Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen

Die Geschichte des Menschen schreibt sich als eine Geschichte der Gewalt. Als paradigmatische Epoche für diesen Umstand gilt landläufig das Mittelalter, in dem die Gewalterfahrung ein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens war. Mit dem Aufkommen der Höfischen Literatur im 12. Jhd. sowie der Städtischen Literatur seit dem 14. Jhd. und der damit einhergehenden Verbreitung der Schriftsprache, erreichte dieses zentrale Thema seine Blüte. Von den frühen französischen Heldenepen, den „chansons de geste“, über Boccaccios „Decameron“ bis hin zur Märendichtung eines Heinrich Kaufringers oder Hans Rosenplüts wurde Gewalt als literarischer Gestus unter verschiedensten Gesichtspunkten dem Pergament überantwortet. Selbst dort wo man einen gewaltfreien Diskurs vermuten würde – in der Minnelyrik – gelangte sie häufig codiert zur Darstellung.

Die Gewalt erfährt im Mittelalter neben ihrer schriftlichen auch eine ikonographische Ästhetisierung in Form früher Bibelillustrationen oder im aufstrebenden Bürgertum durch das Aufkommen privater „Gemälde- und Miniatiurensammlungen“. Die verschiedenen Darstellungsarten im Mittelalter sind alles in allem ein gut erforschter Themenkomplex, jedoch konzentrierte sich die Forschung bis heute weitestgehend auf die kulturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen, ohne dabei auf eine gemeinsame Basis zurückzugreifen.

Im Fink-Verlag ist zu diesem Thema aktuell der Band „Gewalt im Mittelalter: Realitäten – Imaginationen“ erschienen, der es auf überzeugende Weise schafft, aus einem weit gestreuten Fächerkanon eine Reihe sehr prägnanter Aufsätze zu dem Thema zu versammeln. Aus den Bereichen Archäologie, Geschichte, Religionswissenschaft, Ethnologie, Judaistik, Anglistik, Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte wurden Aufsätze zusammengestellt, die sich nicht nur an der jeweils neuesten Forschungsdebatte orientieren, sondern implizit auch auf die Zusammenhänge und Überschneidungen der Einzeldisziplinen aufmerksam machen. Auf dieser Basis formulieren die Herausgeber Manuel Braun und Cornelia Herberichs zwei Grundlegende Fragestellungen:

Zum einen wird die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Repräsentation gestellt. Dabei gehen sie vom Körper als „Referenzpunkt“ der Gewalt aus, um den oftmals verzerrten Blick auf die Umstände und die häufig schwierige Überlieferungslage mit einem bestimmten Rahmen zu belegen. Dies ist nicht zuletzt deshalb sinnvoll, um das schier unüberschaubare Gebiet der verschiedenen Spielarten, z. B. Gewalt gegen Tiere oder psychische Gewalt, auf einen handbaren Umfang herunterzudestillieren, sondern auch, weil die Quellen, auf die sich die Autoren beziehen, textueller oder piktoraler Natur sind und sich damit meist auf körperliche Gewaltdarstellung zentrieren.

Zum anderen wird die Frage nach dem Historisch-Spezifischen an der Gewaltthematik im Mittelalter aufgeworfen: Was unterscheidet die mittelalterlichen Gewaltdarstellungen von denen anderer Epochen? Worin besteht ihre Spezifik? Und wie lässt sie sich historisch untermauern? Um dies zu beantworten wird zunächst der methodische Rahmen abgesteckt: Dem Anspruch der Einzeldisziplinen, der den Diskurs normalerweise der Gefahr ausliefert, entweder die Ergebnisse in ihrer Isolation zu betrachten, oder sie auf eine „unangemessene Verallgemeinerung“ zu stützen, wird in einer zentralen Methode des Bandes Rechnung getragen: Es soll ein möglichst dichter, ergebnisoffener Befund am Material erarbeitet werden, der dann zu einem späteren Zeitpunkt in einen interdisziplinären Diskurs münden kann (Braun/Herberichs).

Im Rahmen dieses methodisch-theoretischen Umrisses, reagieren die Autoren mit ausgezeichneten Essays auf diese Grundfragen und eröffnen aus Sicht der Einzelforschung unterschiedlichste Zugänge zum heterogenen Bereich der Gewaltforschung. Von den archäologischen „Realien“ der Gewalt reicht das Spektrum über die Kriegsdarstellungen des Frühmittelalters, der angelsächsischen Kastrationsstrafe, Zweikampf- und Herrscherthematik bis hin zur Erörterung christlicher Gewalt, Gewalt gegen Juden und (für die zeitgenössische Debatte von großem Interesse) Gewalt im Christlich-Islamischen Kontext. Besonders hervorzuheben sind die Überlegungen zur Medialität und Ästhetisierung von Gewalt im höfischen und theatralen Raum.

„Gewalt im Mittelalter“ ist alles in allem eine sehr gelungene Aufsatzsammlung, die in keiner Arbeit zum Gewaltdiskurs unerwähnt bleiben sollte. Dem Band gelingt es auf sehr professionelle Weise, dem sonst oft emphatisch verbürgten Gewaltbegriff seine Heterogenität zurückzugeben. Zu der ausgezeichnet editierten Textauswahl liefert er eine umfangreich recherchierte Auswahlbibliographie, die jedem Forschenden den Einstieg in dieses spannende und wichtige Thema erleichtern dürfte.

Die Autoren: Manuel Braun (Hrsg.); Cornelia Herberichs (Hrsg.); Werner Meyer; Thomas Scharff; Laus van Eickels; Christine Reinle; Udo Friedrich; Felicitas Schmieder; Renate Bauer; Elisabeth Hollender; Bertram Turner; Christoph Auffrath; Klaus Largier; Bruno Quast; Silke Tammen; Mirreille Schnyder; Jelle Koopmanns.

Manuel Braun und Cornelia Herberichs (Hgg.):
Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen
München: Wilhelm Fink Verlag, 2005.
436 Seiten (Paperback), 48,00 Euro

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