Leidensgeschichte(n)

Dass die Faszination für die Frage nach dem Gedächtnis auch nach einer zweitausendjährigen Geschichte noch ungebrochen ist, mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, „dass das Gedächtnis“, wie es Walter Benjamin einst kongenial formulierte, „nicht ein Instrument zur Erkundung der Vergangenheit ist sondern deren Schauplatz“. Benjamin fasst an dieser bekannten Stelle seines Oeuvres das Gedächtnis als Medium des Erlebten auf, was dazu führt, dass er sich dicht an die Freudsche Metapher des Grabens, dem eigenen Erinnern anvertraut. Was diesen fast schon epischen Schauplatz aber auszeichnet, – und davon zeugt auch Benjamins eigene Biographie – ist die mannigfaltige Erfahrung von Schmerz, der sich in die eigene und fremde Geschichte einschreibt, wie das platonische Sigel ins Wachs.

schmerz_1.jpgUmso Interessanter verspricht es demnach aber zu werden, wenn der Versuch unternommen wird, diese beiden Großen Themen zusammen zu führen. In dem 2005 bei Fink erschienenen Sammelband „Schmerz und Erinnerung“, herausgegeben von Roland Borgers, wird dieser Versuch gewagt. Wohl bemerkt: der „Versuch“! Denn nach eigenen Angaben ist der Band nicht nur eine thematische Aufsatzsammlung, sondern soll die Eröffnung eines neuen Forschungsfeldes markieren. Nun gibt das Buch nicht vor, eine Geschichte der Schmerzleiden oder der Tortur zu schreiben, wie sie schon in mannigfachen Ausführungen zum Gebot stehen; vielmehr geht es dem Herausgeber und den Autoren darum, Konzepte schmerzhafter Gedächtnisinschrift herauszustellen und in einem kulturtheoretischen Rahmen zu umreißen.

Die Autoren die sich diese Aufgabe gestellt haben, kommen größtenteils aus den Fachbereichen Philosophie, Literatur-, Kunst-, und Religionswissenschaften, was die Ausgabe von vornherein in eine geisteswissenschaftliche Opposition bringt. Zum einen werden die Thesen auf der Basis einer fundamentalen Trennlinie zwischen körperlichen und seelischen Schmerzen elaboriert, was weiter zu der Annahme führt, dass diese Trennung nicht nur kulturspezifisch, sondern auch anthropologisch deutbar ist. Nicht nur die Erinnerung unterliegt einem ständigen Wandel, auch die Schmerzerfahrung ist aufgrund ihrer Einbettung in bestimmte individuelle und kollektive Erinnerungsmuster einer ständigen Veränderung unterzogen. Und doch, so die These, lässt sich Schmerz nicht nur aus der Empirie ableiten, sondern auch aus den Erinnerungsspuren, die er hinterlässt. Zum anderen wird versucht das konstruktive Moment des Schmerzes und der Schmerzerfahrung zu beleuchten. Hier setzt der Band auch einige seiner grundlegende Fragestellung an: Wie ist der (körperliche) Schmerz auf die Erinnerung bezogen? Wie erzeugt Schmerz eine Erinnerung? Warum ist Erinnern ein Prozess des Schmerzhaften? Und wie wird Schmerz erinnert?

Vor diesem Hintergrund legen die Autoren eine erstaunliche Vielfalt unterschiedlicher Ansätze an den Tag, die von der Analyse antiker monstrositas-Ikonographie, über erkenntnistheoretische Zugänge barocker Schmerzgedichte bis hin zur Deutung der Tätowierkultur im 13. Jahrhundert und der Stigmatisierungs-Mythen heilsgeschichtlicher Christuslegenden reicht. Gerade letzteres bildet einen Schwerpunkt des Sammelbandes. Tatsächlich lassen sich an der christlichen Stigmatisierungs- und Transsubstanziations–Mystik eine Reihe kulturanthropologischer, kulturphilosophischer und kulturgeschichtlicher Indifferenzpunkte dingfest machen. Besonders Hans-Walter Schmidt-Hannisa nimmt in seinem Essay „Eingefleischte Passion – Zur Logik der Stigmatisierung“ eine gelungene Einsicht in die Geschichte und die Mechanismen christlicher Leidensmetaphorik vor.

Sein Thema ist die Erinnerung an christliche Heilsversprechen durch Schmerz-Erzeugung. Dabei geht er auf die Geschichte der Passionsmystik ein, die, beginnend bei der Stigmatisierung des Franz von Assisi, durch ein übergreifendes System von „Zwang und Widerholungszwang“ den Büßenden zur imitatio christi, also zur Nachahmung des Leidenswegs Jesu verleitet. Er stellt diese Einsicht dem anderen großen Konzept, der Eucharistie, entgegen, bei welchem die Fleischwerdung Christi nicht durch einen Prozess der Einschreibung sondern durch Einverleibung stattfindet.

In seinen Recherchen führt Hannsia schließlich die beiden konkurrierenden Modelle eng und kann so deren Überschneidungspunkte deutlich machen, die er in einer Logik der Erneuerung durch Überbietung sieht: das Versprechen der Erlösung wird erinnert, indem man Schmerz erzeugt und mehr noch: Indem man die Zeichen christlicher Passion in das Fleisch einschreibt, bekommen die Stigmatisierten einen Mehrwert zugesprochen, der sie selbst wieder zum Gegenstand der Geschichtsschreibung werden lässt. Damit berührt Hannsia freilich implizit die Frage nach der Entwicklung des westlichen Schriftsystems und dessen semantischer Aufladung im christlichen Kulturkreis.

Dass es sich nun bei dem vorliegenden Band um eine Aufsatzsammlung handelt, kann sowohl als Stärke wie auch als Schwäche ausgelegt werden. Gelungen ist der Konvolut einerseits, weil er auf diese Weise eine ganze Reihe unterschiedlicher Autoren zu Wort kommen lässt, die einen relativ breit angelegten Eindruck dieses neuen Forschungsfeldes vermitteln. Nachteilig ist diese Herangehensweise, da die Texte sehr ungleich gewichtet sind; einige Essays literaturwissenschaftlicher Provenienz greifen kaum über die Grenze der Textanalyse hinaus; auch bleibt die Frage nach der Pädagogik unbeantwortet, die den Kanon der vertretenen Kulturwissenschaften sicher gut ergänzt hätte, da sich gerade hier ein Thema von aktueller Relevanz geboten hätte.

Dieser letzte Kritikpunkt sollte jedoch nicht davon ablenken, dass „Schmerz und Erinnerung“ eine Reihe ausgezeichneter Aufsätze enthält, die sich wirklich zu lesen lohnen. Im Gegenteil: Das Buch gibt Anreiz, die angestoßene Forschung auf andere Bereiche auszudehnen und darin liegt gerade das Gelingen dieses überaus spannenden Projekts.

Roland Borgards (Hrsg.)
Schmerz und Erinnerung
München: Wilhelm Fink 2005
271 Seiten (Paperback)
34,90 Euro
Dieses Buch bei Amazon kaufen.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.