Am Ende des Kannibalismus

Derzeit herrscht große Aufregung in der Tagespresse – mehr wohl aber noch beim Filmverleih Senator und bei dem als „Kannibale von Rotenburg“ apostrophierten Armin Meiwes. Dieser hatte vor kurzem erfolglos zu verhindern versucht, dass ein Spielfilm über seinen Fall in die Kinos gelangt. Per „einstweiliger Verfügung“ sollten die Interessen Meiwes’ gewahrt bleiben – dass es dabei nicht nur um das verfassungsmäßig garantierte Persönlichkeitsrecht, sondern wohl auch um monetäre Interessen geht, schwingt als Dauervorwurf in den berichterstattenden Medien ständig mit. Immerhin hatte Meiwes seinen Fall „exklusiv“ an die Hamburger Produktionsfirma „Stampfwerk“ verkauft, die daraus mindestens einen Dokumentarfilm erstellen wollte.

>Während sich die Debatte derzeit also vor allem auf juristische und ästhetische Fragestellungen konzentriert (im Spiegel Online wird „Rohtenburg“ „ästhetisch und cineastisch ein mehr als mediokres Werk“ und ich selbst bin in meiner Filmkritik bei F.LM zu einem ganz ähnlichen Urteil gelangt), wird darüber die Frage, warum denn eigentlich in so kurzer Zeit schon drei (wenn man den Prolog des jüngst hierzulande auf DVD erschienenen Films „Feed“ mitzählen möchte: vier) Filme, die sich mit dem Fall Meiwes befassen, erstellt worden sind, völlig vernachlässigt. Es kann ja nicht nur die Hoffnung auf finanziellen Lohn sein – wenn man berücksichtigt, dass Rosa von Praunheims „Mein Herz in deinem Hirn“ aufgrund seiner starken Verfremdungsästhetik wohl nur Liebhaber erreichen wird und Marian Doras „Cannibal“ sich so sichtlich auf die Gore-Ästhetik kapriziert, dass er wohl nur die „Hartgesottenen“ ansprechen dürfte. Und auch „Rohtenburg“ ist nicht nur schlecht, nicht nur exploitativ und nicht nur spekulativ. Vor allem an seiner „Naivität“ zeigt sich nämlich ein Zug, der das ganze Thema des Falles bestimmt: Der Film bildet eine Krankengeschichte ab – ganz gleich, ob es diese wirklich gegeben hat oder nicht. Er stiftet Zusammenhang, wo bislang nur Spekulation und Unwissenheit herrscht, indem er die sattsam aus den Medien bekannten Fakten-Reihen zu einer Erzählung verknüpft.

Das gebrochene Tabu

Jeder Kannibalenfilm, nicht nur die cineastischen Meiwes-Derivate, erzählt in seinem Kern von einem Tabu: dem Kannibalismus. Ein Tabu, das gesellschaftskonsitutiv ist, von dem schon Sigmund Freud geschrieben hat, dass es eine derart gewaltige definitorische Macht besitzt, dass es sich seit den Urzeiten als religiöses und kulturelles Symbol in vielen Bereichen wieder findet. Derart zur unkonkreten Metapher geworden, ist die Realität des Kannibalismus, das praktizierte Menschenfressen, ein enormer Skandal, vor allem auch deshalb, weil es uns auf das manifeste Fundament der symbolischen Praktiken hinweist. Der Skandal, wenn – wie im Fall Meiwes – die Tötung und Verspeisung sogar auch noch auf beidseitigem Einverständnis beruht und damit umso mehr als „kultische Handlung“ erscheint, ist grenzenlos. Davon haben alle Medien, von der „Bild“-Zeitung bis zur „Zeit“ von „RTL Explosiv“ bis in die „KulturZeit“ Zeugnis abgelegt.

