Aufnahmen von tristen Reihenhausfassaden, immer wieder bindet die Kadrierung die Figuren zurück an die Räume, in denen sie sich bewegen und über die sie sich definieren. „The Disappeared“ ist vielleicht in erster Linie ein Milieudrama, und dem Erzählen der Orte misst er meist größere Bedeutung zu als dem eines bloßen Plots.

Das heißt aber nicht, dass Kevorkians Film eine spannungsarme oder zu theoretische Angelegenheit ist, ganz im Gegenteil. Die Fetische der Inszenierung integriert der erstaunlich sichere Regiedebütant auf eine recht subtile, beiläufig anmutende Weise, sodass eher der Eindruck entsteht, der Raum ziehe sich mit der Entwicklung des Plots immer mehr um den Protagonisten zusammen. Damit entsteht gleichzeitig mit dem Anziehen der Spannungsschraube eine klaustrophobische Anmutung den Erzählraum betreffend, und beides in Verbindung ergibt eine äußerst elegante, durchdachte und doch unangestrengt wirkende Spannungsdramaturgie. Der einzige Fehler, den man „The Disappeared“ vorwerfen könnte, betrifft dann leider die Auflösung, die die zunächst immer stärker um den familiären Mikrokosmos zusammengezogene Erzählung auf ein wenig ungeschickte Weise auf ein Außen hin aufbricht. Dies mutet ein wenig unnötig an, andererseits macht Kevorkian dies zumindest zum Teil wieder gut, indem er angesichts der aus dem Hut gezauberten Auflösung der Vater-Sohn-Beziehung noch ein wenig mehr Tiefe verleiht und sie vielleicht gar zum eigentlichen Thema von „The Disappeared“ macht.

The Disappeared
(UK 2008)
Regie: Johnny Kevorkian; Drehbuch: Johnny Kevorkian, Neil Murphy; Musik: Ilan Eshkeri; Kamera: Diego Rodriguez; Schnitt: Celia Haining
Darsteller: Harry Treadaway, Greg Wise, Tom Felton, Alex Jennings, Ros Leeming, Lewis Lemperuer Palmer
Länge: 96 Minuten
Verleih: Savoy Film / Sunfilm

Zur DVD von Savoy Film

Die DVD ist qualitativ akzeptabel und präsentiert den ins Grobkörnige tendierenden Look des Films in adäquater Form. Der Ton liegt in der englischen Originalfassung leider nur im Stereoformat vor, die durchaus gelungene deutsche Synchronfassung liegt hingegen in Dolby Digital 5.1 vor. Nennenswertes Bonusmaterial gibt es nicht.

Bild: 1,85:1 (16:9/anamorph)
Ton: Deutsch (Dolby Digital 5.1), Englisch (Dolby Digital 2.0 Stereo)
Untertitel: Deutsch
Extras: Keine
FSK: ab 16 Jahren

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