Metamorphosen des Flaneurs im Großstadtfilm

„1839 war es elegant, beim Promenieren eine Schildkröte mit sich zu führen. Das gibt einen Begriff vom Tempo des Flanierens in den Passagen.“
(Benjamin 1998: 532)

1. Städtebilder

Die Kunstform des Films, die man in vielerlei Hinsicht als die Fortsetzung des modernen populären Romans des 19. Jahrhunderts betrachten kann, befasst sich wie jene auch sehr intensiv mit dem Phänomen „Großstadt“ und der urbanen Mentalität ihrer Bewohner. Der Inszenierung des urbanen Raums und besonders der Straße als der Lebenswelt des modernen Menschen fällt deshalb in vielen Filmen besondere Bedeutung zu. Ganze Filmgenres werden mit Attributen der Großstadt identifiziert: So handelt der Film Noir der 40er Jahre mit seinen zahlreichen Neuauflagen in der Geschichte Hollywoods (Chinatown, USA 74; Blade Runner, USA 86; L.A. Confidential, USA 97) ausschließlich vom städtischen Leben und von der Straße. In Howard Hawks’ The Big Sleep (USA 46) konzentriert sich das Bild von der Stadt als Melting Pot und Großstadtdschungel metaphorisch im heißen und schwülen Treibhaus des General Sternwood.

Viele Regisseure werden inzwischen mit den von ihnen filmisch inszenierten Städten zusammengedacht. New York scheint (selbstverständlich neben Los Angeles als der Heimat Hollywoods) dabei die traditionell präferierten filmisch-literarischen Städtebilder von Paris, London und Berlin abgelöst zu haben. Woody Allens Filme sind fast ausnahmslos Filme über Manhattan (USA 79) und zeichnen liebevolle und detaillierte Portraits über das Lieben und Leiden der Pseudointellektuellen in diesem New Yorker Stadtteil. Seine Filme kreisen um den inzwischen zum Klischee erstarrten flanierenden „Stadtneurotiker“, einer Figur, mit der auch Allen selbst identifiziert wird. Der Stadtneurotiker ist denn auch die kongeniale deutsche Übersetzung von Allens Film Annie Hall (USA 77). Filmische Topographien New Yorks gibt es auch bei den Versuchen Martin Scorseses über das Großstadttreiben – speziell über Little Italy – wie in Mean Streets (USA 73) mit seinem semidokumentarischen Gestus. New York, New York (USA 77) oder New York Stories (USA 89: mit Woody Allen und Francis Ford Coppola) tragen ebenfalls nicht nur den Namen der Stadt im Titel, sondern präsentieren diese aus unterschiedlichen Perspektiven. Taxi Driver (USA 76) versetzt seinen Helden, den traumatisierten Vietnam-Einzelkämpfer, in den Großstadtdschungel, der in all seinen Verfallsformen (von der Prostitution bis zur Politik) als Sündenbabel wahrgenommen wird. Auch Scorseses Mafia- und Gangsterfilme sind Filme über die jeweiligen Städte. In Casino (USA 95) zum Beispiel wird ein belagertes Las Vegas gezeigt, wie es versucht, einer Kolonisierung durch die Mafia zu widerstehen. Bringing Out the Dead (USA 99), ein Film mit einem vergleichbaren Point Of View wie Taxi Driver, beobachtet ebenfalls aus der Warte des isolierten Nachtfalken den Verfall der Stadt mit dem verzweifelten Versuch, an diesem nicht zu zerbrechen. Die verdrängten Dämonen des von der Straße gezeichneten Helden, der (als Sanitäter) verflucht scheint, den Menschen keine Rettung bringen zu können, fahren dabei wörtlich wie Dampf aus den Gullydeckeln und dem Asphalt der Straßen auf und finden sich im Gesicht jedes Passanten oder Obdachlosen wieder. Die Stadt wird hier zur Vorhölle. Vergleichbar düster-infernalische Versionen der Großstadt gibt es auch in den Filmen Abel Ferraras – allen voran Bad Lieutenant (USA 92). Ferraras Filme sind wie bei Scorsese von christlich-messianischen Denkfiguren wie dem Sünde-/Vergebungs-Komplex geprägt und tragen deutlich ikonographische Spuren des Katholizismus.

