Wohin ruft der Berg?

Extreme Erlebnisreisen haben zur Zeit hohe Konjunktur. Ebenso bildgewaltige Filme, die vor beeindruckenden Naturkulissen spielen. „Kekexili“ nimmt scheinbar Bezug auf beides, indem er eine Bergpatrouille auf ihrem Weg durch die tibetische Wildnis verfolgt, entzieht dem Zuschauer aber gleichzeitig fast jede Möglichkeit, diese Bilder im üblichen Sinne als schön zu konsumieren. Jedes Mal, als sich die Begeisterung für die exotischen Landschaften anzubahnen beginnt, wird man sofort mit ihren zerstörerischen Seiten dermaßen hart und realistisch konfrontiert, dass die Berge am Ende statt der Abenteuerlust und des touristischen Enthusiasmus nur noch Angst und Abscheu hervorrufen. Irgendwie erinnert das an die brutale Therapie in „Clockwork Orange“, wo dem Kriminellen Alex die Lust an Verbrechen dadurch genommen werden sollte, dass die bis dahin als anregend empfundenen Gewaltphantasien im Gehirn automatisch an den Übelkeitsreiz gekoppelt wurden. Will hier der Regisseur Lu Chuan uns den Spaß an der lustvollen Naturausbeutung verderben und die Ehrfurcht vor der Welt beibringen, die nicht von uns erschaffen wurde? Oder polemisiert er vielmehr mit der Domestizierung der exotischen Naturbilder, die vom Kino so intensiv betrieben wird?

Das eigentlich Erschreckende an dem Film ist aber nicht sein Naturbegriff, sondern die Erkenntnis, dass es im Endeffekt gar nicht um die Natur geht. Aus den Bergen könnte man noch rechtzeitig fliehen, wenn es einen anderen Ort gegeben hätte, der Geborgenheit und Schutz bieten würde. Aber genau dieser Ort existiert in „Kekexili“ nicht. Vor den existenziellen Problemen, mit denen sich die Menschen in der Wildnis rumschlagen müssen, treten die reinen Naturgewalten eher in den Hintergrund oder erscheinen sogar als eine willkommene Erlösung aus den Fängen der Zivilisation, die das Individuum noch viel stärker zur Unbeweglichkeit verdammen als die Sandwehen. Das Attraktive an den Bergen ist die Illusion, sich der staatlichen Kontrolle zu entziehen, was aber verhängnisvollerweise nur über den Verlust der Selbstkontrolle funktioniert.

Wenn der Anführer der Bergpatrouille Ri Tai (Duo Bujie) kurz vor dem tragischen Schluss erwähnt, dass es wichtigere Dinge gibt, als das Überleben, bezieht sich das kaum auf die Aufgabe der Patrouille, die darin besteht, die Population der tibetischen Antilope vor den Wilderern zu retten. Es geht vielmehr um die Fähigkeit des Individuums, seinen Willen durchzusetzen – sowohl gegen die Natur als auch gegen das Staatsgesetz, das von der Mannschaft umso kühner übertreten wird, je weiter sie sich in die Wildnis traut. Was hier ausgetragen wird, ist der Kampf um Anerkennung, wie er in der Hegelschen Herr- und Knecht-Dialektik zum Ausdruck kommt. Denn nur durch die Überwindung des „dinglichen“ Daseins und der Angst vor dem Tod kann der von dem Herrn unterdrückte Knecht den eigenen Anspruch auf die würdige Existenz behaupten. Indem er sein Leben riskiert, befreit er sich aus dem ihm auferlegten Abhängigkeitsverhältnis in einem Akt der Selbstbehauptung, der freilich mit der (Selbst)Vernichtung zusammenfallen kann.

Eine selbstreflexive Dimension erhält der Film dadurch, dass ein Journalist (Zhang Lei) im Rahmen der Handlung die Patrouille mit der Kamera begleitet und die lebensgefährliche Expedition zu dokumentieren versucht. Ironischerweise bringt es der Journalist aber nicht fertig, das Wichtigste aufzunehmen, stolpert dem Geschehen (das sich oft an mehreren Schauplätzen gleichzeitig ereignet) gerade noch hinterher und scheitert schließlich daran, die extreme Realität in angemessene Bilder zu bannen. Was er der Öffentlichkeit übermitteln wird, ist aller Wahrscheinlichkeit nach nur ein blasser Schatten der Wirklichkeit. Somit stellt der Film auch den eigenen „Realismus“ in Frage und lässt hinter seinen Bildern das „Undarstellbare“ vermuten, das sich jeder Wiedergabe verweigert.

Kekexili – Mountain Patrol (Kekexili)
(China/Hongkong 2004)
Regie: Lu Chuan, Buch: Lu Chuan, Ton: Song Qin, Kamera: Cao Yu
Darsteller: Duo Bujie, Zhang Lei, Qi Liang, Zhao Xueying, Ma Zhanlin u.a.
Länge: 95 Minuten
Verleih: Die TelePaten

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