Wenn man den Alltag einer westeuropäische Familie in einer anspruchsvollen Filmproduktion möglichst realistisch und detailliert festzuhalten versucht, dann wird das aller Wahrscheinlichkeit nach eine ziemlich düstere Geschichte, wie etwa „Der siebente Kontinent“ von Michael Haneke. Die idyllischen Familienerzählungen aus dem Westen haben schon lange ihre ästhetische Glaubwürdigkeit eingebüßt und stehen per definitionem unter Kitsch- und Konservatismusverdacht. Ein Ausgleich wird nun in den Stoffen gesucht, die sich auf den außereuropäischen Raum beziehen, wo sich die „heile (Familien)Welt“ vermutlich noch tatsächlich bewahren konnte. Der aus der westlichen Sicht unkomplizierte (und darum „unverdorbene“) Alltag in den fernen Ländern, die von der Zivilisation weitgehend „verschont“ sein sollen, wird zur Projektionsfläche für die akuten Sehnsüchte des Publikums nach Harmonie und Spiritualität, die auf diese Weise durchaus legitim befriedigt werden können und nicht zwingend im Widerspruch zum (guten) künstlerischen Geschmack stehen müssen.
„Die Höhle des gelben Hundes“, von der Regisseurin Byambasuren Davaa in ihrer Heimat, der Mongolei, gedreht, konstruiert eine utopische Welt, in der der Alltag und das Märchen voneinander kaum unterscheidbar sind. Das spiegelt sich auch in der Machart des Films wider, in dessen Mittelpunkt eine reale fünfköpfige Nomadenfamilie steht, deren Mitglieder quasi sich selbst spielen. Aber der scheinbar dokumentarische Charakter trügt, denn sie spielen nur eine märchenhafte Fabel nach, die um die alte mongolische Legende vom gelben Hund aufgebaut ist. Und doch kann der Film seinen dokumentarischen Anspruch teilweise rechtfertigen, da die eigentliche Handlung letztendlich in den Hintergrund tritt, um Bildern aus dem Familienalltag, die das Filmgeschehen fast vollkommen dominieren, platz zu machen. „Du darfst nicht mit Gott spielen“, – sagt eines der Mädchen zu seinem kleinen Bruder, als es ihn mit einer Buddha-Statue am Spiegeltisch hantieren sieht. Aber in der Tat tut der Film nichts anderes, als „mit Gott spielen“, denn jede noch so routinierte Handlung, wie Tellerwaschen oder auf die Herde Aufpassen, erfährt auf der Leinwand ihre Verwandlung zu einem metaphysischen Zeichen, das einen ungezwungenen, „natürlichen“ Zugang zu der begehrten Sphäre der Transzendenz erlaubt.
Bei all der Unterschtreichung der traditionellen Lebensführung und dem Akzent auf dem historischen Erbe, gelingt es Regisseurin, der Legende, die zur Vorlage für die Filmfabel wurde, sehr moderne Züge abzugewinnen, die sogar in die psychoanalytische Richtung weisen. In der alten mongolischen Legende geht es nämlich um einen großen gelben Hund, der das Haus einer Familie bewachte, deren Tochter eines Tages scheinbar grundlos krank wurde. Sie konnte von keinem Arzt geheilt werden, bis ein weiser Alte empfahl, den Hund umzubringen. Der Vater konnte es nicht über sich bringen, seinen Liebling zu töten und hat ihn in einer Höhle versteckt, aus der er jedoch bald verschwunden ist. Und als der Hund weg war, konnte die Tochter geheilt werden. Als der wahre Grund für ihre Krankheit hat sich die Liebe zu einem jungen Mann herausgestellt, mit dem sie sich wegen dem wachsamen Hund nicht frei treffen konnte. Der gelbe Hund stellt hier also eine Personifikation der Strenge des Vaters dar, die bei der Tochter, modern gesprochen, eine Neurose hervorruft, da sie in der Entfaltung ihrer Sexualität gehindert wird. Bei Byambasuren Davaa jedoch existiert diese Geschichte nur als Folie für eine andere, in der die Verhältnisse zwischen dem Vater und der Tochter scheinbar umgedreht werden. Diesmal ist es die sechsjährige Nansa, die ihren Hund behalten will, den sie während eines Ausflugs in einer Höhle entdeckt hatte. Dieser Hund, der den Namen Zochor bekommt, ist freilich weder groß noch gelb, sondern klein und schwarzweißgefleckt, und er wird sofort zu Nansas bestem Spielkameraden. Auf die Forderungen des Vaters, den Hund in der Steppe auszusetzen, reagiert sie deshalb mit Trauer. Der Hund steht in diesem Fall also für das zarte, noch undefinierte Begehren der Tochter, das durch die Autorität des Vaters unterdrückt werden soll… Es wird also im Film nicht nur mit Gott, sondern auch mit Freud auf eine sehr unterhaltsame, aber auch ernste Weise gespielt.
Im Finale müssen wir die Familie Batchuluun nicht verlassen. Nach der Logik des Nomadenlebens ist sie es, die in die Ferne aufbricht und sich langsam unserem beobachtenden Blick entzieht. Ein Motorrad wird dabei zusammen mit anderen „Haushaltsutensilien“ in einer Karre gefahren. Aber der „korrumpierende“ Einfluss der Zivilisation kann nicht mehr lange im Zaum gehalten werden: Ein Auto mit Flugblättern, die für Wahlen agitieren, kommt der archaisch anmutenden Karawane bereits entgegen. Auch wenn der Mensch den Staat zum Überleben nicht braucht, so brauch der Staat den Menschen auf jeden Fall, um politisch überleben zu können. Deshalb gibt es für das Fortbewegen der Nomadenfamilie wahrscheinlich nur eine Richtung – zum Einbinden in eine größere Gemeinschaft, und zwar: gewollt oder ungewollt.
Die Höhle des gelben Hundes
(Deutschland 2005)
Regie: Byambasuren Davaa; Buch: Byambasuren Davaa; Kamera: Daniel Schönauer; Schnitt: Sarah Clara Weber; Musik: Ganpurev Dagvan, Munkh-Erdene Chuluunbat
Darsteller: Urjindorj Batchuluun, Buyandulam Daramda Batchuluun, Nansal Batchuluun, Nansaamaa Batchuluun, Batbayar Batchuluun, Tserenpuntsag Ish
Länge: 93 Minuten
Verleih: X Verleih
Ekaterina Vassilieva-Ostrovskaja