Aber die filmische Inszenierung von Großstadt muss keiner realen Stadt der Gegenwart entsprechen. Gerade der Science Fiction-Film besticht durch die Evokation seines urbanen Settings. In Richard Fleischers SF-Film mit ökologischer Botschaft, Soylent Green (USA 73), wird ein trostloses New York im Jahre 2022 gezeigt, das, wenn man es zynisch betrachten möchte, schon den Grünfilter von The Matrix vorwegnimmt – als Markierung einer vergifteten Atmosphäre in der Stadt. Daneben gibt es futuristische Großstadt-Variationen im Pop-Comic-Format, die zumeist auf anachronistische Weise die phantastische Architektur der Schauerromantik, der Gothic Novel, implementieren. Dazu gehören Tim Burtons Batman (USA 89) und Batman Returns (USA 92), Alex Proyas’ The Crow (USA 94) und Dark City (USA 97) und in Ansätzen The Matrix (USA 99) der Wachowski Bros., in dem das Gothic-Haus Morpheus’ als Portal zwischen der Welt des Traumschlafs und der Welt der Wachen dient – Alice vor und hinter den Spiegeln. Katsuhiro Otomos Neo-Tokio in der Animé-Adaption seines Manga Akira (J 87) oder Mamoru Oshiis Ghost in the Shell (J/GB 94) dagegen nehmen den Topos des Urban Sprawl, einer Megacity als Fusion mehrerer Großstädte, auf, wie er in der Cyberpunk-Literatur seit den 80er Jahren verwendet wird.

2. Städtische Perspektiven

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Stadt im Film zu inszenieren. Hier ein Vorschlag zu einer einfachen Kategorisierung: Man kann die verschiedenen Perspektiven innerhalb eines Films im Spannungsfeld der Dichotomie Vogelperspektive/Draufsicht und Froschperspektive/Straßensicht einordnen. Im ersten Fall wird eine Stadt von ihrer erhabenen und vertikalen Architektur geprägt. Eine Sicht, die zum Beispiel mit einem Flug über die Skyline der Stadt akzentuiert wird. Diese olympische Vogelperspektive findet auf wirksame Weise Verwendung im utopischen Stadtfilm Fritz Langs, Metropolis (D 26), in Ridley Scotts Blade Runner, in Batman, Batman Returns, in Luc Bessons The Fifth Element (USA 97), Taylor Hackfords The Devil’s Advocate (USA 97) oder auch in The Crow und Dark City. Zu dieser Betrachtungsweise gehört häufig auch die distanzierte Charakterisierung der Stadtbewohner als nicht näher differenzierte Masse. Die zweite Möglichkeit, die weitaus häufiger Einsatz findet, ist eine Erzählung auf Straßenhöhe – Street Life. Es geht dabei um die Nahaufnahme vom Leben der Menschen in der Großstadt und vor allem ihrer Lebenswelt, der Straße. Bekannte Beispiele sind Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder (D 31), das schon erwähnte Genre des Film Noir mit seinen Neuauflagen sowie fast alle Filme Woody Allens oder auch die Subgattung der episodisch verschachtelten Baustein-Filme wie Robert Altmans Short Cuts (USA 93), Todd Solondz’ Happiness (USA 98) oder Paul Thomas Andersons Magnolia (USA 99). Ein weiteres Beispiel bildet auch die Zusammenarbeit des Schriftstellers Paul Auster (The New York Trilogy) mit dem Regisseur Wayne Wang über ein Zigarrengeschäft in Brooklyn. In Smoke (USA 95) und Blue in the Face (USA 95) ist dieser Laden der fixe Ausgangspunkt und Nexus für die verschiedenen Fäden der Erzählung. Selbstreflexiv wird diese Strategie im Hobby des Tabakladenbesitzers Auggie Wren kommentiert, der die kontingente und sich stets im Fluss befindliche Welt der Stadt um diesen Tabakladen herum mit einem Foto der immer selben Straßenecke, zur selben Tageszeit und aus demselben Blickwinkel festhält, protokolliert und damit versucht, dem Stadtleben Ordnung und Sinn zu verleihen.

