Geschichte und Zeit – Huhn und Ei

In „ Eine kurze Geschichte der Zeit “ verbindet Errol Morris die Biografie des Astrophysikers Stephen Hawking mit seinem intellektuellen Werdegang. Dass Hawking schon immer ein außergewöhnlicher Mensch war, wissen seine Familie, Freunde der Familie und Kollegen zu berichten. Er selbst, der sich als schwer ALS-Erkrankter kaum mehr bewegen und nur noch über einen Sprachsynthesizier mitteilen kann, sieht das anders. Für Hawking sind das Denken an den Grenzen von Kosmologie, die Philosophie und die Mathematik eine Art Spiel, das ihn herausfordert aber nie ganz einnimmt. Mit klugem Witz erzählt er von den größten Theorien seiner Laufbahn – etwa der Entdeckung der Verdunstung schwarzer Löcher oder dem Theorem der Imaginärzeit – und wirkt in seinem Understatement dabei doch nie künstlich. Dass dieses Understatement glaubhaft bleibt, liegt nur zu einem Teil daran, dass Hawking in bester britischer Wissenschaftsmaniert „populär“ geblieben ist, sich verständlich ausdrückt, stets originelle Vergleiche für die kompliziertesten Theorien findet und jedes Ereignis, sei es nun trivial oder dramatisch, mit einer Pointe zu erzählen im Stande ist.

Der zweite Grund dafür, dass „Eine kurze Geschichte der Zeit“ keine Wissenschaftler-Biografie im trockenen Sinne geworden ist, ist, dass Regisseur Errol Morris recht schnell die Homologien zwischen dem Großen (der Theorie) und dem Kleinen (dem Leben Hawkings) entdeckt hat. So erzählt Hawking zu Beginn des Films, dass er es schon als Kind skandalös fand, von einem expandierenden Universum mit einem Anfang auszugehen. Das statische Universum, das es schon immer gegeben hatte und immer geben würde, schien ihm „natürlicher“. Doch die Urknall-Theorie, die einen Anfang und einen Prozess der Alterung beschreibt, ist dem Wesen der Natur ähnlicher. Hawking erinnert sich als ein Mensch, der selbst diese Stadien durchlebt hat und durchlebt, an jene Kindheitserinnerungen und man beginnt zu ahnen, dass, wenn er seine Theorie der „kondensierenden schwarzen Löcher“ und der Astronauten, die, wenn sie ins Schwarze Loch fallen, zwar zu Spaghetti verarbeitet werden, irgendwann jedoch als Partikelteilchen am Verdampfungstod der Singularität teilhaben werden – dass er in solchen Momenten auch von sich selbst spricht.

Hawking, dessen Beweglichkeit seit der ALS-Diagnose immer mehr zum scheinbaren Stllstand kam, dessen geistiges Potenzial sich jedoch exponenziell auszudehnen scheint und alle physi(kali)schen Grenzen überwindet, lebt und lebt mit allem Optimismus, trotzdem seine Ärzte ihn bereits vor Jahrzehnten totgesagt hatten. Er selbst ist nicht der Widerspruch , sondern der Beleg für die scheinbaren Gesetzmäßigkeiten der Natur, die er immer wieder in seinen Theorien hinterfragt. Je weiter der Film voranschreitet, desto mehr verändert sich der Erzählgegenstand von einer physikalischen in eine metaphysische Position: Hawking experimentiert im Geiste schon längst nicht mehr allein mit den Naturgesetzen – es sind die Parameter des Denkens selbst, die Ontologie und die Erkenntnistheorie, die nun zum Gegenstand seiner Theorien werden. Er spricht philosophisch präzise von den Theorien der Kausalität und wirft die Frage nach der Notwendigkeit des Zeitverlaufs auf. Der Film findet immer neue Visualisierungen für diesen Wandel.

Errol Morris hat mit „Eine kurze Geschichte der Zeit“ einen bemerkenswerten und dichten Beitrag über Geschichte und Zeit in ihren filmischen und realen Präsentationsformen abgeliefert. Diesem Projekt widmet er sich auf allen ästhetischen Ebenen – von der Montage der Zeitzeugen (die ihre Erinnerungen denen Hawkings gegenüberstellen) über die filmischen Verfahren, Zeitverläufe zu visualisieren (zerspringende Teetassen, ein Huhn vor der Uneindlichkeit des Weltalls, an dem die Frage nach dem „Zuerst“ von Huhn oder Ei aufgeworfen wird …) bis hin zur Musik von Philip Glass, die ebenfalls ein Doppel aus Endlosigkeit (in den repititeven Tonfolgen) und Finalität (in der Erhabenheit ihrer Motive) abbildet. „Eine kurze Geschichte der Zeit“ ist ein Film über Geschichte im doppelten Sinne zu verstehen. Ihre Chronisten – Morris und Hawking – analysieren darin auf ihre je eigene Weise ihren Gegenstand.

Eine kurze Geschichte der Zeit
(A Brief History of Time, USA/GB/Japan 1991)
Regie & Buch: Errol Morris, Kamera: John Bailey, Stefan Czapsky, Musik: Philip Glass, Schnitt: Brad Fuller
Mit: Stephen Hawking, Isobel Hawking, Janet Humphrey, Roger Penrose u.a.
Länge: 80 Minuten
Verleih: Kinowelt

Die DVD von Kinowelt:

Bild: 1,33:1 (4:3 Vollbild)
Sprachen/Ton: Deutsch, Englisch (Stereo Dolby Digital)
Untertitel: Deutsch
Extras: Making of, Trailer
Veröffentlichung: 18.10.2005
Preis: 13,99 Euro
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