Wie die Welt aufwächst

Die Eindrücke des ersten Lebensjahres sollen für den Menschen besonders prägend sein, behaupten Verhaltenspsychologen. Wie man die Entwicklung in dieser Phase jedoch am besten beeinflusst – hier gehen die Meinungen stark auseinander. Thomas Balmès hält für seinen Dokumentarfilm Aufnahmen von vier Babies fest, die in vier verschiedenen Ländern zur Welt kommen und ihre ersten Lebenserfahrungen machen: Ponijao aus Namibia, Mari aus Japan, Bayar aus der Mongolei und Hattie aus den USA. Erstaunlich ist dabei, wie wenig die Erziehung mit der bewussten Entscheidung zu tun hat und wie sehr man durch den sozial und ökonomisch bedingten Lebensstil „erzieht“.

Die vier Babygeschichten, obwohl sie sich etwa zur gleichen Zeit ereignen, lassen sich aus der Sicht eines Westeuropäers auf einer imaginären Zeitskala wie folg anordnen: Das namibische Mädchen mit ihrer Mutter und zahlreichen Geschwistern leben, von der Zivilisation unberührt, in der Vergangenheit mit ihren archaischen Bräuchen. Das japanische Baby, das im Zentrum von Tokio aufwächst, ist dagegen von futuristischen Stadtansichten umgeben und scheint bereits in die Zukunft katapultiert worden zu sein, während seine Altersgenossin in San Francisco sich in den Verhältnissen wiederfindet, die wir in Europa noch am ehesten als unsere normale Gegenwart erleben. Etwas komplizierter ist die Situation des mongolischen Jungen, dessen Familie die archaische Lebensweise fortsetzt, ohne dabei auf einige zivilisatorische Verlockungen zu verzichten, was am besten in ihrer Behausung zum Ausdruck kommt: Die traditionelle Jurte mitten in der Steppe ist innen nach dem Vorbild einer städtischen Wohnung gestaltet. Die Modernität scheint aber in der Mongolei, kaum angekommen, bereits im Zerfall begriffen zu sein: Ein Hahn geht frei über das Sofa spazieren, das Bad wird im Zimmer in einem Waschbecken genommen.

Diese Brüche schockieren aber weit weniger als die bruchlose Gegenwart des amerikanischen Mittelstandes und vor allem die Zukunft, die in Tokio schon vorweggenommen wird. Es wird erschreckend deutlich, dass die kleine Hattie aus San Francisco nur ein Surrogat jener Welt erlebt, die das mongolische und vor allem afrikanische Baby noch in vollen Zügen genießen und erkunden. In einer der Schlüsselsequenzen sehen wir Hattie in einem Einkaufswagen, der sich zügig mit unterschiedlichen Waren füllt. In dieser durch Konsum und effiziente Arbeitsteilung geprägten Realität hat alles seinen Platz – man braucht nur mit der Hand in ein bestimmtes Regal zu greifen. Nur logisch, dass derart zweckorientierte Gesellschaft ihre Vorstellungen von der glücklicher Kindheit mit Hilfe von entsprechenden Marktangeboten konsequent und sicher verwirklicht. So kann Hattie von einem Erziehungsratgeber profitieren, den ihre Mutter fleißig liest, in einem praktischen Hängesitz hüpfen und eine professionell geleitete Spielgruppe besuchen, in der Eltern lernen, ihre Babies kompetent zu unterhalten.

In Tokio dreht sich alles um das Baby noch schneller und noch praktischer: Der beruflich stark eingespannte Vater schafft es gerade noch während eines Telefonats die kleine Mari mit einer Rassel bei Laune zu halten; die Spielgruppe ist überfüllt, ihre Aktivitäten dafür aber um so energischer; die Stunden der Erholung werden für erlebnisreiche Unternehmungen genutzt, wie Zoo- oder Parkbesuche. Das Überangebot am pädagogisch wertvollen Spielzeug in der Wohnung lässt Mari aber eher verzweifeln, während der Mongole Bayar sich fröhlich mit einer Rolle Toilettenpapier beschäftigt. Die wenigen Spielsachen, die er zu Hause hat, muss er mit seinem Bruder teilen, doch am meisten lernt er durch die Berührung mit den täglichen Arbeitsabläufen, die das Leben seiner mit der Viehzucht beschäftigten Familie bestimmten, und der unendlichen Steppe, die direkt hinter der Schwelle seiner Jurte beginnt. Die Afrikanerin Ponijao kennt gar kein industriell produziertes Spielzeug, und trotzdem oder gerade deshalb hat sie viel Faszinierendes zu entdecken und kann in aller Ruhe soziale Kontakte knüpfen und verschiedene Verhaltensmodelle ausprobieren.

Am Ende des ersten Lebensjahres haben sich die vier Kinder ungefähr gleich entwickelt: Alle können laufen und einfache Wörter sprechen. Doch wirken das namibische und mongolische Baby viel souveräner und sind imstande, sich auf eine viel sinnvollere Weise zu beschäftigen. Man kann den Filmemachern gewisse Idealisierung der „unmodernen“ Völker vorwerfen. Doch der Film selbst ist ein Ausdruck der tiefen Besorgnis um die Zukunft der Zivilisation und der Sehnsucht nach alternativen Lebensentwürfen. Es geht hier keinesfalls nur um Kindererziehung, sondern vor allem um die Verluste, die man auf dem Weg zum Fortschritt hinnehmen muss und den Preis, der man für den Komfort und die Selbstverwirklichung im Rahmen der Industriegesellschaft zahlt.

Babies
(Bébés, Frankreich 2010)
Regie: Thomas Balmes; Musik: Bruno Coulais; Kamera: Jérôme Alméras, Frazer Bradshaw, Steeven Petitteville; Schnitt: Reynald Bertrand & Craig McKay
Darsteller: Bayar, Hattie, Mari, Ponijao u. a.
Länge: 79 Minuten
Verleih: Kinowelt
Start: 19.08.2010

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