Die Vorbilder für diese beiden gegensätzlichen Perspektiven, die als Kombination in fast jedem Stadtfilm Verwendung finden, sind der Literatur entlehnt, in der zum ersten Mal ein der Filmkamera analoger Blick narrativ umgesetzt und thematisiert wird. In E. T. A. Hoffmanns Erzählung Des Vetters Eckfenster (1822) wird eine Vogelperspektive aus einem Oberstübchen inszeniert, in der die beiden Vettern einen erhabenen Panoramablick – aus einem Fenster und gestützt durch ein Fernglas – auf eine zunächst amorphe Masse des Berliner Marktplatzes entwickeln und mit einer Zoom-Funktion und einer gehörigen Portion malerischer Phantasie einzelne Figuren ausdifferenzieren. Die zweite paradigmatische Erzählung ist Edgar Allan Poes The Man of the Crowd (1840), in der der Protagonist zunächst von einem Straßencafé aus und geschützt durch eine rahmende Fensterscheibe die Masse auf den Straßen physiognomisch taxiert, um dann einem nicht kategorisierbaren Menschen in das Gaslicht des Londoner Straßenlabyrinths zu folgen und in die Menge einzutauchen. Der nicht zu rationalisierende und damit unheimliche Fremde kann selbstverständlich nicht identifiziert werden und wird darum als der „Mann der Menge“ und in der Übersetzung von Arno Schmidt und Hans Wollschläger als der „Massenmensch“ gedeutet. Der Philosoph Walter Benjamin hat diese beiden Möglichkeiten, Großstadtfiguren zu betrachten, gegenübergestellt und sie – vorläufig – mit der Rolle des Opernbesuchers auf der Rangloge und dem Blick des Flaneurs charakterisiert (vgl. Benjamin 1992: 46ff.). Walter Benjamin ist aber auch der Philosoph und Literatur-/Kulturwissenschaftler, der sich als erster umfassend mit einer der paradigmatischen Figuren der Großstadt auseinandergesetzt hat – dem Flaneur.

3. Der Flaneur

„Ein Rausch kommt über den, der lange ohne Ziel durch Straßen marschierte […] immer unwiderstehlicher der Magnetismus der nächsten Straßenecke […] Wie ein asketisches Tier streicht er durch unbekannte Viertel.“ (Benjamin 1998: 525)