Und jetzt kehren die Bilder, die angeblich zu grausam sind, als dass man sie sich vorstellen wollte, wieder in den Kulturhaushalt zurück und sollen von allen gesehen werden können. Während die Videos, die Meiwes von seiner Tat aufnahm, nicht wie Kunst, sondern ganz richtig wie ein Beweisstück im juristischen Verfahren verbleiben, tauchen nun Hirngespinste auf, die dasselbe zeigen und es – in allen vier Filmen zum Fall ist das zu sehen – mit nur erdenklicher Mühe authentisch erscheinen lassen wollen. Warum wollen wir das angeblich sehen? Warum muss man uns das zeigen? Eines ist klar: Es scheint durchaus ein Bedürfnis nach diesen Bildern zu geben: Wo kein Publikum ist, da ist auch kein Film. Aber wo gleich vier Filme sind … Der Umkehrschluss scheint gültig.

Verstehenwollen

„Rohtenburg“ erzählt in seiner Binnengeschichte von der Kindheit und Jugend des Kannibalen und seines Opfers. Obwohl die beiden sich bis zu ihrem ersten und letzten Zusammentreffen nicht gekannt haben, kann man beider Geschichten kaum auseinander halten. Sie erzählen von der Scheidung der Eltern, von strengen Müttern, von früher Kriminalität, von Verwahrlosung. Zwei Kindheiten, die man gut und gern als „insgesamt traumatisch“ bezeichnen kann. Und damit hat sich bereits ein verstehbares Korsett gefunden, in das sich die „Tatsachen“, von denen der Film erzählt, einfügen lässt: Wiederum geht es um das Schließen von Verständnislücken. Dieses Mal sind es jedoch essenzielle Informationen, die fehlen, Antworten auf die Fragen: Wie konnte so etwas geschehen? Wie wird man zum Kannibalen? Wie kann man sich freiwillig ermorden und verzehren lassen wollen?

Das ist es, was wir, die Zuschauer der Filme und die Zeugen der juristischen Aufarbeitung des Falles „wissen wollen“. Über die Psychologisierung der Tat oder besser die Stiftung einer pathologischen Biografie bei Täter und Opfer, wird ein Prozess in Gang gesetzt, der seit der Aufklärung zum Umgang mit dem Wahnsinn – und wer würde abstreiten, dass Meiwes und sein Opfer nicht zumindest teilweise der Sphäre des Wahnsinns entstammen? – bestimmend sind. Die Geschichte von Psychologie und Psychiatrie ist seither damit betraut, Verstehensprozesse in Gang zu setzen. Denn nur Verstehen bannt das dämonische Schweigen des Wahnsinns und überführt den wahnsinnigen Täter zurück in unsere Kultur, wo wir ihn denkend bezwingen können.

Zeigenmüssen

Die Kriminalliteratur- und -filmgeschichte ist voll von authentischen und nicht authentischen Fällen, in denen Menschen Gesetze und Tabus übertreten – das ist das Thema dieses Bereichs der Kulturproduktion. Nun ist die Frage, warum sich jemand, der in einer relativ stabilen Umgebung lebt, ausgerechnet Geschichten der Instabilität aussetzt, auf den ersten Blick gerechtfertigt und die Antwort darauf „gerade weil seine Umgebung so stabil ist“ nur scheinbar paradox. Es ist nämlich die beständige Bedrohung des Status Quo, die in der Kriminal-Fiktion projiziert wird. Auf ungefährliche Weise können wir uns dieser Bedrohung dort stellen und sie mit den Waffen der Rationalität (was wäre der Detektionsprozess, an dessen Ende die Überführung und Entfernung des Täters aus der Gefahrenzone steht, anderes?) besiegen.

