Aufgewärmtes schmeckt nicht

Wenn man den Namen Martin Scorsese hört, denkt man an eine Liste von großartigen Filmen, deren ausgereifte Figuren und Handlungen überwältigen. Dementsprechend hoch sind die Erwartungen, wenn man sich seinen neuen Film „Shutter Island“ ansieht, dessen düsteres Filmplakat eine spannend-schaurige Atmosphäre verspricht, und dessen Aufgebot an Schauspielern fast schon ein Garant für einen erstklassigen Film ergeben muss. Doch in wie weit kann derartiger „Schmuck“ einen Film ausmachen? „Shutter Island“ zeigt, dass Scorsese sein Handwerk versteht, und dennoch genügt diese Feinmechanik einfach nicht.

Lassen wir der Handlung freien Lauf. Der US-Marshal Teddy Daniels erreicht mit seinem Partner Chuck Aule Shutter Island, wo die beiden das Verschwinden einer Patientin der dort befindlichen Nervenheilanstalt Ashecliffe Hospital aufklären sollen. Hier befinden sich ausschließlich Verbrecher, die aufgrund ihrer Geisteskrankheit nicht in ein reguläres Gefängnis konnten. Die Handlung wird mit hoch dramatischer Musik eingeleitet, um eine unheimliche Stimmung zu kreieren. Man fragt sich zu Recht, ob das Verlassen einer Fähre und Betreten einer Insel in der Tat bereits mit anschwellenden, bedrohlichen Celli unterlegt werden muss. Die Anstalt und ihr Personal, allen voran der Psychiater Dr. Cawley (Ben Kingsley), wirken mehr als suspekt und sperren sich regelrecht dagegen, den beiden Marshals zu helfen. Albträume und Visionen seiner Frau, die in einem Wohnungsbrand starb, plagen Teddy. Hat diese Anstalt ein dunkles Geheimnis? Bald finden sich Hinweise auf einen 67. Patienten, obwohl Ashecliffe nur 66 zu behandelnde Personen zählt.

Der Zuschauer beobachtet, wie sich die Handlung langsam entfaltet und wird – rein theoretisch – den Großteil des Films in verwirrender Unklarheit gehalten. Selbst als sich die Auflösung andeutet, wartet man noch auf einen unerwarteten Umschwung; die Spannungskurve funktioniert also nach wie vor. Nur, ob man auf diese Wendung hofft, damit der Stoff nicht „Schema F“ entspricht, oder ob man Mitleid mit der Hauptfigur hat und sich ein Happy End wünscht, macht einen Unterschied hinsichtlich der Geschicktheit dieses Plots. „Shutter Island“ ist eine mittelmäßige Idee, verkleidet in einem aufwändigen, pompösen Kostüm. Eine schwache Story wird überzogen mit einem Spannung schon fast forcierenden Soundtrack und mustergültigen Plotelementen.

Scorseses sonstige Themen – die Aufarbeitung der dunklen Seiten der US-Geschichte beispielsweise – sind hier natürlich präsent, jedoch eher dezent, da sie von der Story unterdrückt werden. Wenn überhaupt, präsentiert der Regisseur uns hier mit einer Darstellung des geschichtlichen Wandels von Psychiatrie und Psychotherapie. Die Psychiatrie der 1950er Jahre ist für ihre Experimente, Operationen und menschenverachtenden Ideen bekannt. Die Behavioristen wie etwa F. B. Skinner waren nur daran interessiert, Menschen nach ihren Vorstellungen umzuformen, und dieses Thema ist in übersteigerter Form auch in Teddys Angstvorstellungen präsent. Er glaubt, dass die Anstalt Versuche unternimmt, um Menschen zu „Geistern“ zu machen, zu leeren Hüllen, die willenlos zu allen Taten eingesetzt werden können. Dr. Cawley bemerkt am Rande, dass er nichts von den damals durchgeführten Operationen hält und davon überzeugt ist, dass man den Patienten zuhören, ihn ernst nehmen müsse, bevor man ihn mit Medikamenten sediere. In den 1960er Jahren wurde das System in der Tat reformiert, nachdem verdeckte Ermittlungen den desolaten und inhumanen Zustand der Anstalten bloßlegten.