Der Flaneur ist eine typische Figur der Großstadt des 19. Jahrhunderts und wird als solche vor allem in der Literatur inszeniert. Er wird als müßiggängerischer und ziellos durch die Stadt herumtreibender Citoyen dargestellt. Er ist jemand, der die Stadt als seine erweiterte Wohnung betrachtet. Sein Zuhause sind die Straßen, die Passagen, die Schaufenster, die Menschenmenge und die Straßencafés. Den öffentlichen Plätzen zieht er dabei die Rückseiten und Hinterhöfe, die verwinkelten Gassen und labyrinthisch verborgenen Orte der Stadt vor. Der Flaneur gerät während des Flanierens in einen wahren Straßenrausch und erfährt die alltägliche Stadt als eine ins Mythische reichende Phantasmagorie. Der Blick des Flaneurs ist dabei kein dem Spätkapitalismus angepasster funktionaler Blick, sondern ähnlich dem Blick des Kindes (oder dem surrealistischen Traumerlebnis, der „profanen Erleuchtung“) sieht und entziffert er auf allegorische Weise geheime Botschaften und Zeichen in den Straßen und an den Häusern. Er denkt eher in kombinatorischen Möglichkeiten als in der positiven Wirklichkeit. Physiognomisch lesend betätigt er sich sowohl an menschlichen Gesichtern als auch an Häuserfassaden und -architekturen. So wird ihm die ganze Stadt zum kulturell und mythisch beschrifteten Text, bis hin zur Profanität von Werbebildern und -texten. Beim Flanieren nimmt er mithin mimetisch die mannigfaltigen Identitäten der Stadt selbst an, wird dem Beobachteten gleich. Der Flaneur ist auch eng verwandt mit der Figur des exzentrischen Dandys, dem ästhetizistischen Schöngeist des Fin de siècle, wie er exemplarisch von Charles Baudelaire oder Oscar Wilde ausgelebt wird, und wird darin zu einer beliebten Gestalt des literarischen Surrealismus.

Der Flaneur des 19. Jahrhunderts, wie er in der Literatur oder den philosophischen Texten Walter Benjamins beschrieben wird, scheint im Film nur selten in Erscheinung zu treten. Aber jeder Film, der Figuren zeigt, die sich – oftmals in der Nacht – in der Stadt verlieren, um seltsame und mythische Bekanntschaften zu machen, vielleicht auch die eigene Stadt als fremde erfahren, bedient sich der Topoi des Flaneur-Komplexes. Wie aber eine philosophische Auseinandersetzung mit dem „flanierenden Denken“ erst mit der Krise der Stadt und den gebrochenen Formen des Flaneurs einsetzt, so scheint sich auch der Film mehr den modernen Metamorphosen des Flaneurs zuzuwenden, die als notwendige Reaktion einer Stadt im Verfall aufzutreten scheinen. Steven Soderberghs Kafka (US/F 91) scheint noch die Qualitäten und den Habitus des Flaneurs zu verkörpern, obgleich er diese auch nur als gebrochene Figur repräsentieren kann. Die Art und Weise, ziellos durch die Stadt zu streifen und Räume in der Stadt zu eröffnen, die plötzlich und mitunter auf ein epiphanische Weise neue Erkenntnis bringen können, kann man unter anderem auch in Vittorio De Sicas und Cesare Zavattinis Ladri di Biciclette (Fahrraddiebe, I 48) wieder finden. Das Ziel wird bei der Suche nämlich nach und nach aus den Augen verloren, um sich zunehmend den Geheimnissen der Stadt selbst zuzuwenden.

4. Die Metamorphose

„Der Mann der Menge ist kein Flaneur. In ihm hat der gelassene Habitus einem manischen Platz gemacht. Darum ist eher an ihm abzunehmen, was aus dem Flaneur werden mußte, wenn ihm die Umwelt, in die er gehört, genommen ward. Wurde sie ihm von London je gestellt, so gewiß nicht von dem, das bei Poe beschrieben ist.“
(Benjamin 1992: 123)

„Immer muss ich durch die Straßen gehen und immer spür ich, es ist einer hinter mir her. Das bin ich selber! Manchmal ist mir, als ob ich selber hinter mir herliefe! Aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen! Muss, muss den Weg gehen, den es mich jagt!“
(M – Eine Stadt sucht einen Mörder)

„Der Flaneur ist ein Preisgegebener in der Menge.“ (Benjamin 1992: 53). Inmitten einer Explosion kapitalistischer Warenästhetik in den Kaufhäusern wird der Passant unweigerlich zum Konsument. Der einfühlende Blick des Flaneurs wird überreizt. Noch hat der Flaneur keinen Schutzpanzer vor den Lockungen und Reizen der Warenwelt entwickelt. Sein Blick ist noch nicht durchrationalisiert und – wie es Georg Simmel ausdrückt – er hat keine großstädtische „Blasiertheit“ (Simmel: 232) als Schockabwehr vor der Reizüberflutung des schönen Scheins der Waren ausgebildet. Reserviertheit, Indifferenz und Coolness sind andere Begriffe für diese an Warenästhetik und beschleunigter Modernisierung trainierte großstädtische Mentalität der Distanz, die dem Flaneur fehlt. Der Flaneur ist eine Figur der Langsamkeit und des mimetisch-einfühlenden, und das heißt auch ungeschützten, Blicks.