Und was bei fiktiven Geschichten funktioniert, funktioniert auch bei der kulturellen Verarbeitung authentischer Kriminalfälle. Ob der Täter „in Wirklichkeit“ nun gefasst (wie Meiwes) wurde, noch auf freiem Fuß ist oder unüberführt (wie Jack the Ripper) blieb, spielt dabei keine Rolle. In unseren Fiktionen bleiben wir die Sieger – selbst wenn sie einmal kein Happy End haben. Denn wir überführen darin vielleicht nicht unbedingt den Täter ins Gefängnis, aber das Irrationale der Tat in die Bastion der Vernunft. Dieser Prozess stabilisiert die Zivilisation, weil er – eben wie die Symbolisierungsprozesse des Kannibalismus von denen Freud spricht – das Reale in das Symbolische adaptiert. Wir bannen das Böse, indem wir uns ein Bild davon machen; wir verlieren unsere Angst vor dem Grauen, indem wir es uns erklären.

Es ist die Pflicht der Kulturproduktion – der sie seit jahrtausenden stillschweigend und ohne Forderung nachkommt – die Zivilisation auf diese Weise zu „beruhigen“. Der Begriff der „Verarbeitung“ sagt in all seinen Bedeutungsnuancen, was dabei vonstatten geht. Es wäre demnach fatal, diesen Prozess zu stoppen, weil die „Verarbeitung“ damit verunmöglicht wird, weil der Verstehensprozess damit unterbunden wird und weil anstatt (Selbst-)Aufklärung damit Angst und Machtlosigkeit die Oberhand gewännen.

Exploitation und Kunst

In den USA hat man angesichts verschiedener Versuche von Verbrechern, aus ihrer Geschichte Geld zu machen, die Konsequenz gezogen, dass der Täter sich an seiner Tat nicht bereichern darf. Aber was, wenn sich jemand anderes an der Tat bereichern will? Das ist auch die Frage, um die es derzeit bei „Rohtenburg“ geht. Ihre Beantwortung ist schwierig, weil sich nicht immer klären lässt, ob die „Ähnlichkeiten mit lebenden oder Toten Personen“ (wie es in jedem Spielfilmabspann heißt) wirklich „rein zufällig“ sind. Auch am Ende von „Rohtenburg“ stand dieser Satz – und wenn er auch nur eine juristische Floskel zu sein scheint (eine Floskel, die jetzt Streitgegenstand der einstweiligen Verfügung ist), ist doch genau er der Knackpunkt: Ist letztlich nicht jedes abgebildete Verbrechen auch eine Abbildung wirklicher Geschehnisse und damit „exploitation“?

Wie viele Ähnlichkeiten zu einer „wahren Geschichte“ darf ein Film haben, um „zu ähnlich“ zu sein. Bei „Rohtenburg“ sind 88 Übereinstimmung mit der Geschichte Meiwes’ festgestellt worden. Wäre die Hälfte auch schon zu viel gewesen? Und wie ist eine Filmästhetik zu bewerten, die ja genau diesen Effekt beabsichtigt: dass alles nach einer „wahren Geschichte“ aussieht, angefangen bei den einführenden Prologtexten über verwackelte Handkameras, sepia-gefärbte Bilder und naturalistische Splatter-Effekte? Schaut man sich „Rohtenburg“ an, so ist eines gewiss: Der Film will für wahr gehalten werden. Nur ist das eben nicht allein die Wahrheit, die gerade Streitgegenstand ist (also die Wahrheit der Fallgeschichte Meiwes’). Es ist eine Wahrheit, die vor allem der Affektproduktion dient. Denn heutzutage kann man im Mainstream-Kino offenbar nur noch dadurch, dass man sein (möglichst breites) Publikum affiziert, emotionale und intellektuelle Regung in diesem verursachen.

Darf man „Rohtenburg“ verbieten?

