Leidensgeschichte(n)

Dass die Faszination für die Frage nach dem Gedächtnis auch nach einer zweitausendjährigen Geschichte noch ungebrochen ist, mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, „dass das Gedächtnis“, wie es Walter Benjamin einst kongenial formulierte, „nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist sondern deren Schauplatz“. Benjamin fasst an dieser bekannten Stelle seines Oeuvres das Gedächtnis als Medium des Erlebten auf, was dazu führt, dass er sich dicht an die Freudsche Metapher des Grabens, dem eigenen Erinnern anvertraut. Was diesen fast schon epischen Schauplatz aber auszeichnet, – und davon zeugt auch Benjamins eigene Biographie – ist die mannigfaltige Erfahrung von Schmerz, der sich in die eigene und fremde Geschichte einschreibt, wie das platonische Sigel ins Wachs.
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Das Imperium der Wölfe

Das Sprechen über Jean Reno ist immer auch das Sprechen über einen europäischen Ausnahmeschauspieler, der es in seiner Carriere zu einigem Ruhm und Ansehen gebracht hat – und das nicht unverdient. Auch wenn sein Hang zu zwielichtigen „Bullen-Figuren“ in den letzten Jahren nicht nachgelassen hat, muss man doch ohne weitere Einschränkung zugeben, dass dies auch genau die Art von Rollen sind, die dem mittlerweile in die Jahre gekommenen Reno wie auf den Leib geschrieben zu sein scheinen.
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Zwischen Affirmation und Aleatorik – Adorno und die Spaßkultur

Zu seinem hundertsten Geburtstag ist der Philosoph, Soziologe und Musiktheoretiker Theodor W. Adorno (1903–1967) mit zahlreichen Ehrungen, Symposien und Sondersendungen bedacht worden. Das Adorno-Jahr 2003 hat naturgemäß auch eine Flut von Publikationen gebracht. Das Spektrum ist dabei außerordentlich breit und reicht von der höchst seriösen, DFG-geförderten Mammut-Biographie bis hin zu eher belanglosen Bändchen, die der „Nippifizierung“ (Ulrich Holbein) des Philosophen Vorschub leisten.
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Fantastic Four – Feuer, Gummi, Luft und Erde

Fantastic Four, USA/D 2005, Tim Story

Soviel steht fest: Das Comic-Zeichnen hat sich im Computerzeitalter endgültig von der 2. Dimension verabschiedet und ist nahezu unmerklich in den Bereich der Simulation hinüber gedriftet. Dass diese Zeit einmal anbrechen würde, musste Bernd Eichinger in weiser Voraussicht schon geahnt haben, als er vor 20 Jahren die Filmrechte an dem Marvel Klassiker „Fantastic Four“ erstanden hatte. Damit bringt er etwas zusatnde, dem viele Comicfans (und Computerfans) seit nunmehr vier Jahrzehnten entgegen fiebern.
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Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen

Die Geschichte des Menschen schreibt sich als eine Geschichte der Gewalt. Als paradigmatische Epoche für diesen Umstand gilt landläufig das Mittelalter, in dem die Gewalterfahrung ein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens war. Mit dem Aufkommen der Höfischen Literatur im 12. Jhd. sowie der Städtischen Literatur seit dem 14. Jhd. und der damit einhergehenden Verbreitung der Schriftsprache, erreichte dieses zentrale Thema seine Blüte. Von den frühen französischen Heldenepen, den „chansons de geste“, über Boccaccios „Decameron“ bis hin zur Märendichtung eines Heinrich Kaufringers oder Hans Rosenplüts wurde Gewalt als literarischer Gestus unter verschiedensten Gesichtspunkten dem Pergament überantwortet. Selbst dort wo man einen gewaltfreien Diskurs vermuten würde – in der Minnelyrik – gelangte sie häufig codiert zur Darstellung.
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Die konservative Destruktion oder Der entwendete Finger

