Wohin ruft der Berg?

Extreme Erlebnisreisen haben zur Zeit hohe Konjunktur. Ebenso bildgewaltige Filme, die vor beeindruckenden Naturkulissen spielen. „Kekexili“ nimmt scheinbar Bezug auf beides, indem er eine Bergpatrouille auf ihrem Weg durch die tibetische Wildnis verfolgt, entzieht dem Zuschauer aber gleichzeitig fast jede Möglichkeit, diese Bilder im üblichen Sinne als schön zu konsumieren. Jedes Mal, als sich die Begeisterung für die exotischen Landschaften anzubahnen beginnt, wird man sofort mit ihren zerstörerischen Seiten dermaßen hart und realistisch konfrontiert, dass die Berge am Ende statt der Abenteuerlust und des touristischen Enthusiasmus nur noch Angst und Abscheu hervorrufen. Irgendwie erinnert das an die brutale Therapie in „Clockwork Orange“, wo dem Kriminellen Alex die Lust an Verbrechen dadurch genommen werden sollte, dass die bis dahin als anregend empfundenen Gewaltphantasien im Gehirn automatisch an den Übelkeitsreiz gekoppelt wurden. Will hier der Regisseur Lu Chuan uns den Spaß an der lustvollen Naturausbeutung verderben und die Ehrfurcht vor der Welt beibringen, die nicht von uns erschaffen wurde? Oder polemisiert er vielmehr mit der Domestizierung der exotischen Naturbilder, die vom Kino so intensiv betrieben wird?
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Die soziale Frage im Zeitalter der in Frage gestellten Wirklichkeit

Georg Seeßlen hat einmal behauptet, beinahe jeder Film sei (im weitesten Sinne) ein erotischer, da es darin in den meisten Fällen um menschliche Beziehungen geht, denen fast immer ein erotisches Begehren zugrunde liegt. Nun könnte man dasselbe auch in Bezug auf die Erscheinungsformen der Gesellschaftskritik im Film sagen, denn kaum ein Film bewegt sich in einem völligen sozialen Vakuum oder lässt sich nicht zumindest in irgendeiner Weise auf die gesellschaftliche Wirklichkeit übertragen. Selbst wenn die bestehenden Verhältnisse nicht hinterfragt werden, wird dahinter auch eine bestimmte Position erkennbar: So impliziert ein Film, der eine gesellschaftlichen Ordnung idealisiert, automatisch die Kritik an den konkurrierenden politischen und sozialen Systemen (auch wenn sie in der filmischen Wirklichkeit gar nicht explizit vorkommen). Andererseits kann ein Film, der die gesellschaftlichen Widersprüche bewusst verschleiert, eben dadurch zum Anlass für eine sozialkritische Betrachtung werden. Vor diesem Hintergrund ist auch die Aussage Siegfried Kracauer zu verstehen, die im einführenden Artikel des vorliegenden Bandes zitiert wird: „Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar“. Es gehört also zur Kompetenz des Rezipienten, die sozialpolitische Dimension jedes einzelnen Films zu erkennen und zu deuten.
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Bürde der Freiheit

Die Ästhetik von „Manderlay“, die bereits im ersten Teil von Lars von Triers amerikanischer Trilogie „Dogville“ erprobt wurde, könnte man geradezu „undogmatisch“ nennen: Statt der vom Dogma-Manifest geforderten authentischen Settings und des Verzichts auf künstliche Requisiten, sehen wir nun extrem vereinfachte Kulissen, die an eine Theateraufführung erinnern und ihre Künstlichkeit eher betonen als leugnen. Die konsequente Abkehr von der Idee, die Realität in all ihrer äußeren Flüchtigkeit abzubilden, ermöglicht hier aber die Konzentration auf die komplexen Sinnzusammenhänge und Tiefenstrukturen, die das Leben fast unsichtbar bestimmen. Von Triers Rechnung geht auf: Was für sich keine oberflächliche „Lebensänlichkeit“ beansprucht, wirkt um so glaubwürdiger in der Vermittlung der inneren Wahrheit.
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Kampf der Bilder


Wenn die Kunst im Auge des Betrachters entsteht, dann entsteht sie vermutlich noch einmal im Objektiv der Kamera, die sie filmt. Zwei Beiträge des letzten Festivaltags reflektieren die Möglichkeiten der Darstellung der bildenden Kunst in den filmischen Medien, wobei sie auf verschiedene Art und Weise mit bestehende Stereotypen umzugehen versuchen.
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Sex, Horror und Religion


