Einsamer nie

Ein Junge flüstert seinem Vater den Traum der letzten Nacht ins Ohr und sie hüten ihn von nun an wie ein gemeinsames Geheimnis. Derselbe Junge assistiert seinem Vater, wenn er Bienenkörbe in schwindelerregender Höhe auf Bäumen anbringt und vergisst in diesen Momenten sein Außenseiterdasein. Doch die Bienen verschwinden und der Vater des kleinen Yusuf muss sich auf den Weg machen, ein neues Gebiet für seinen Honig zu erkunden. Plötzlich steht der ohnehin schon wortkarge und zurückhaltende Junge allein da, denn sein Vater scheint wie vom Erdboden verschluckt.

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Wirtschaftskrise Light?

Robert Axle ist kein einfacher Erfinder, sondern ein „Fabricator“, darauf besteht er. Dass eine der Definitionen dieses Wortes „Lügner“ ist, stört ihn recht wenig. Mit seinen Erfindungen, in denen er mehrere vermeintlich nützliche Gegenstände kombiniert und via TV-Werbung verkauft, verdient er sich eine goldene Nase, seine Familie bekommt ihn kaum noch zu Gesicht. Ein fataler Fehler unterläuft ihm bei der Konstruktion einer Verbindung aus Bauchtrainer, Sessel und Fernbedienung, wodurch knapp 3000 Verbraucher einen Finger verlieren. Für diese grobe Fahrlässigkeit muss Robert für zehn Jahre hinter Gitter, und als er wegen guter Führung entlassen wird, steht er vor seiner gescheiterten Existenz. Seine Frau hat die andere Hälfte des Geldes verprasst und neu geheiratet, und seine Tochter hat ihm die jahrelange Abwesenheit nicht verziehen. Nun soll Robert sein Leben neu gestalten, er scheitert jedoch schon bei seinem ersten Arbeitstag in einem größeren Warenhaus. Sein alter Einfallsreichtum hat ihn allerdings noch nicht verlassen, und so muss Robert versuchen, seinen alten Ruhm wiederherzustellen und gleichzeitig das Herz seiner Tochter zurück zu gewinnen.

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Aufgewärmtes schmeckt nicht

Wenn man den Namen Martin Scorsese hört, denkt man an eine Liste von großartigen Filmen, deren ausgereifte Figuren und Handlungen überwältigen. Dementsprechend hoch sind die Erwartungen, wenn man sich seinen neuen Film „Shutter Island“ ansieht, dessen düsteres Filmplakat eine spannend-schaurige Atmosphäre verspricht, und dessen Aufgebot an Schauspielern fast schon ein Garant für einen erstklassigen Film ergeben muss. Doch in wie weit kann derartiger „Schmuck“ einen Film ausmachen? „Shutter Island“ zeigt, dass Scorsese sein Handwerk versteht, und dennoch genügt diese Feinmechanik einfach nicht.

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„There must be some kind of way out of here…“

Zwei Jungs, vermutlich im Grundschulalter, kümmern sich rührend um einen Säugling. Sie füttern ihn, spielen mit ihm, und taufen ihn schließlich sogar. Ein an sich schönes Bild leitet eine desolate Situation ein. Wir sehen Nick und seinen kleinen Bruder, die sich, von ihrer alkoholsüchtigen Mutter vernachlässigt, um den Neuzugang zur ihrer dysfunktionalen Familie sorgen müssen. Spät abends kehrt die Mutter betrunken zurück, schlägt ihre Kinder, lässt sie im Rausch unter sich und verschwindet eben so schnell wieder. Verzweifelt greifen die Jungen zu Mutters Schnaps und betrinken sich, um für eine Nacht ihre Sorgen zu vergessen; am nächsten Tag findet Nick den Säugling tot in der Krippe.
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Von Menschen und Maschinen

Es ist eine Galavorstellung, die das Herz des Filmliebhabers höher schlagen lässt. 83 Jahre nach der Uraufführung kann der Zuschauer an einem ganz besonderen Abend Fritz Langs Stummfilmklassiker „Metropolis“ in seiner beinahe ursprünglichen Fassung wieder auf der Leinwand bewundern. Begleitet wird die Vorstellung auf der Tonebene von Gottfried Huppertz‘ Originalpartitur, umgesetzt durch das Berliner Rundfunk-Sinfonieorchester. Die glamouröse Atmosphäre des Berliner Friedrichstadtpalastes rundet das Erlebnis ab und betont auch noch einmal die Besonderheit dieser Situation.