House of Wax, USA 2005, Jaume Collet-Serra

Es ist schon erstaunlich, wie schwer es zuweilen fällt, einem „guten“ Film eine bestimmte Thematik zu unterstellen und wie es im Gegenzug oft dazu kommt, die mangelnde Qualität eines „miesen“ Films dadurch zu kompensieren, dass man diesem alle möglichen Metatexte unterschiebt, obwohl es den Leser normalerweise dazu drängen würde, die guten alten Werkzeuge der Kritischen Theorie hervor zu kramen und die Schemata frei zu kratzen, die oftmals das Kanonenfutter für ein vernichtendes Urteil liefern. Solche Filme polarisieren Zuschauer wie Kritiker gleichermaßen; letzteres Beruf ist es ja eigentlich, derartigen Problemen kühn ins Auge zu spucken.
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Die Helden des technischen Zeitalters – StarWars Episode III

Star Wars Episode III – Die Rache der Sith, USA 2005, George Lucas

Es gibt Märchen, die einen guten Ausgang haben, solche die schlecht ausgehen und solche, bei denen man nicht weiß, ob das Ende gut war oder nicht. Das Märchen, so heißt es, spiegelt die Probleme der Alltäglichkeit auf einer symbolischen Ebene wider und zeichnet sich meist dadurch aus, dass der Held oder die Heldin, in der Regel aber ein Adoleszent, eine geistige, moralische oder sonst wie geartete Entwicklung durchmacht, an deren Ende sich die Gewissheit des guten Gelingens bestätigt und der Leser sich in Zuversicht der moralischen Erkenntnis zurücklehnen darf. Dass es auch anders geht, zeigt beispielsweise das Märchen vom Fischer und seiner Frau. Hier siegt am Ende bestenfalls die Einsicht, dass Wohlstand den Menschen nicht bessern kann; also sind auch solche Märchen, die schlecht ausgehen, eigentlich gute Märchen. Was beide Arten nun verbindet ist demnach die oft zitierte „Moral der Geschichte“, die uns den Alltag zu meistern helfen soll.
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Media Synaesthetics – Konturen einer physiologischen Medienästhetik

Christian Falk u.a. (Hgg.): Media Synaesthetics, Köln: Herbert von Halem Verlag 2005

Seit dem frühen 19. Jahrhundert gab es eine Reihe anthroposophischer, medizinischer und okkultistischer Diskurse über die kulturgeschichtlich motivierte „Spezialisierung“ der Sinne. Die Vorherrschende Meinung dabei war, dass bei diesem Prozess ein universelles Wissen verschüttet worden sei, das heute unter dem Begriff der genuinen Synästhesie, also der synthetischen Verflechtung einzelner Sinne, in der Kognitionsforschung Einzug hält. Die Forschung bezieht diesbezüglich zwei Positionen, wobei die eine Seite die Auffassung vertritt, dass die Spezialisierung und Isolierung eines einzelnen Sinnes (bsp. Sehsinn) eine „zivilisationsgeschichtliche Erkenntnisleistung“ (Mattenklott, Gehörgänge, 2001) ist, während die andere Seite diesen Aspekt aus kulturpessimistischer Warte als Versklavung der Einzelsinne unter dem massenmedialen Diktum der Gutenberg-Galaxis (Serres, Die fünf Sinne, 1998) versteht.
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Simulation der Fakten und faktische Simulation

Wir leben im „Zeitalter der Simulation“, so die schlagkräftige These eines berühmten Pariser Philosophen. Der Name des Philosophen lautet – und dies dürfte weitestgehend bekannt sein – Jean Baudrillard. Was mit dem Zeitalter der Simulation gemeint ist, lässt sich hingegen nicht so einfach in Worte fassen, da jedes Statement darüber selbst diesem Zeitalter angehört und somit eine objektive Aussage über dessen Sinn verweigern würde. Aber genau darum geht es Baudrillard: Um die Unmöglichkeit verbindlicher Aussagen in Zeiten medialer Kommunikation und die damit verbundenen offenen Fragen über Echtheit und Authentizität, deren Beantwortung zwangsläufig in ein Paradoxon führen. Baudrillard entwickelt in seinen Schriften viele solcher Paradoxa und führt uns damit immer wieder eindrücklich die Sinnlosigkeit medial Vermittelter Authentizitätsbekundungen vor Augen.
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Die Dolmetscherin