Bei der Kunstfilmbiennale, die am 19. Oktober bereits zum vierten Mal in Köln startete, geht es um die Berührungen zwischen Film und bildender Kunst. Die Art dieser Berührungen kann allerdings sehr unterschiedlich sein: Es werden Filme von Performancekünstlern gezeigt, die sich zum Teil an ein Museumspublikum richten, aber auch filmische Produktionen, die den Lebensweg berühmter Künstlerpersönlichkeiten nachzeichnen oder über den Kunstbetrieb nachsinnen. Ein Blick in das diesjährige Programm macht deutlich, wie viele unterschiedliche Aspekte in das Festival einfließen. Ich werde hier über die spannendsten und diskussionswürdigsten Beiträge berichten.
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Spiele mit Gott und Freud

Wenn man den Alltag einer westeuropäische Familie in einer anspruchsvollen Filmproduktion möglichst realistisch und detailliert festzuhalten versucht, dann wird das aller Wahrscheinlichkeit nach eine ziemlich düstere Geschichte, wie etwa „Der siebente Kontinent“ von Michael Haneke. Die idyllischen Familienerzählungen aus dem Westen haben schon lange ihre ästhetische Glaubwürdigkeit eingebüßt und stehen per definitionem unter Kitsch- und Konservatismusverdacht. Ein Ausgleich wird nun in den Stoffen gesucht, die sich auf den außereuropäischen Raum beziehen, wo sich die „heile (Familien)Welt“ vermutlich noch tatsächlich bewahren konnte. Der aus der westlichen Sicht unkomplizierte (und darum „unverdorbene“) Alltag in den fernen Ländern, die von der Zivilisation weitgehend „verschont“ sein sollen, wird zur Projektionsfläche für die akuten Sehnsüchte des Publikums nach Harmonie und Spiritualität, die auf diese Weise durchaus legitim befriedigt werden können und nicht zwingend im Widerspruch zum (guten) künstlerischen Geschmack stehen müssen.
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Die innere Unsicherheit

Die StudentInnen von heute haben es bekanntlich schwer: Die angedrohten Studiengebühren, die aufgrund der Personalkürzungen erschwerten Studienbedingungen, die unklaren Berufsperspektiven. Von alledem ist in Thomas Durchschlags Drama, das im Studentenmilieu der Universitäts- und Industriestadt Essen spielt, allerdings nicht die Rede. Zumindest nicht explizit. Denn das Gefühl der Unsicherheit und Desorientierung wird sehr wohl vermittelt, wobei es bei der Protagonistin Maria (Lavinia Wilson) eher „von innen“ zu kommen scheint. „Ich habe meine eigene Welt! Sie ist hier drin!“ – sagt sie im Laufe des Films ihrem unverständigen Geliebten Jan (Maximilian Brückner). Was in einem anderen Kontext kein Grund zur Sorge wäre und sogar eine kreative, unangepasste Einstellung zum Leben bekunden würde, hat in Durchschlags Film die Bedeutung eines Alarmsignals, denn ihr „Anderssein“ bringt Maria nur Leiden. Sie ist nicht nur anders, sondern auch (und vor allem) krank. Oder soll der Zuschauer hier sogar ein Gleichheitszeichen setzen? Wie „anders“ darf der Mensch sein, bis ihm eine Krankheit attestiert wird?
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Antikino