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Schuld & Sühne

Er trage keine Waffe mehr, sagt Abu Jandal. Jetzt trage er nur noch einen Stift. Die Feder ist mächtiger als das Schwert, denkt sich da so mancher, und man möchte meinen, der ehemalige Bodyguard Osama Bin Ladens habe sich besonnen und seinen Hass gegen die westlichen „Ungläubigen“ aufgeben. Doch Abu Jandal ist regelmäßig Gastgeber für am Jihad interessierte Jugendliche, um ihre Fragen zu beantworten, und ihnen beizubringen, wie man vernünftig lebt, sich organisiert, mit anderen Menschen umgeht. Er lehrt geschicktere Gotteskrieger, denn er möchte sich dem Feind zwar gerne auf dem Schlachtfeld von Angesicht zu Angesicht stellen, doch Terrorangriffe initiieren möchte er nicht. Nicht jeder kann oder sollte ein Krieger sein, meint er, denn die Bewegung benötigt auch kluge Köpfe.

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Auge in Auge

Solche Filme, sagt Dominik Graf, müsse man retten. Sie hinübertragen, zum anderen Ufer. Weil sonst eine Filmgeschichte, die sich ja selbst immer größer schreibe, als sie in Wirklichkeit gewesen sei, solche Arbeiten übergehen würde. Der Film, den Graf hier in Obhut nimmt, ist Rocker, ohne Zweifel einer der großartigsten Filme des bundesrepublikanischen Kinos der 70er Jahre. Und man muss Dominik Graf dankbar sein für eine solche Ansage, die im Zuge des Gesprächs für Auge in Auge – Eine deutsche Filmgeschichte vielleicht nur schnell daher gesagt wurde, im fertigen Film aber, im Kontrast zu den Darlegungen anderer deutscher Filmschaffender und den von den Autoren des Films – FAZ-Filmkritiker Michael Althen und dem Ex-Leiter der Retrospektive der Berlinale, Hans-Helmut Prinzler – ausgewählten Ausschnitten aus insgesamt 251 deutschen Filmen, im fertigen Film also kommt diesen Worten einiges an Gewicht zu.

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Wonderful Town

Ton, ein junger Architekt aus Bangkok, soll den Wiederaufbau einer vom Tsunami zerstörten Ferienanlage im Süden Thailands überwachen. Statt in einer der Bettenburgen von Takua Pa mietet er sich in einem unscheinbaren Kleinstadthotel ein, wo er der einzige Gast zu sein scheint. Tons Flirt mit der jungen Hotelwirtin Na entwickelt sich zu einer leidenschaftlichen Beziehung, die dem argwöhnischen Blick ihres sinistren Bruders Wit nicht entgeht. „Wonderful Town“ weiterlesen

Regarde-Moi

Ein Tag in den Banlieus, im Mittelpunkt die Jugendlichen aus einem Wohnblock. Der Raum ist beengt, überall gibt es Überschneidungen: Man hört die Nachbarn von unten, und unten hört man von oben. Alle kennen sich, vor dem Hause kann man sich nicht bewegen, ohne in irgendeinen zu kennen, den man rennt, mit dem man symbolische Gesten oder (deftigen) Slangtalk austauscht. Man muss etwas hermachen, die Codes kennen. Die älteren sagen den jüngeren, wo’s lang geht. Die Schwarzen – sie sind in der Überzahl – den Weißen, warum sie keine Frauen abkriegen. Die Brüder den Schwestern, was sie zu tun und zu lassen haben. Alter, Geschlecht, sexuelle Präferenz, Hautfarbe stellen den Rahmen all dessen, was getan, gesagt werden kann und darf. Und die Sanktionen bei widerspenstigem Verhalten.

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Yella

 Ein Geheimnis liegt in diesem Film. Nicht in seinen Bildern, die klar bleiben, präzise. Aber der Ton schlägt oft schrecklich hart ins Bild, von Außen. Der Donnerschlag eines Düsenjägers als Schock, der die Welt entrückt. Die Welt ist hier, zunächst, das Umland um Magdeburg, Wittenberge, sozusagen eine „Petzold-Gegend“ (Petzold drehte hier auch schon früher): flach, mehr oder weniger profillos, man kann sich in ihr zurechtfinden. Der Schlag des Düsenjägers straft dies Lügen.

