Die soziale Frage im Zeitalter der in Frage gestellten Wirklichkeit

Georg Seeßlen hat einmal behauptet, beinahe jeder Film sei (im weitesten Sinne) ein erotischer, da es darin in den meisten Fällen um menschliche Beziehungen geht, denen fast immer ein erotisches Begehren zugrunde liegt. Nun könnte man dasselbe auch in Bezug auf die Erscheinungsformen der Gesellschaftskritik im Film sagen, denn kaum ein Film bewegt sich in einem völligen sozialen Vakuum oder lässt sich nicht zumindest in irgendeiner Weise auf die gesellschaftliche Wirklichkeit übertragen. Selbst wenn die bestehenden Verhältnisse nicht hinterfragt werden, wird dahinter auch eine bestimmte Position erkennbar: So impliziert ein Film, der eine gesellschaftlichen Ordnung idealisiert, automatisch die Kritik an den konkurrierenden politischen und sozialen Systemen (auch wenn sie in der filmischen Wirklichkeit gar nicht explizit vorkommen). Andererseits kann ein Film, der die gesellschaftlichen Widersprüche bewusst verschleiert, eben dadurch zum Anlass für eine sozialkritische Betrachtung werden. Vor diesem Hintergrund ist auch die Aussage Siegfried Kracauer zu verstehen, die im einführenden Artikel des vorliegenden Bandes zitiert wird: „Filmkritiker von Rang ist nur als Gesellschaftskritiker denkbar“. Es gehört also zur Kompetenz des Rezipienten, die sozialpolitische Dimension jedes einzelnen Films zu erkennen und zu deuten.

Die klassische Unterteilung in „realitätsnahes“ und „fantastisches“ Kino erweist sich dabei als sehr problematisch, denn das Kino verfügt offenbar über die Fähigkeit, in surrealen Bildern von der von uns unmittelbar gelebten Wirklichkeit zu erzählen. Und umgekehrt bleibt der vermeintliche „Bezug zur Realität“ oft eine bloße Behauptung, und der Zuschauer bekommt unter der realistischer Ästhetik nur ein Märchen vorgegaukelt. Diese begrifflichen und methodischen Schwierigkeiten sind den Herausgebern des Bandes durchaus bewusst, deswegen verzichten sie auf strenge Definitionen und veranschaulichen stattdessen an einigen ausgewählten Beispielen, wie sich die Gesellschaftskritik im Film äußern kann (aber nicht muss!). Der normative Zugang zu diesem Thema wäre auch deshalb nicht angebracht, weil die gesellschaftliche Kritik nur dann richtig funktioniert, wenn sie überraschend trifft und eine Subversion der konventionellen Erwartungen beinhaltet.

Nichtsdestotrotz kann der gesellschaftskritische Film (obwohl nicht als ein separates Genre innerhalb der Filmkunst anerkannt) auf eine lange Tradition blicken. Wie sich Ziele und ästhetische Wirkungsweisen der sozialen Kritik im Film seit den 30-er Jahren bis heute gewandelt haben, untersucht der Artikel von Walter Lesch am Beispiel der belgischen Filmlandschaft und kommt dabei unter anderem auf das Problem zu sprechen, wie elitär ein sozialkritischer Film sein darf und ob er sein Ziel nicht vielleicht verfehlt, wenn genau diejenigen sozialen Gruppen, derer er sich annimmt, von ihm nicht erreicht werden. Im folgenden Beitrag konzentriert sich Walter Lesch zusammen mit Charles Martig auf das Werk der Brüder Dardenne – der belgischen Regisseure, die den „Elitäritätsvorwurf“ in Bezug auf ihre Produktionen wahrscheinlich am meisten zu hören bekommen. Der aktuelle Film „L’Enfant“ ist zur Zeit im Kino zu sehen und wurde schon in Cannes als Meisterwerk gefeiert. Lesch und Martig gehen der spezifischen Ästhetik der Dardenne-Filme nach, die sich unter anderem im Einsatz der subjektiven, sehr beweglichen Kamera äußert, die den Zuschauer mitten in das Geschehen versetzt und eine konsequente Distanzaufhebung bewirkt.

Der französische Regisseur Bruno Dumont, dessen Film „La vie de Jésus“ (der trotz des vielsagenden Titels nur eine metaphorische Verbindung zur tatsächlichen Jesusfigur aufweist) im Artikel von Reinhold Zwick behandelt wird, arbeitet ebenfalls daran, eine emotionale Verbindung zwischen dem Zuschauer und seinen Protagonisten herzustellen. Sein wichtigstes Mittel besteht dabei in der Erschaffung eines größeren metaphysischen Zusammenhangs, der seinen Figuren, trotz ihrer sozialen und moralischen Misere, eine zusätzliche spirituelle Dimension verleiht.