Antikörper, D 2005, Christian Alvert

Der vieldeutige Titel sowie das aussagekräftige Filmplakat lassen mehr Körperlichkeit vermuten als „Antikörper“ tatsächlich zu bieten hat. Zwar läuft der Hauptbösewicht Gabriel Engel (André Hennicke) schon in der Eröffnungssequenz nackt durch das Bild (das hätte man Hannibal Lector, der an einer Stelle als Referenzfigur erwähnt wird, nicht zugetraut), ansonsten aber bleibt der Film seltsam zugeknöpft und vermeidet auf ästhetischer Ebene genau diejenigen Abgründe, die er verbal deklariert. Dem Mörder mit einem recht gruseligen „modus operandi“ – er lässt seine Opfer (meistens Jungen im Teenageralter) ausbluten und malt mit ihrem Blut Bilder – wird direkt am Anfang durch einen dramaturgischen Fehler fast jeder Schrecken und jede Faszination genommen: Der Regisseur lässt seinen Antihelden während der Tat aus dem Off zum Publikum (bzw. zu sich selbst) sprechen und seine Motive für die Mordtaten darlegen. Er tötet nämlich aus Angst, nach seinem Tod in Vergessenheit zu versinken und nichts Großes zustande gebracht zu haben (was übrigens keine wirklich originelle Erklärung für einen mit den Konventionen der Serienmörderfilme vertrauten Zuschauer ist). Sind die psychologischen Beweggründe des Mörders einmal genau geklärt (und sie werden im Laufe des Films nicht mehr revidiert), geht die Spannung, die sich für den Zuschauer aus der Begegnung mit dem Unfassbaren und Unverständlichen in jedem gelungenen Thriller resultiert, verloren. Das ist um so bedauerlicher, weil Hennicke als Schauspieler für die Verkörperung angsteinflößender Bösewichtfiguren durchaus geeignet ist. Das hat er kürzlich in „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ bewiesen, wo er sehr überzeugend in der Rolle des Präsidenten des NS-Gerichts Roland Freisler agierte.
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Das Vorspiel danach

So was wie Liebe, USA 2005, Nigel Cole

Wenn man Büchern über Geschlechterpsychologie glauben darf, ist für eine Frau viel entscheidender, was nach dem Sex passiert, als davor. Das Umwerben mag noch so hinreißend sein, wenn aber nach der ersten gemeinsamen Nacht die Bemühungen deutlich abklingen, wird das eine Enttäuschung. Die romantische Komödie „So was wie Liebe“ hat also alle Chancen, die (erotischen) Phantasien des weiblichen Publikums anzusprechen, wenn sie die Handlung unmittelbar mit der sexuellen Begegnung beginnen lässt und erst daraus eine vollwertige Liebesgeschichte entwickelt. Was mit ein paar interessierten Blicken am Flughafen und dann mit einem Quickie an Bord eines Flugzeuges anfängt, mündet in sieben Jahre gegenseitiger Sehnsucht und mühsamer (Wieder)Annäherung. Das fehlende bzw. zu kurz geratene Vorspiel wird mit einer zeitlichen Verschiebung in einer besonders ausgedehnten Form nachgeholt.
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Selbstbehauptung und Selbstnegierung

Batman Begins, USA 2005, Christopher Nolan

Die Metamorphosen des menschlichen (oder besser gesagt: männlichen) Körpers, wie sie uns die Kultur- und Kinogeschichte vorführt, können entweder abstoßend oder faszinierend sein. Insbesondere wenn es um das Inkorporieren jener Tierarten geht, die allgemein als ekelerregend oder angsteinflößend gelten, ist diese potenzielle Ambivalenz naheliegend. Die Geschichte einer Fusion zwischen Mensch und Insekt kann einmal als Horrorschocker über den physischen und psychischen Verfall erzählt werden (wie in „The Fly“ von David Cronenberg) oder als Erfolgsstory eines Superhelden (wie beispielsweise in „Spiderman“). Eine wichtige Voraussetzung dafür, dass eine solche Metamorphose nicht zur Tragödie ausartet, ist die Kontrolle, die der Held über seinen veränderten Körper behält (idealerweise mit der optionalen Möglichkeit zumindest äußerlich immer in den „normalen“ Zustand zurückzukehren). Die zweite Bedingung wäre eine zum Ausgangspunkt der Geschichte nur schwach ausgeprägte Persönlichkeit, die einer Veränderung nicht scheut und sich sogar danach sehnt in der Hoffnung, die eigene Existenz mit signifikanten Merkmalen zu versehen, die ihr noch zu fehlen scheinen. Der ideale (zukünftige) Superheld ist ein ungeschriebenes Blatt, das auf seine Beschriftung wartet. Allein deshalb taugt der begeisterte Wissenschaftler, den Cronenberg zu einer Fliege mutieren lässt, nicht zu dieser Rolle: Für das Dasein als eine andere Spezies müsste er zuviel von seiner bereits bestehenden Individualität aufgeben. So ist die Verwandlung für ihn nichts als eine Degradierung und Verkümmerung der menschlichen Fähigkeiten, die durch keine neuen Eigenschaften, die vom Fliegenkörper kommen, zu kompensieren sind.
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Ein Musiktourist in Istanbul