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Ferien

 Plötzlich, ganz unvermittelt, kommt die Kamera in Fahrt, buchstäblich: Sie fährt in eine Richtung, in die sie nicht blickt, sie blickt zurück auf eine Straße, auf der sie fährt, auf dieser wiederum fährt eine Vespa, die in dieselbe Richtung wie die Kamera fährt, auf ihr zwei junge Menschen. Nicht-diegetische Musik setzt ein, ein leichter Hauch von Wehmut zieht in den Film. Plötzlich sieht man: Das ist der Vorspann. Der Film läuft hier schon wenigstens 20 Minuten und war in diesen von einer einengend-kadrierenden Statik, so dass diese wiedererlangte Beweglichkeit wie eine Befreiung anmutet, die durch den nun erst einsetzenden Vorspann eine zweite Ebene des Schocks entwickelt.

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Interview

„For Theo“ steht im Abspann, im Film taucht eine Fotografie von eben jenem Theo auf, eine Möbelpackergesellschaft, die zufällig ins Bild rückt, heißt „Van Gogh Movers“ und zu allem Überdruss muss an einer Stelle dann auch noch ein Autogramm „for Theodore“ geschrieben werden. Interview, die jüngste Arbeit von/mit Steve Buscemi, der als „The Face“ in den 90ern Kultcharakter erlang und in den letzten Jahren hauptsächlich als Regisseur in Erscheinung tritt, war ursprünglich mal ein Film des streitbaren niederländischen Filmemachers Theo van Gogh, der vor wenigen Jahren von einem Islamisten ermordet wurde. Und Interview, erster einer auf drei Teile angelegten Reihe von Van-Gogh-Remakes, stellt dies denkbar aus.

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Dawn of the Teeth

berlinale_logo.jpgEin Gespenst geht um in Amerika: Der christliche Radikalfundamentalismus. Unter der Ägide George W. Bushs hat nicht nur ein merklicher Rechtsruck in Sachen Sexualmoral stattgefunden. Auch den Naturwissenschaften weht seit einigen Jahren gehörig Wind ins Gesicht – produziert hauptsächlich von den Vertretern der so genannten „Creative Design“-Theorie, die die Evolutionstheorie zugunsten einer auf Schöpfungsfantasien basierenden Biologie auszuhebeln versuchen. Die Zielrichtung derartiger Bestrebungen ist mehr als klar: Es soll ein fest-definiertes christliches Moralgebäude errichtet werden, das westliche streng von östlichen (sprich: muslimischen) Wertmaßstäben trennt. Dass die größtenteils vernunft- und menschenverachtenden Projekte der „Wiedergeborenen Christen“ u. a. Gruppen als finales Angriffsziel den Menschen selbst haben (und damit eigentlich genau dasselbe Ziel verfolgen, wie die Taliban und ähnliche von ihnen bekämpften Regimes), versuchen Kulturkritiker und Künstler in den USA seit einiger Zeit zu betonen. Nun ist das Thema auch im Splatterfilm angekommen: Mitchell Lichtensteins Erstlingswerk „Teeth“ erzählt von der sozialen Mutation der Gesellschaft parabelhaft fokussiert auf die körperliche Mutation eines jungen Mädchens.

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The Notorious Bettie Page

Pin-Up-Ikone Bettie Page ist vielleicht das beste Exempel dafür, wie unsere Bilderkultur simulakrische „Wesen“ mit hoher Eigendynamik hervorbringt, die mit der historisch abgebildeten Person nicht mehr zu verwechseln sind. Denn wer ist Bettie Page? In erster Linie ein Archiv von Fotos und kleinen, naiv mit sexuellen Devianzen spielenden dirty movies. Wer aber war die historische Bettie Page, die Person hinter dem Kunstwesen gleichen Namens? Wer sollte das schon wissen können! Mehr als bei allen anderen ikonisch überhöhten Stars und Traumfrauen – denen die Berlinale dieses Jahr immerhin die Retrospektive widmet – liegt hinter der kinky Oberfläche eine fast phantomartige Leere.
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The New World

Pocahontas, der Name fällt an keiner Stelle. Einmal – fast, im letzten Moment dann doch nicht. „Sie trägt diesen Namen nicht mehr!“, meint der eine, später wird sie Rebecca heißen und ist dann schon ganz in die syntagmatische Signifikantenkette der anderen eingegangen. Ein Verlauf, der mit sacht nachgeplapperten Wörtern einsetzt und den The New World, geradewegs in einer Umkehrung der mit diesem Diktum verbundenen Assoziation (denn in der für Rebecca neuen Welt, die dem Zuschauer bis dahin fremdgeworden zu sein nahegelegt wird, wird der Film enden), en detail schildert. Ein Prozess der kulturlellen Einverleibung, Adaption und Verschiebung, den Malick als „Verlust der Unschuld“ zu charakterisieren sich beeilt und damit doch nur im eigenen Garten gräbt.
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In Between Days

