Verfemte Transgressionsutopie

Bevor sich Bryan Singer in das Superhelden-Genre begab („X-Men 1 + 2“, „Superman Returns“, „Valkyrie“), lieferte er eine Reihe exzellenter Filme ab, neben dem vielbeachteten „The Usual Suspects“ (1995) auch den kaum beachteten „Apt Pupil“ (dt. Der Musterschüler, 1998) nach einer Geschichte aus Stephen Kings einflussreicher Novellensammlung „Different Seasons“ (dt. „Frühling, Sommer, Herbst und Tod“, 1982), die schon Vorlagen für weitere bemerkenswerte Filme geliefert hatte („Stand by me“, „Shawshank Redemption“). Eine weitere, inoffizielle, freie Adaption von „Apt Pupil“ lieferte aber bereits 1986 der spanische Regisseur Agustí Villaronga mit seinem kontrovers diskutierten Spielfilmdebüt „Tras el Cristal“ ab, der weniger Interesse an der psychologischen Zeichnung seiner Figuren im Spannungsfeld von Homophobie und –erotik hat, sondern sich stärker der unbequemen Transgressions-Uto/-dystopie, die in der Vorlage stellenweise anklingt, widmet.

In Kings Erzählung ist es der amerikanische Vorzeigeschüler Todd, der den Naziverbrecher Dussander, den „Bluthund von Patin“ (einem fiktiven KZ), in seiner Nachbarschaft erkennt und erpresst, ihm seine dunklen Geheimnisse zu offenbaren. Doch entsprechend dem Nietzscheanischen Diktum vom Abgrund („Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“), entlockt er Dussander nicht nur die verdrängte vormalige Schlächter-Identität, sondern wird auch selbst zu einem willfährigen Helfershelfer. Insbesondere seine erwachende Sexualität erweitert sich zu einer Sadoerotik, in Träumen voll drastischer Tabubrüche, vor denen er gleichermaßen erschreckt, vor allem aber erregt ist. So träumt Todd, in einem Konzentrationslager als Dussanders „wissenschaftlicher“ Assistent junge Jüdinnen auszuwählen, in einem Labor auf einen Tisch zu schnallen und mit einem metallenen, Elektroschock-Dildo zu penetrieren („She cried out when the tip of the dildo touched her. Todd found the cry pleasant, as he did her fruitless struggles to free herself, or, lacking that, to at least bring her legs together.”)– alles freilich unter streng “wissenschaftlichen” Kontrollbedingungen, monitorüberwacht und protokolliert von Dussander: “Test run eighty-four. Electricity, sexual stimulus, metabolism…”.

Die unbequeme Wahrheit, das solche Szenarien zwar furchtbar, aber auch (gerade weil sie furchtbar sind) erotisch sein können, ist bei King – mit seiner Verwurzelung in der puritanischen Mentalität des weißen amerikanischen Vorstädters (oder WASP = White Anglo-Saxon Protestants) – nur soweit angedeutet, das die adressierte Leserschaft nicht verprellt wird. Die sadomasochistische Todes- und Schmerzenserotik, dem verfemten Teil menschlicher Existenz, ist in Stephen Kings Kosmos eines modernisierten „secure horror“ (Andrew Tudor) nur soweit erlaubt, wie sie auch deutlich als „böse“ markiert wird.

„Im Glaskäfig“ konzentriert sich ganz auf den sadoerotischen Kern von „Apt Pupil“, verschärft das Skandalon noch mit Motiven aus Georges Batailles Werk über den berüchtigten Kindermörder Gilles de Rais, und verwandelt das Ganze so zu einer filmischen Grenzerfahrung, die den sicheren doppelten Boden, den Kings stark der WASP-Mentalität verpflichteten Geschichten so erfolgreich machen (Kings Brillanz: Zeichnung einer identifikationsfähige „Normalität“, die als Bezugspunkt doch immer irgendwie erhalten bleibt), verlässt. Die Bataille-Referenzen des Werks legen nahe, mit Batailles Philosophie von Verbot und Überschreitung Villarongas sperriges Werk mit seinen unbequemen Wahrheiten zu erschließen, denn ohne intellektuellen Halt (auch jenseits von Bataille) wird einen dieser Film entweder sprachlos zurücklassen oder aber zu moralischer Entrüstung auffordern. Villaronga bekam letzteres bei der Berlinale zu spüren, als er von einem Zuschauer als „Schwein!“ und „Mörder!“ beschimpft und geprügelt wurde.

