Media Synaesthetics – Konturen einer physiologischen Medienästhetik

Christian Falk u.a. (Hgg.): Media Synaesthetics, Köln: Herbert von Halem Verlag 2005

Seit dem frühen 19. Jahrhundert gab es eine Reihe anthroposophischer, medizinischer und okkultistischer Diskurse über die kulturgeschichtlich motivierte „Spezialisierung“ der Sinne. Die Vorherrschende Meinung dabei war, dass bei diesem Prozess ein universelles Wissen verschüttet worden sei, das heute unter dem Begriff der genuinen Synästhesie, also der synthetischen Verflechtung einzelner Sinne, in der Kognitionsforschung Einzug hält. Die Forschung bezieht diesbezüglich zwei Positionen, wobei die eine Seite die Auffassung vertritt, dass die Spezialisierung und Isolierung eines einzelnen Sinnes (bsp. Sehsinn) eine „zivilisationsgeschichtliche Erkenntnisleistung“ (Mattenklott, Gehörgänge, 2001) ist, während die andere Seite diesen Aspekt aus kulturpessimistischer Warte als Versklavung der Einzelsinne unter dem massenmedialen Diktum der Gutenberg-Galaxis (Serres, Die fünf Sinne, 1998) versteht.

Eine erste Fragestellung von Media Synaesthetics richtet sich demgemäß an die Unterscheidung genuiner und abgeleiteter, d. h. künstlich und künstlerisch realisierter Synästhesien und deren Rolle im menschlichen Erkenntnisprozess. Damit wird implizit auch die Frage nach der grundsätzlichen Erklärbarkeit pathologischer und ästhetischer Phänomene anhand Synästhetischer Verknüpfungen gestellt.

Die Autoren des Bandes gehen dabei von der Annahme aus, dass ein aktiver Sinn immer von den latenten Sinnen gestützt wird und umgekehrt, dass die abwesenden Sinne durch die Konkretion auf einen „Primärsinn“ geschärft werden. Das Hören wird beispielsweise visuell, haptisch, geschmacklich etc. gestützt. Damit folgt der Band dem Baudelaireschen Konzept der „memoire involontaire“, das eben dieses Zusammenspiel der Sinne vorsieht. Der erste Teil dieses Projekts wird somit deutlich: die Erforschung der medialen zusammenhänge der Einzelsinne in ihren jeweiligen Kontexten. Dabei beleuchten die Autoren nicht die „anthropologischen Konstanten“, sondern vor allem deren Umbrüche, Überschneidungen und Inszenierungsweisen.

Beispielsweise unternimmt Eva Schürmann eine synästhetische Kant- und Frege-Lektüre anhand des Begriffs der „Einbildungskraft“, der sich bei Kant zwischen Spontaneität und Rezeptivität ansiedeln lässt. Sie stellt dort die These auf, dass sich das perzeptiv Wahrgenommene in einer nachträglichen Bildwerdung der Sinne formiert und gibt dem Bildbegriff damit seinen multimedialen und vor allem seinen prozessualen Charakter zurück. Die empirische Erforschung synästhetischer Wahrnehmung hatte aber darüber hinaus in viele Bereiche der Kunst und Philosophie Einzug gehalten. So sind Arthur Rimbauds Verknüpfung zwischen bestimmten Vokalen und Farben (Volley, 1883) oder Baudelaires >Sonett Correspondance< (1857) Zeugen einer ästhetischen Auseinandersetzung mit synästhetischer Wahrnehmung. Ähnliches gilt später auch für die Avantgardisten Kandinsky, Klee, Skriabin und Nabokov, die ihre Werke ins Zeichen der Überschreitung und Endgrenzung bisher gebräuchlicher ästhetischer Kategorien gestellt hatten. Hier greift der zweite wichtige Aspekt von "Media Synaesthetics"; die künstlerische Umsetzung und Interpretation „abgeleiteter“ Synästhesien. Die Synästhesie wird hier einer Medienästhetik zur Seite gestellt. Michael Lommel skizziert beispielsweise die Bildwelten in Matthew Barneys „Cremaster Cycle“ und umreißt dabei eine Konstruktion des Taktilen, das auf dem Weg der visuellen Übertragung beim Betrachter effektiv wird. Es ist das erklärte Ziel der Autoren, sich nicht nur auf einen reflexiven und theoretisierenden Zugang zum heterogenen Feld der Synästhesie zu versteifen, sondern sich der Frage nach der medialen Strukturierung der Sinneswahrnehmung auch durch fiktive Strategien anzunähern. "Media Synaesthetics" vertritt die Idee eines „offenen Forschungsbereichs“ (Martin Seel) in dem den kulturwissenschaftlichen Einzeldisziplinen ein gemeinsamer Boden angeboten werden soll. Der Band versammelt demgemäß unterschiedlichste Ansätze medien-, literatur-, kunst-, kommunikations-, und erziehungswissenschaftlicher, sowie psychologischer und philosophischer Provenienz und bringt sie mit einer Reihe sehr gelungener Film-Interpretationen (Die Vögel, Dogville, Cremastercycle) in Einklang. Media Synaesthetics ist alles in allem ein gut lesbares und sehr ambitioniertes Werk aus dem Hause Herbert von Halem und ermöglicht jedem wissenschaftlich und kulturell Interessierten Leser einen Zugang zum Themenkomplex der synästhetischen Wahrnehmung. (Die Autoren: Christian Filk; Michael Lommel; Jens Loenhoff; Barbara Becker; Eva Schürmann; Gernot Böhme; Dieter Mersch; Barbara Schichtermann; Joseph Vogel; Christian Heibach; Isabell Otto)

Christian Filk; Michael Lommel; Mike Sandbothe (Hrsg.):
Media Synaesthetics – Konturen einer physiologischen Medienästhetik
Köln: Herbert von Halem Verlag, 2004.
224 Seiten. 27,00 Euro

Florian Reinacher

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