Crossing the Bridge – The Sound of Istanbul, Deutschland 2005, Fatih Akin

Die interkulturelle Musikdokumentation ist fast schon zu einem separaten Filmgenre geworden, das eine eigene Tradition besitzt und bestimmte Konventionen zu erfüllen hat. Einen der Höhepunkte erlebte dieses Genre in den späten 90-ern, als solche Filme wie „Buena Vista Social Club“ von Wim Wenders oder „Genghis Blues“ von Roko Belic ein großes Kinopublikum begeistern konnten und ihre musizierenden Protagonisten populär machten. Typisch für diese Art der Dokumentarerzählung ist die Figur eines westlichen Musikers, der, von einer fremden, exotischen (Musik)Kultur angezogen, sich auf ihre Spuren begibt. Sein forschender, neugieriger Blick, der metonymisch immer mit dem Ohr austauschbar ist (in „Genghis Blues“ ist der Blues-Musiker Paul Pena, der sich für den tuvinischen Obertongesang interessiert, sogar blind), verleiht der Kamera, die seine Position annimmt, jene betörende Subjektivität, die uns das Fremde in plastischer Unmittelbarkeit erleben lässt.
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Das ewige Fern(seh)weh

Am Tag als Bobby Ewing starb, Deutschland 2005, Lars Jessen

Eines der grundlegenden Probleme unserer Existenz ist die Unmöglichkeit, das Leben in seiner ganzen Fülle zu erfassen. Es ereignet sich zur gleichen Zeit an zu vielen verschiedenen Orten, so dass wir niemals sicher sein können, das Relevante zu erleben. „Das wahre Leben ist abwesend“, – klagte noch Arthur Rimbaud in seinem Prosawerk „Ein Aufenthalt in der Hölle“. Doch in unserer Zeit ist dieses Gefühl noch gravierender geworden, denn die Medien und die Unterhaltungsindustrie sind dauernd damit beschäftigt, uns die parallel existierenden Welten vorzuführen bzw. sie eigens dafür zu erschaffen, ohne dass wir unmittelbar an ihnen teilhaben können. Nie ist also das Fernweh (das man jetzt auch als Fernsehweh bezeichnen könnte) so eindringlich gewesen, wie in der Postmoderne.
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Die disziplinierte Rebellion

Sahara, USA/Spanien 2005, Breck Eisner

Wenn die Amerikaner sich mit einer (historischen) Mission in den Orient oder, ganz allgemein, in die dritte Welt begeben, sind sie meist nach modernsten Vorgaben bewaffnet und in reguläre militärische Einheiten organisiert. Im Kino sieht es dann häufig etwas anders aus: Schon Rambo kämpfte in Vietnam als Einzelgänger mit primitivsten Waffen gegen die feindlichen Hubschrauber. In „Sahara“ sind es wieder die Einheimischen, die über die überlegene Kriegstechnik verfügen, während die Amerikaner sich auf Guerillataktiken verlassen müssen. Ursprünglich sind die amerikanischen Helden im Film jedoch gar nicht als Krieger unterwegs, sondern als unabhängige Forscher und Abenteurer, die aber ganz nebenbei immer die Interessen ihres Landes zu verteidigen wissen, die (ebenfalls ganz zufällig) mit Interessen der ganzen aufgeklärten Menschheit übereinstimmen.
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Tod als Skandal

Amityville Horror, USA 2005, Andrew Douglas

Alle Körper sind entweder tot oder sie werden tot sein. Dafür braucht man nicht mal einen grausamen Mörder: Die Natur wird es mit Sicherheit irgendwann für uns erledigen. Aber sind denn nicht all die angsteinflößenden Mörder der (Horror-)Filmgeschichte vielleicht nur Personifikationen dieser Unabwendbarkeit des natürlichen Todes? Das Offenlegen der verborgenen Zeichen des Todes, die sich hinter dem Lebendigen (manchmal sogar sehr Lebendigen!) aufspüren lassen, ist jedenfalls eines der häufigen Motive des Horrorfilms, das sich sowohl auf visueller als auch auf Handlungsebene entfaltet. Die Grenze zwischen Totem und Lebendigem ist fließend, und der Täter ist derjenige, der dazwischen vermittelt.
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