Im Zentrum von Batailles Philosophie steht die Grenzüberschreitung (Transgression), die eine innere Erfahrung der Souveränität evoziert, ein ozeanisches All-Einheitsgefühl des ansonsten den Machtstrukturen der Sphäre des Diskontinuierlichen unterworfenen entfremdeten Subjekts. Die Grenzen sind markiert durch vielfältige institutionalisierte Verbote und Tabus, die dem Einzelnen (oder ganzen Gesellschaften) aber auch als Angriffspunkte für die Überwindung des als erdrückend empfundenen, aber der Selbsterhaltung dienlichen zivilisatorischen Regelkorsetts aufscheinen. In „Im Glaskäfig“ vollzieht sich diese Überschreitung an den Tabus Tod, Gewalt, Erotik im Allgemeinen, vor allem aber „devianter“ Sexualität im Speziellen: Voyeurismus, Sadomasochismus, diverse Fetische, Lustmord, Homo-, und Pädophilie / Päderastie, kurzum ein Gutteil der „Psychopathia sexualis“.

In „Im Glaskäfig“ ist der KZ-Arzt Klaus (Günter Meisner), der im Konzentrationslager seine tödlichen Experimente mit Kindern zu pädophilen und sadoerotischen Spielen ausweitete, mit seiner Frau Griselda (Marisa Paredes) und seiner Tochter Rena (Gisèle Echevarría) in Spanien untergetaucht. Doch auch dort kann er seine grausame Leidenschaft (seine durch die Transgressionserfahrung gewonnene Souveränität) nicht mehr aufgeben, bis er sich schließlich in plötzlicher Erkenntnis seiner Schuld vom Dach in den Tod zu stürzen versucht. Klaus überlebt querschnittgelähmt und ohne Kraft zur Atmung, muss daher fortan in einer eisernen Lunge künstlich am Leben erhalten werden.

Eines Tages verschafft sich der junge Angelo (David Sust) Zutritt zu Klaus’ Zimmer und nötigt ihn mit seiner düsteren Vergangenheit als Druckmittel dazu, ihn unbedingt und entgegen der Vorbehalte seiner Frau zu seinem Krankenpfleger zu machen.

Angelo (ein Racheengel?) erscheint wie aus dem Nichts, um Klaus aus seiner Verdrängungshaltung, seinem Dämmerschlaf (erinnert die eiserne Lunge, in der Klaus steckt, nicht an den gläsernen Sarg, in dem Schneewittchen aufgebahrt lag, bevor der Königsohn sie erweckte?) nach dem misslungenen Suizid, gewaltsam herauszureissen und ihn mit seiner Überschreitung zu konfrontieren. Sukzessive nötigt der Schüler seinen unfreiwilligen Mentor, ihm Einblicke in die Untiefen seiner Seele zu gewähren, zwingt ihm die Transformation seiner Umwelt in eine Welt uneingestandener Wünsche auf. Die bürgerliche Scheinexistenz mit Frau, Kind und Haushälterin wandelt Angelo drastisch um, indem er sich die patriarchale Macht des nunmehr impotenten Familienvaters aneignet, die Haushälterin entlässt, die verdachtschöpfende Mutter brutal ermordet, die Tochter für sich einnimmt, das ehemals saubere, wohnliche Haus in ein unbehagliches, schmutzig-düsteres Verließ verwandelt (ein locus terribilis , der an den schmutzigen Folterkeller in der Anfangsszene erinnert, in der Klaus sein letztes Opfer liebkost und dann erschlägt). Angelo schleppt Kinder aus der Nachbarschaft an, die er dann – anfangs gegen den Willen seines Mentors – vor seinen Augen sich auskleiden lässt, um sie dann mit Kehlenschnitt oder einer mit Benzin gefüllten Spritze zu ermorden.

Im Gegensatz zu Kings Vorlage, in der der amerikanische Teenager Todd dem Nazi Dussander verfällt, ist in Villarongas inoffizieller Adaption das Lehrer-Schüler-Verhältnis von der ersten Minute an umgekehrt. Es ist der Schüler, der den seiner Lehren abtrünnig gewordenen Mentor wieder mit allen Mitteln zu seiner einstigen monströsen, exzesssüchtigen „Raison“ zu bringen versucht. Erst gegen Ende wird dem Zuschauer (in einem Flashback) angedeutet, dass Angelo einst als kleiner Junge selbst von Klaus missbraucht worden war.

