Man ist, was man isst

„Mathers hat am besten geschmeckt. Zart wie Lamm.“ So lautet eine Zeile aus Jonathan Auf Der Heides bemerkenswertem Spielfilmdebüt „Van Diemen’s Land“ und der Mann, der sie ausspricht, ist kein wahnsinniger Serienmörder, kein Hannibal Lecter mit einer Vorliebe für menschliche Leber und Chianti, kein Horrorfilm-Monster, sondern ein einfacher Mann, der mehrere seiner Kameraden gegessen hat, um zu überleben. Aus seinen Worten sprechen zwar Sarkasmus und Zynismus, noch mehr aber die Unfähigkeit, das von ihm begangene Verbrechen – Kannibalismus – in seiner ganzen Tragweite zu fassen und zu verarbeiten.

Wer als Sträfling auf Van Diemen’s Land landet, dem heutigen Tasmanien, der hat nur noch wenig Grund zur Hoffnung. Die entlegenste Strafkolonie des Vereinigten Königreichs ist ein unwirtliches Eiland, das kaum Wildleben beherbergt und auch nur von wenigen Menschen besiedelt wird. Im Jahr 1822 verschlägt es auch den Iren Alexander Pearce wegen des Diebstahls von sechs Paar Schuhen dorthin. Gemeinsam mit sieben anderen Häftlingen gelingt ihm die Flucht, doch der Weg durch die riesigen Wälder und über klirrend kalte Gebirgszüge entpuppt sich als beschwerlicher und vor allem länger als vermutet. Als der Proviant zu Neige geht, entschließen sich die Männer, sich an ihresgleichen zu vergreifen, um den Hunger zu stillen. Am Ende lebt nur noch Alexander Pearce, doch zurück in Gefangenschaft glaubt ihm niemand seine Geschichte, als er geständig ist. Wenige Monate später flieht er erneut mit einem Mithäftling, bringt auch diesen um und verspeist ihn. Er wird des Mordes und des Kannibalismus verurteilt und hingerichtet.

Diese wahre Geschichte erinnert an die düsteren Anfänge Australiens als Strafgefangenenkolonie des britischen Empires und taugt für australische Staatsbürger verständlicherweise kaum als Gründungsmythos. Während es dem Banditen Ned Kelly gelang, posthum zum australischen Volkshelden verklärt zu werden, erzählt man sich vom Kannibalen Alexander Pearce nur ungern, taugt er höchstens für Gruselgeschichten am Lagerfeuer. Jonathan Auf Der Heide tritt mit seinem Spielfilmdebüt an, die Schauermär zu versachlichen, die widrigen Bedingungen, unter denen die Gefangenen ihre Entscheidung trafen, und die Konsequenzen für Körper und Geist, die diese Entscheidung nach sich zog, nachvollziehbar und nachfühlbar zu machen. Das gelingt ihm vor allem deshalb, weil er sich selbst, seine Crew und seine Schauspieler mitten hinein in das unwägbare Gelände begibt, das auch Pearce und seine Leidensgenossen durchkämmen mussten. Die atemberaubenden Naturaufnahmen eines Landes, das aussieht, als sei es von einem zornigen Gott im Fieber erträumt worden, erinnern nicht wenig an Herzogs „Aguirre, der Zorn Gottes“, Coppolas „Apocalypse Now“ oder Winding Refns „Walhalla Rising“, setzen die geradezu verschwindend winzigen Protagonisten in Kontrast zu einer Topografie und Vegetation, die nicht bezwingbar ist, die keine Rücksicht kennt. Und die die Männer zwingt, sich dem in der Natur vorherrschenden Gesetz des Stärkeren zu unterwerfen.

Bluttriefende Bilder vom Kannibalismus sucht man in „Van Diemen’s Land“ indes vergebens, stattdessen rückt Auf Der Heide die zunehmend angespannte Stimmung zwischen den Gefangenen in den Mittelpunkt: Erst bleiben die Worte aus, nachdem sie sich zuvor noch lautstark über ihre zurückgewonnene Freiheit gefreut hatten, dann wird der Abstand, den sie zueinander halten, größer, die Blicke, mit denen sie sich abtasten, misstrauischer. Die Angst ist greifbar: Aber es ist nicht nur die Angst vor dem anderen, sondern auch vor dem Abgrund, der sich vor ihnen aufgetan hat. Und Alexander Pearce? Der ist mitnichten das größte Monster unter ihnen, sondern lediglich der, der – ganz im Sinne Darwins – am besten angepasst ist. Er überlebt, weil er sich erst sehr zurückhält und kaum auffällt unter den teilweise extremen Charakteren, dann aber immer bereitwillig die Rolle des Züngleins an der Waage oder des Vollstreckers einzunehmen bereit ist. Wahrscheinlich erkennt er früher als alle anderen, wohin die Reise sie führen wird, doch er behält dieses Wissen für sich, wappnet sich innerlich für die Herausforderungen, die auf ihn zukommen, und schlägt dann unerbittlich zu, wenn es nötig ist. Er ist kein per se grausamer Mensch, wirkt zwischen den kantigen Häftlingen fast ein wenig zerbrechlich, aber es gelingt ihm besser als allen anderen, sein Gewissen abzustellen, nicht sentimental, sondern mit grausamer Rationalität zu handeln.

„Van Diemen’s Land“, auf den sich Auf Der Heide mit einem mit selber Besetzung gedrehten Kurzfilm vorbereitete, ist ein ruhiger, elegischer Film, der seinen Erzählrhythmus nie aufgibt. Der famose Score von Jethro Woodward verbindet sparsam folkloristische Klänge mit einem unheilvollen, industriell anmutenden Grollen, an die Stelle von Splattereffekten treten harte Schnitte, die nichts zeigen, aber trotzdem alles sagen, malerische und also statische Bildkompositionen, die an alte Gemälde erinnern, ersetzen um Aufmerksamkeit buhlende Kamerafahrten, die blassen Farben rücken die Geschehnisse des Films in eine nicht mehr greifbare Vergangenheit. Trotzdem sind uns Alexander Pearce und seine Kameraden nicht fremd. In mancherlei Hinsicht hat sich der Mensch nie verändert.

Van Diemen’s Land
(Australien 2009)
Regie: Jonathan Auf Der Heide; Drehbuch: Jonathan Auf Der Heide, Oscar Redding; Musik: Jethro Woodward; Kamera: Ellery Ryan; Schnitt: Cindy Clarkson
Darsteller: Oscar Redding, Arthur Angel, Paul Ashcroft, Mark Leonard Winter, Torquil Neilson, Greg Stone, John Francis Howard, Tom Wright
Länge: 105 Minuten
Verleih: I-On New Media

Zur DVD von I-On New Media

Die DVD erscheint in der interessanten „Edition Störkanal“ als schmales Digipack im Pappschuber mit eingeklebtem Booklet. Als Extras sind sowohl ein Audiokommentar mit Jonathan Auf Der Heide und Oscar Redding enthalten als auch eine sehr aufschlussreiche, ca. 20-minütige Dokumentation. Trailer und kurze, aber sehr amüsante Behind-the-Scenes-Schnipsel vervollkommnen die DVD, deren technische Ausstattung keinerlei Wünsche offen lässt.

Zur technischen Ausstattung der DVD:

Bild: 2,35:1 (16:9/anamorph)
Ton: Deutsch, Englisch/Gälisch (Dolby Digital 5.1)
Untertitel: Deutsch
Extras: Audiokommentar, Making of, Behind the Scenes, Teaser, Trailershow
Freigabe: FSK 18
Preis: 15,99 Euro

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