Der Affekt, der das Eintauchen und Miterleben der „Geschichte des Kannibalen und seines Opfers“ für den Zuschauer erleichtert, ist der Anlass dafür, dass er sich mit seinen Emotionen auseinander setzt, dass er jenen oben beschriebenen Prozess der Symbolisierung vollziehen kann. Dass „Rohtenburg“ auf einem authentischen Kriminalfall beruht, vergisst man während der Filmrezeption. Man verfolgt das Geschehen auf der Leinwand, folgt den Geschichten der Figuren. Und selbst als am Ende nicht „alles wieder gut“ geworden ist und die junge Kriminalpsychologin, die die Rahmenhandlung des Films bestimmt, in Tränen vor der Unfassbarkeit der Tat zusammenbricht, kann man sich als Zuschauer eigentlich entspannt zurück lehnen. Es war ja nur ein Film. Aber wenn das Nachdenken und die Identifikation der Fiktion mit dem Fall hinterher einsetzen, war es eben auch eine Verarbeitung, die da stattgefunden hat.

Darf man also „Rohtenburg“ verbieten, allein mit der Begründung, dass er zu viel Wahrheit über den Fall erzählt und weil „Persönlichkeitsrecht über Kunstfreiheit zu stellen“ sei? (so, das Argument des Verbotes) Hätte man mit dieser Begründung nicht auch jeden Bericht über den Fall verbieten müssen, bei dem nicht ganz klar ist, ob er nur deshalb gedruckt oder ausgestrahlt wurde, weil durch ihn informiert werden sollte und nicht auch die Auflage oder die Quote positiv beeinflussen soll? Die Grenzen scheinen ja durchaus fließend zu sein. Und „Rohtenburg“ dient ebenso der Aufklärung wie jede Form der Berichterstattung – nur eben einer anderen Art Aufklärung. Der Zusammenprall der juristisch-ethischen und des kulturell-psychologischen Diskurse am Fall/Film Meiwes/“Rohtenburg“ zeigt einmal mehr, dass Verbote nicht die letzte Weisheit im Umgang mit Kunst sein können. Auf dem einen oder anderen Weg wird dieser und auch die anderen Filme zum Thema ihren Weg zu den Zuschauern finden. Und wenn nicht diese, dann andere, denn die Auseinandersetzung ist nicht zu stoppen; sie darf nicht gestoppt werden.

4 Antworten auf „Am Ende des Kannibalismus“

  1. Ich habe mir vor kurzem das buch „interview mit einem kanibalen“ gekauft um zu verstehen wie und warum so etwas geschehen ist/musste. ich befürchte wenn dieser film in die kinos kommen sollte werden horrorfans mehrheitlich in die kinos gehen…
    so spricht man zwar ein viel größeres publikum an doch in einem film (zeitl. bedingt) werden meist doch optische reize angesprochen. und daher bekommt die ganze geschichte schnell etwas klischeehaftes und kratzt nur an der oberfläche.

    doch hier sollte man sich zeit nehmen und die person im ganzen erforschen.

    ein buch, ja!
    ein film, jain…

  2. Ich muss meinem Vorredner widersprechen: Der Film ist kein Horrorfilm, sondern eher der Versuch der Darstellung der lebenslangen Psychose dieser beiden Maenner, dem Genre geschuldet natuerlich etwas trivial. Horrorfans werden nicht auf ihre Kosten kommen und meine Frau meinte „ein bischen langweilig“. Der Film wird mit Sicherheit kein Kinoerfolg, obwohl er scheinbar in grossen Teilen sich an die wahre Geschichte anlehnt – das Frankfurter Oberlandesgericht fand 88 Uebereinstimmungen darin.

  3. Ich habe den Film schon vor 2 Jahren in Australien (in englischer Sprache) gesehen und der ist wirklich gut. Der Film ist weder pornografisch oder auf Horror getrimmt sondern hat eher dokumentarischen Charakter. Ich fand die Leistung der Schauspieler wirklich gut und war von der Umsetzung ziemlich beeindruckt. Ich finde es gut, dass das Thema „Kanibalismus im 21. Jahrhundert“ aufgegriffen wurde und daraus ein wirklich sehenswerter Film wurde, der mich im Gegensatz zu vielen anderen auch nach dem Abspann noch zum Nachdenken, Reflektieren und diskutieren angeregt hat.

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