In Between Days ist eine Entdeckung, wie man sie auf der Berlinale nur im Forum machen kann; ein kleiner, langsamer Film, eine Momentaufnahme aus dem Leben eines heranwachsenden Mädchens, unspektakulär in der Wahl seiner Mittel, die dann aber doch mit Bedacht eingesetzt, behutsam im Tonfall, aber nie beschaulich, und doch jede Sekunde spannend.
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Parineeta

Bollywood ist Kino des Exzesses, im Sinne eines allgemeinen „Zuviels“ und vor allem der Freude daran in einem abgekarteten Spiel. Alles ist way too much, und deshalb auch so großartig: Die Choreografien feiern schon ein überbordendes Fest, wo doch eigentlich nur ein kleines Mosaiksteinchen der Handlung hinzugefügt wurde; die Farben bringen den Bildkader regelrecht zum Bersten, der Schmuck ist nurmehr hilarious, die Gefühle so täuschend unecht, dass es eine wahre Pracht ist, wider besseren Wissens in sie hineinzutauchen, mit einem Köpfer vom Zehnmeterbrett. Die Stories sind bigger than life, die Tragik sowieso. Bollywood ist dabei kein Trash, auch wenn in westlichen Kinos dazu gerne an den falschen Stellen gelacht oder, schlimmer noch, abwehrend Köpfe geschüttelt werden. Bollywood meint Exzess, Kino-Exzess.
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Strange Circus

Das Verhältnis von Trauma und Film, diesen dabei zunächst verstanden als Medium und Form der Äußerlichkeit, ist prekär: Zwar mag es dem Filmbild obliegen, einen traumatisierenden Prozess als solchen optisch einzufangen; doch widerstrebt es dem zur Objektivierung neigenden Bild, das Trauma selbst, eine theoretische Figur der Verletzung, die sich Versprachlichung wie Aufdeckung immer wieder entzieht, zu fassen zu bekommen. Das Trauma lässt, zumindest in der psychoanalytischen Theorie, nur referenziell auf sich schließen, verbirgt sich hinter Schichtungen aus Verschiebungen und Verdrängungen, verweist immer wieder auf die Krypta im Seelenapparat, ohne aber einen Schlüssel mitzuliefern. Für das Trauma im Film heißt dies, eine Methode zu finden, die über bloße Repräsentation hinausgeht, die die Konstruktion einer verlässlichen Diegese womöglich in Permanenz unterwandert und den Prozess des storybuildings selbst – verstanden als das Verhältnis zwischen fabula (das Erzählszenario als solches, wie es sich objektiv-linear nachvollziehen ließe, ein dem Film tendenziell unäußerliches Abstraktum, das der Zuschauer selbst im Abgleich mit den filmischen Informationseinheiten herausbildet) und syuzhet (dessen dramaturgische Staffelung in der ästhetischen Einheit des Filmes selbst) – reflektiert. Strange Circus, der dritte Langfilm von Shion Sono, der bereits mit dem kontroversen Suicide Club für einiges Aufsehen sorgte, operiert genau in diesem Bereich.
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Ehedrama in Kassel

Vater, Mutter, Tochter im Hessischen: Ein Eigenheim wird bezogen, es ist Winter, am Montag kommen die neuen Fenster, auch wenn man das eigentlich im Sommer macht. Es scheint harmonisch zuzugehen, etwas zu beschaulich vielleicht, ein wenig fad auch alles, ein Fassbinder’scher Eheknast aber ist das nicht und wird es nie. Dann will die Mutter abends das zuckersüße Töchterchen bei den Schwiegereltern abholen; sie steht vor deren Hause, schaut durchs Fenster, sieht ihr Kind, dreht wortlos um, zum Auto hin, fährt ab. Autobahn, nachts, rote Autolichter, außerhalb des Schärfebereichs, keine Flucht im eigentlichen Sinne, ein Abtauchen ins Unscharfe eher. „Ich komme nicht mehr zurück“, sagt sie schließlich später in ihr Handy als sie Rast macht.

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