Die Sehnsucht nach dem Vater

Die klassische psychoanalytische Theorie hat zur Bestätigung oder Illustration ihrer Thesen häufig auf die Erzeugnisse der Kunst (vor allem der Literatur) zurückgegriffen. Der moderne Künstler bedient sich dagegen selbst der Psychoanalyse, um seine Message zu vermitteln, und die psychoanalytische Deutung muss sich jetzt vor allem darauf konzentrieren, die entsprechenden Einspielungen zu entschlüsseln, anstatt das aus dem Werk sprechende Unbewusste ans Tageslicht führen zu wollen. So zeigt Manfred Riepe in seiner Pedro Almodόvar gewidmeten Monographie „Intensivstation Sehnsucht“, dass der Regisseur sich durchaus bewusst durch sein ganzes Schaffen hindurch mit einzelnen Leitsätzen der freudschen Lehre auseinandergesetzt hat.

Auf den ersten Blick mag das überraschend klingen, denn Almodόvars Protagonisten scheinen an der von Freud als einzig möglich angesehenen patriarchalischen Ordnung quasi „vorbeizuleben“. Die Markantesten von ihnen verweigern die „normale“ Sozialisation, die aus dem Ödipalen Dreieck hervorgehen sollte und leben als Trans- oder Homosexuelle am Rande der Gesellschaft. Diejenigen, die dagegen scheinbar erfolgreich sozialisiert sind und sich mit ihrer „regulären“ Männlichkeit bzw. Weiblichkeit in vollem Umgang assoziieren, fristen oft ein unerfreuliches Dasein, bis sie schließlich die Unhaltbarkeit der ihnen anerzogenen Wertvorstellungen erkennen müssen. Dazu passend werden auch die Vaterfiguren (das A und O der psychoanalytischen Theorie) bei Almodόvar durchweg „schwach besetzt“ oder fehlen gänzlich. „Umso erstaunlicher ist, – so Riepe, – dass der im Ödipuskomplex festgelegte Platz des Vaters und seine symbolische Funktion bei Almodόvar keineswegs verschwunden sind“. (242) Und tatsächlich lässt sich von seinem Spielfilmdebüt „Pepi, Luci, Bom y otras chicas del montόn“ bis zum bisher letzten Werk „La mala educatiόn“ ein Interesse für die vaterbezogenen Konstellationen erkennen. Die Abwesenheit des Vaters gewinnt so eine neue Bedeutung, da mit ihr die Sehnsucht erst geweckt wird, die die Protagonisten zu ihrer Suche nach einer Ersatzfigur antriebt.

Die Krise der Vaterschaft ist bei Almodόvar gleichzeitig eine Krise der (traditionellen) Männlichkeit. Die vermeintlich starken Männer offenbaren bei ihm ihre „schwachen“ Seiten, auch wenn sie aus ihrer heterosexuellen Rolle nicht herausfallen. Wie beispielsweise Ricky aus „Fessle mich!“, der sich am Anfang noch als ein übertriebener Macho aufführt und bei der Schauspielerin Marina selbstbewusst die Liebe „einfordert“, und der am Ende selber zum Sklaven des konservativen Familieninstituts wird. Doch wie problematisch die realen Verkörperungen der sozialisierten Männlichkeit im Sinne Freuds und Lacans bei Almodόvar auch geworden sind, so sichtbar bleibt in seinen Filmen der symbolische Phallus, der sich unabhängig von den Helden durch eine „Substitutionsbewegung“ manifestiert. Die Palette der metaphorischen Repräsentationen des Phallus reicht von dem angedeuteten „Erektionswettbewerb“ in „Pepi, Luci, Bom“ über die traumatische (Wieder)Geburt eines Kindes (das Kind wird noch bei Freud als ein Ersatz für den fehlenden Penis der Frau gedeutet) in „Alles über meine Mutter“ bis hin zu der geweihten Hostie, die in „La mala educatiόn“ mit dem Phallus des heiligen Vaters assoziiert wird, der seinen Schüler sexuell missbraucht.

Manfred Riepe führt den Leser sehr konsequent durch Almodόvars Universum, indem er zu jedem Film prägnante und spannende Analysen liefert, die kühn in die Tiefe gehen, ohne dabei an Verständlichkeit und stilistischer Leichtigkeit zu verlieren. Vor allem gelingt es ihm, Strukturen aufzuzeigen, die dem gesamten Werk des spanischen Regisseurs zugrunde liegen und somit dem Leser ein theoretisches Instrument in die Hand zu geben, mit derer Hilfe er sich im verschachtelten Labyrinth der Filme von Almodόvar besser orientieren kann.

Manfred Riepe
Intensivstation Sehnsucht.
Blühende Geheimnisse im Kino Pedro Almodόvars. Psychoanalytische Streifzüge am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Bielefeld: transcript 2004
260 Seiten (broschiert), 25,80 Euro

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