Das ewige Fern(seh)weh

Am Tag als Bobby Ewing starb, Deutschland 2005, Lars Jessen

Eines der grundlegenden Probleme unserer Existenz ist die Unmöglichkeit, das Leben in seiner ganzen Fülle zu erfassen. Es ereignet sich zur gleichen Zeit an zu vielen verschiedenen Orten, so dass wir niemals sicher sein können, das Relevante zu erleben. „Das wahre Leben ist abwesend“, – klagte noch Arthur Rimbaud in seinem Prosawerk „Ein Aufenthalt in der Hölle“. Doch in unserer Zeit ist dieses Gefühl noch gravierender geworden, denn die Medien und die Unterhaltungsindustrie sind dauernd damit beschäftigt, uns die parallel existierenden Welten vorzuführen bzw. sie eigens dafür zu erschaffen, ohne dass wir unmittelbar an ihnen teilhaben können. Nie ist also das Fernweh (das man jetzt auch als Fernsehweh bezeichnen könnte) so eindringlich gewesen, wie in der Postmoderne.

Genau dieses Gefühl der Verlorenheit in der unüberschaubaren Wüste der Existenz, wo man vielleicht zufälligerweise nicht den besten (geographischen oder chronologischen) Standort erwischt hat, wird zur Grundstimmung der neuen deutschen Produktion „Am Tag als Bobby Ewing starb“. Das Leben im Örtchen Brokdorf des Jahres 1986 verläuft in ständigen Träumereien, die durch die „Dallas“-Serie genauso genährt werden, wie durch die vagen Erinnerungen an die vermeintlich besseren Tage, die sich von den ebenfalls vagen Zukunftsphantasien kaum unterscheiden lassen. Nicht zufällig beginnt der Film mit einer narrativen Rückblende, die uns in einer Reihe von amateurhaften Aufnahmen einen flüchtigen Einblick in die Vergangenheit der beiden Protagonisten – Hanne (Gabriela Schmiede) und ihres Sohnes Niels (Franz Dinda) – erlaubt. Hier aber taucht bereits die Frage nach der Zuverlässigkeit der (überlieferten) Bilder auf, denn was mit der Amateurkamera für die Familienchronik festgehalten werden kann, sind überwiegend glückliche Gesichter und winkende Hände. Die wahre Familiengeschichte bleibt zunächst verborgen und offenbart sich erst in den Dialogen: Hanne, die chronisches Unglück mit Männern hatte, befindet sich nach der letzten Scheidung im finanziellen Ruin. Ihr gesamter Besitz (samt dem siebzehnjährigen (Mutter)Söhnchen) passt jetzt in einen alten Wagen, mit dem sie sich in die norddeutsche Provinz mit dem Endziel Brokdorf begibt. Dort muss noch eine letzte Kommune der gesellschaftlichen Aussteiger erhalten geblieben sein, die unermüdlich gegen den Bau eines Atomkraftwerks (das übrigens schon längst gebaut ist) protestieren. Dieser Gemeinschaft möchte sich Hanne nun als neue Sozialarbeiterin anschließen.

Über scheinbar belanglose Witze, die das mäßig bunte und nur bedingt wilde Leben in der Kommune berühren, führt uns der Film nebenbei zur bitteren Erkenntnis der Absurdität der gesellschaftlichen Strukturen, die die Möglichkeit einer politischen Beteiligung nur simulieren (genauso wie „Dallas“ dem Zuschauer nur eine Illusion eines „wahren Lebens“ vorführt). Die vermeintlichen Rebellen, die sich in einem Widerstand zur Staatsgewalt glauben, werden in ihrer „nonkonformistischen“ Lebensweise eben von diesem Staat finanziell unterstützt, d. h. kontrolliert und zugleich integriert. Die Protestbewegung entpuppt sich als organischer Teil der wohlfunktionierenden Gesellschaftsmaschine, von der es kein Entrinnen gibt – und schon gar nicht in einer pazifistischen Kommune. Vor dieser Einsicht flüchtet man im Film ebenfalls in die Schwärmereien, und zwar: von den wilden 60-ern, die in den Erinnerungen des notorisch gewaltbereiten Eckhard (Richy Müller) als eine mythisch entrückte Heldenzeit beschwört werden.