Der Beitrag von Gretel Freitag gilt dem Klassiker des italienischen Kinos Pier Paolo Pasolini. Die Autorin versucht das gesellschaftskritische Potenzial seiner Filme aus dem Batailleschen Begriff der Grenzüberschreitung heraus zu erklären, die an der sozialen Homogenität rüttelt und gleichzeitig eine Erfahrung der Sakralität erlaubt, die in modernen Konsumgesellschaften zu verkümmern scheint. Den sozialkritischen Tendenzen im britischen Kino ist der Artikel von Peter Hasenberg gewidmet, der sich hauptsächlich auf Ken Loach und Mike Leigh konzentriert. Die beiden Regisseure stehen in der Tradition des so genannten social realism und wenden sich den Alltagsproblemen ihrer Landesleute zu. Obwohl ihre Filme oft humorvolle Elemente aufweisen, ist die Sicht der Wirklichkeit, die darin vermittelt wird, insgesamt eher düster. Dies ist eine Konsequenz, die sich aus dem Anspruch ergibt, die Realität mit all ihren Schattenseiten und unversöhnlichen Widersprüchen, möglichst authentisch abzubilden. Der dokumentarische Charakter der Darstellung wird bei Loach auch durch die Besetzung der Rollen mit Laienschauspielern unterstrichen (ein Mittel, von dem auch die Dardennes-Brüder gerne Gebrauch machen).

Die Authentizität, die man in Spielfilmen mittels verschiedener technischer und ästhetischer Verfahren erst mühevoll (re)konstruieren muss, scheint in den Dokumentarfilmen, die einzig auf dem „realen“ Material basieren, bereits gegeben. Zumindest neigt der Zuschauer dazu, diesen Bildern von Anfang an mehr Vertrauen zu schenken, was aber, wie Alexander Darius Ornella in seinem Beitrag über Michael Moore und seinen Skandalfilm „Fahrenheit 9/11“ zeigt, nicht immer berechtigt ist. Denn Moore reißt seine „Fakten“ oft völlig aus dem Kontext heraus und kombiniert sie so frei, dass daraus eine komplett neue Realität entsteht, die in dieser Form nur in seinem Film vorkommt und einzig dafür geschaffen zu sein scheint, als Hintergrund für einen bestimmten politischen Appell zu dienen. Der Artikel, der Moores Montageprinzipien und Faktenverfälschungen sorgfältig enthüllt, geht dabei von einem Begriff des Dokumentarkinos aus, nach dem ein „guter“ dokumentarischer Film tatsächlich eine adäquate Wirklichkeitswiedergabe bieten sollte. Die Frage ist aber, ob es überhaupt einen „unverfälschten“ Dokumentarstil gibt. Oder ist „Farenheit 9/11“ vielmehr nur ein Extrembeispiel für den manipulativen Umgang mit der Realität, dem sich keine Dokumentation vollständig entziehen kann?

Mit der „Sozialkritik im Dogma-Stil“ beschäftigt sich der gleichnamige Artikel von Michael Staiger, in dem das Authentizitätproblem ebenfalls angesprochen wird: Haben doch die beiden Gründungsväter der Dogma95-Bewegung, Lars von Trier und Thomas Vinterberg, die Verabschiedung vom „illusionistischen“ Kino auf ihre Fahnen geschrieben. Der in aufwendigen Hollywoodproduktion verloren gegangene Bezug zum wahren Leben sollte mit Hilfe von Handkameras und authentischen Drehorten wieder hergestellt werden. Doch der Wahrheitsanspruch von Dogma erweist sich, wie Staiger bemerkt, angesichts der postmodernen Diffusion des Wahrheitsbegriffs eher als ein ironisches Spiel mit den Publikumserwartungen, das zur Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Grenzen des Kinos herausfordert, ohne jedoch die Absicht, dem Kino seine „verlorene Unschuld“ wiederzugeben, jemals ernsthaft gemeint zu haben.

Das deutsche Kino wird durch den Regisseur Andreas Dresen repräsentiert, der sich mit solchen Filmen wie „Nachtgestalten“ oder „Die Polizistin“ einen Namen als feinfühliger Gesellschaftsbeobachter machte. Der Analyse seiner Filme widmet sich ein Artikel von Günter Weyrich. Im Anhang findet sich darüber hinaus ein Interview mit Peter Kahane, das das Themenspektrum des Bandes erweitert, indem Kahane auch seine Arbeit als Regisseur in der DDR in das Gespräch mit einbezieht.

Anzumerken bleibt noch, dass der Band in der Schriftenreihe „Film und Theologie“ erschienen ist und die Ergebnisse der gleichnamigen Forschungsgruppe präsentiert. Die theologische Dimension wird also bei jedem Artikel mitbedacht, was freilich keine künstliche Eingrenzung des Problemstellung zur Folge hat, sondern vielmehr als Chance zur Erweiterung des Forschungshorizonts genutzt wird.

Walter Lesch/Charles Martig/Joachim Valentin (Hg.)
Filmkunst und Gesellschaftskritik
Sozialethische Erkundungen.
Marburg: Schüren 2005 (Film und Theologie 7)
200 Seiten (Paperback), 100 Abb., 16,90 Euro
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