Die Dolmetscherin, USA 2005, Sydney Pollack

Es wäre vielleicht zuviel des Guten, wenn man einen Film, der die Frage nach der Beweiskraft der gesprochenen Sprache stellt, mit dem metaphysischen Streit über das Vorrecht der Stimme vor der Schrift in Verbindung bringt. Jedoch lassen sich diese tiefgründigen Sophistereien nicht wirklich ausblenden, wenn es sich dabei um einen Film handelt, dessen Thema gerade die Rolle der Stimme im globalen Machtpoker beschreibt. Sydney Pollacks neuestes Werk „Die Dolmetscherin“ stellt in einem packenden Polit-Thriller das Spielfeld internationaler Diplomatie dar und nimmt dabei dezidiert Stellung zur amerikanischen Außenpolitik, den jüngsten Entwicklungen in den Krisenregionen und zur Position der Vereinten Nationen.
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The Statement

The Statement, USA 2003, Norman Jewison

Wenn Slavoj Zizek die nationalen Besonderheiten deutscher, französischer und amerikanischer Toiletten beschreibt, hat die Sache weniger mit der Entsorgung menschlicher Exkremente zu tun, als mit Ironie. Jede Bauform spiegelt besondere Aspekte der jeweiligen Mentalität wieder, die, so scheint es, auf sozio-psychologischer Ebene ihren Anfang nehmen. Dabei stellen die deutschen „feuillées“ die hygienische Ordnung und das medizinische Interesse am eigenen Körper dar; die französische den impulsiven und radikalen Charakter seiner Erbauer und die amerikanische einen Hybrid aus den beiden anderen, der vorwiegend dem Pragmatismus dieses Volkes geschuldet ist. Was Zizek damit zeigt, ist schlicht und ergreifend die Tatsache, dass, wann immer man es mit dem nationalen Charakter zu tun hat, Klischees im Spiel sind.
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Biografie im Film

Dieses Frühjahr scheint die Zeit der Filmbiografien zu sein. Gleich ein ganzes Hollywoodgenre meldet sich mit historisch inszenierten Portraits berühmter Männer und Frauen zurück und besetzt dieser Tage die Programmlisten der Lichtspielhäuser. Angefangen bei »Alexander der Große« (Oliver Stone), über die Geschichte von Howard Hughes in »Aviator« (Martin Scorsese) bis hin zu »Sophie Scholl« (Marc Rothemund) und »Kinsey« (Bill Condon).
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Casshern – Im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit

Wir schreiben eine ferne Zukunft, deren Gesicht die Züge archaischer Technisierung und gigantomanischer Fortschrittsgläubigkeit trägt. Die Technik hat ihre Entwicklung zu einer zweiten Natur vollendet und die Dystopie einer Welt voll Krankheit, Seuchen und einem Krieg um den eurasischen Kontinent, der an die beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts erinnert, zur Realität werden lassen. Inmitten dieser von Zerrüttung gezeichneten Welt gelingt dem Wissenschaftler Azuma die Erlösung versprechende Erfindung der Neo-Cells; Stammzellen, aus denen sich lebende Materie generieren lässt. Azuma, der von dem Gedanken an die Heilung seiner todkranken Frau besessen ist, merkt nicht, wie die amtierenden Machthaber – allesamt alte, kranke Männer – seine Erfindung für ihre eigenen Bedürfnisse missbrauchen wollen.
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Derrida/derrida

»Was über diesen Abschluss hinausreicht ist nichts:
weder Präsenz des Seins, noch der Sinn, noch die Geschichte,
noch die Präsenz; sondern Anderes, das keinen Namen hat,
das sich im Denken dieses Abschlusses ankündigt und hier unsere Schrift leitet.«
(Derrida, Grammatologie, S. 491)

»Schrecklich doch, o Phaidros,
hat doch die Schrift Ähnlichkeit mit der Malerei.«
(Platon, Phaidros, 275 d)

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