Mit dem Voranschreiten der Handlung gelangt aber Hannes Sohn Niels immer mehr in den Vordergrund, was dramaturgisch sowohl Vorteile als auch Verluste bringt. Einerseits können wir das Kommunenleben aus seiner (mit gesunder Skepsis behafteten) Perspektive betrachten, die vielleicht noch am ehesten von dem heutigen Zuschauer geteilt werden kann. Andererseits aber fokussiert sich die Handlung so immer mehr auf die Teenagerprobleme, die im Film leider nicht weit über die üblichen Klischees hinausgehen. Die Jugend symbolisiert natürlich den Hang zur Anarchie, welcher der älteren Generation abhanden gekommen zu sein scheint. Diese Anarchie hat allerdings ihre (vernünftigen) Grenzen, was schon das Kondom andeutet, das Niels von seiner Freundin Martina (Luise Helm) vor dem Liebesakt während eines wilden nächtlichen Ausfluges übergezogen bekommt. Die Liebe im Freien ist also doch nicht mehr so frei, wie sie noch in den 60-ern oder in den 70-ern sein könnte: Das Zeitalter von AIDS fordert unerlässliche Vorsichtsmaßnahmen und freiwillige Selbsteinschränkungen. Die Rückkehr zum Idealzustand (und zur Idealrebellion) ist problematisch geworden.

Wenn sich das wahre Leben woanders abspielt, dann ereignen sich auch die großen Katastrophen nur in größtmöglicher Entfernung. An einem Tag wird die Kommune gleich von zwei Nachrichten erschüttert, die auf „Parallelwelten“ verweisen: Der Tod von Bobby Ewing in „Dallas“ und die Explosion des Atomkraftwerkes in Tschernobyl. Das Fernsehen erlaubt Anteilnahme und weckt zugleich das beunruhigende Gefühl der Abwesenheit am Ort der Entscheidung sowie der Ohnmacht, etwas gegen das globale Unglück zu unternehmen. Die Kommune gibt sich in ihrem ökologischen Kampf gescheitert und wird vom Anführer Peter (Peter Lohmeyer) verlassen. Niels trifft die Entscheidung, zum Bund zu gehen. Die soziale Auflehnung erscheint für einen Moment wie eine (mehr oder weniger harmlose) Kinderkrankheit, die die Gesellschaft auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden zu überwinden hat. Doch der Film endet – etwas unerwartet – mit Bildern von demonstrierenden Antiglobalisten, die aus heutiger Zeit stammen könnten oder sogar schon die zukünftige Perspektive andeuten. Wird die linke Bewegung ihre Krise überwinden und den Sprung von der satirischen Filmfarce zum Politdrama schaffen? Die Frage, die an das Leben gestellt zu sein scheint, wendet sich letztendlich wieder an die Formen der medialen Repräsentation: Denn es ist der Regisseur, bei dem die Wahl der Bilder liegt und der die Macht hat, durch ihre Auswahl und Kombination, die (abwesende) Wirklichkeit in jedem beliebigen Genre neu zu erschaffen.

Am Tag als Bobby Ewing starb
(Deutschland 2005)
Regie: Lars Jessen; Buch: Ingo Haeb, Lars Jessen; Kamera: Andreas Höfer; Musik: Element of Crime, Jakob Ilja, Paul Rabiger
Darsteller: Gabriela Maria Schmeide, Peter Lohmeyer, Franz Dinda, Richy Müller, Nina Petri u.a.
Länge: 95 Minuten
Verleih: jetfilm

Ekaterina Vassilieva-Ostrovskaja

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