Neben dem historischen Abriss der Pychiatrie widmet sich Scorsese auch dem Kriegstrauma , welches ja ein brandaktuelles Thema in den Vereinigten Staaten ist. Durch die Einsätze in Irak und Afghanistan hat das Land mit einer Flut schwer traumatisierter Soldaten, die wenig bis gar keine psychologische Unterstützung bekommen, umzugehen. Als Weltkriegsveteran hat Teddy mit den Erinnerungen an die Greuel, die er in Dachau gesehen hat, zu kämpfen, denn sie holen ihn tagtäglich in seinen Erinnerungen und Albträumen ein, machen in reizbar und auch instabil. Doch die posttraumatische Belastungsstörung eines Soldaten, der einige Zeit nach seiner Rückkehr aus dem Krieg dem Drang verfällt, die Welt von Kriminellen zu reinigen, kommt einen zu Recht bekannt vor: Scorseses „Taxi Driver“ bringt uns diesen Zustand in der Figur des Travis Bickle bereits 1976 bedeutend geschickter nahe. Ein anderer Krieg, ein anderes Trauma? Kaum. Während die Thematik in „Taxi Driver“ noch subtiler entfaltet wird, kommt sie in Shutter Island mit dem Holzhammer. Traumabewältigung im Film ist ein interessantes und weiter zu erforschendes Thema, doch wirkt es hier eher gestelzt und nur geringfügig ausgereift.

Es ist irgendwie enttäuschend, dass Scorsese diesen Film gedreht hat, denn ohne die großartigen Darsteller gäbe es wirklich nur eine durchschnittliche Story, die man in Variationen schon zu häufig gesehen hat. Sei es der Rückzug in die innere Welt mit abgespaltenen Persönlichkeiten in „Identity“, die Verdrehung vergangener Tatsachen in „Memento“ oder die Verlagerung von Persönlichkeitsanteilen in eine andere Figur wie in „Fight Club“ (oder, um auf das Alter dieser Thematik hinzuweisen, wie in E.T.A. Hoffmanns Die Elixiere des Teufels). „Shutter Island“ stellt mich vor ein filmtheoretisches Dilemma. Einerseits ist dieser Film das Musterbeispiel einer unzuverlässigen Narration, sät und erntet Information fachmännisch und präsentiert dem Zuschauer das Freytag’sche Dreieck nahezu in Reinform. Die Schauspieler sind grandios: Allein, wie sehr Leonardo DiCaprio in den letzten Jahren speziell unter Scorseses Regie gereift ist, ist verblüffend. Der Mann ist wie ein guter Wein.

All das übertüncht jedoch nicht den bitteren Beigeschmack der Vorhersehbarkeit. Die Auflösung schwant dem aufmerksamen Zuschauer noch während der Exposition (und man hofft, dass es doch noch überraschend anders kommen möge). Kann ein Film dennoch gut sein, wenn man die Handlung vorhersehen kann? Rein theoretisch: ja. „Shutter Island“ erlaubt es einem, das Handwerk des Filmemachens zu beobachten, man kann – wie bereits erwähnt –Spannungsstruktur, Figurenentwicklung und Narration wie nach einer Anleitung genau verfolgen. Für Freunde des Konstruktivismus ist der Film natürlich das Sahnehäubchen, kann man doch genau nachvollziehen, wie ein Mensch seine eigene Wirklichkeit konstruiert, um vor einem Trauma zu flüchten. Eine ausgereifte und vor allem innovative Story mit guten Ideen sieht trotzdem anders aus.

Shutter Island
(USA 2010)
Regie
: Martin Scorsese; Drehbuch: Laeta Kalogridis; Musik: Robbie Robertson; Kamera: Robert Richardson
Darsteller: Leonardo DiCaprio, Mark Ruffalo, Ben Kingsley, Michelle Williams, Max von Sydow et al.

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