In der Eingangssequenz des Films wird uns das letzte Verbrechen von Klaus aus der Perspektive eines Voyeurs gezeigt. Dieser anonyme Voyeur entpuppt sich nun als eines seiner früheren, mit dem Leben davongekommenen Opfer: Angelo, der als bloßes Objekt von Klaus’ ichbefangener Grenzüberschreitung (die im Missbrauchs- und Tötungsakt Ekstase sucht), wendet sich aber nicht etwa an die Institutionen der „heilen“ Welt, um das Verbrechen gesühnt zu sehen (z.B. Eltern, Polizei), sondern – ausgestattet mit dem Tagebuch, in dem Klaus seine Exzesserfahrungen festgehalten hatte – fängt er an, sich selbst danach zu sehnen, Subjekt einer Transgressionserfahrung zu werden, indem er sich aktiv dem Täter unterwirft und in letzter Konsequenz auch das Täter-Opfer-Verhältnis umzukehren sucht.

Villaronga inszeniert dieses abgründige Geschehen ohne eine moralische Identifikationsfigur – bzw. diese (die Mutter) wird in Psycho-Manier nach einer halben Stunde Laufzeit des Films ins Jenseits befördert, nachdem sie sich moralisch auch desavouiert hatte (sie hat zuvor versucht, die eiserne Lunge ihres Mannes abzuschalten, um endlich frei zu sein). Und auch die zweite (auch weibliche) Figur, die potentiell dem Bedürfnis des Zuschauers zur Identifikation entgegenkäme, die Tochter Rena, wird dem Zuschauer in der Schlusssequenz als ebenso empfänglich für die Abgründe einer conditio humana offenbart, wie sie Villaronga in seinem Debütwerk nicht hätte düsterer skizzieren können: Nachdem sich Angelo seines Mentors entledigt und dessen Rolle angeeignet hat, dient sich Rena auch schon als neue Novizin an.

Im Glaskäfig
(Tras el Cristal, Spanien 1987)
Drehbuch und Regie: Agustí Villaronga, Kamera: Jaume Peracaula, Musik: Javier Navarrete, Schnitt: Raúl Román, Darsteller: Günther Meisner, David Sust, Marisa Paredes, Giséla Echevarría, Imma Collomer
Länge: ca. 107 Minuten

Zur DVD von Bildstörung

Lobenswert, wie das Label Bildstörung die Schätze des Paracinema birgt: Nach Rolf de Heers „Bad Boy Bubby“, „Marquis“ von Henri Xhonneux & Roland Topor und zuletzt Narciso Ibáñez Serradors „Ein Kind zu töten…“ folgt nun endlich mit „Im Glaskäfig“ der ursprünglich schon für Ende 2008 angekündigte „Drop Out 01“. Die lange Wartezeit hat sich gelohnt. Die DVD ist wieder Referenzklasse, diesmal entstand die Veröffentlichung und die darauf enthaltende Neuabtastung des Filmmaterials sogar in enger Zusammenarbeit mit dem Regisseur persönlich. Verwunderlich ist daher, das die DVD keine englischen Untertitel enthält, wäre diese deutsche DVD-Veröffentlichung zur Abwechslung auch mal interessant für Cinephile im Ausland.

Mittlerweile ist auch schon ein weiteres „Drop Out“ angekündigt: Im Sommer 2009 soll der pornographische Horrorfilm „La Bête“ von Walerian Borowczyk erscheinen, dessen Listenstreichung bei der BPjM Bildstörung erfolgreich erwirken konnte. Man darf gespannt sein!

Zur technischen Ausstattung der DVD:
Bildformat: 1:1,85 (16:9)
Tonformat: Spanisch DD 2.0
Untertitel: Deutsch
FSK: ab 18
Extras: Audiokommentar & Interview mit Agustí Villaronga, kommentierte Bildergalerie, 16-Seitiges Booklet mit Linernotes (mit einem exzellenten Essay von Marcus Stiglegger: „Kristallbilder – Agustí Villarongas katalanisch-mallorquinisches Alptraumkino“)

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