Wie der Kulturwissenschaftler Thomas Düllo in seinem Buch Zufall und Melancholie beschreibt, ist der Mörder in Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder der letzte und versprengte Flaneur, der in einer von Warenlogik und Rationalität beherrschten Stadt mit den dargebotenen Konsumreizen nicht umzugehen vermag und sein Begehren deshalb verschiebt und umlenkt, die ihm aufgedrängte Konsumlogik auf seine Opfer projiziert. Der Trieb des Mörders wird hiernach eben nicht als Ergebnis einer pathologischen Einzelpsyche, sondern als eines von Kultur, Ökonomie und beschleunigter und modernisierter Gesellschaft überreizten Bewusstseins verstanden. Sein unerfülltes Begehren hetzt den Mörder durch die Straßen. Es jagt ihn als imaginärer Doppelgänger durch die Stadt, wie in dem Schlusswort des Mörders deutlich wird. Nur in der plötzlichen Übersprungshandlung, dem Ausleben seiner unterdrückten Wünsche, dem Töten kleiner Mädchen, findet er für kurze Zeit Ruhe. Als Schlüsselszene des Films benennt Düllo deshalb sinnfällig die Schaufenstersequenz, in der mittels Überblende die Verschiebung des Begehrens visualisiert wird – von den Waren im Schaufenster gespiegelt hin zum Focus auf das kleine Mädchen. Der Flaneur ist in M demnach eine anachronistische Figur, die nicht von den rationalen Ordnungsstrukturen der Stadt vereinnahmt wird. Und wie der Titel schon verrät, ist die Stadt der eigentliche Hauptakteur dieses Films. Der Mörder agiert als Katalysator für die beiden Mächte. Staatsmacht und Unterwelt dieser Stadt werden parallel montiert und bilden die beiden konstituierenden komplementären Gewalten der Großstadt (die deutlich als Berlin gekennzeichnet ist). Zwischen diesen Fronten bewegt sich der letzte und versprengte Flaneur, das letzte chaotische Element in einer durchorganisierten und von Warenlogik beherrschten urbanen Lebenswelt begradigter Straßenschluchten (auch in Anlehnung an die Begradigung von Paris im 19. Jahrhundert durch Haussmann). In dieser Stadt der instrumentellen Rationalität erfährt der Flaneur die entsprechende Metamorphose: Er wird zum Serienmörder, einer Figur von perverser ökonomischer Ausrichtung, die (abseits des Backwood-Killer wie beispielsweise in Texas Chainsaw Massacre (USA 74)), durch diese Straßenschluchten getrieben wird auf der ewigen Suche nach Beute und Triebabfuhr. Der Serial Killer erscheint damit als eine spätkapitalistische und moderne Personifikation und Allegorie urbaner Lebensweise.

Wenn man zu Benjamins philosophischen Ausführungen zum Flaneur seine Schrift über das Kino, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit, hinzudenkt, ergibt sich aber gerade dort, am Ort von beschleunigter Wahrnehmung (Eisensteins Montage!) und trügerischem Schein (Hollywoods Starsystem!), die Möglichkeit der lebensnotwendigen Zerstreuung und rationalen Einschätzung des Großstadtmenschen. Denn das Kino ist eine Wahrnehmungsschule der großstädtischen Blasiertheit, Indifferenz und Coolness und kann das ungefilterte Begehren des Flaneurs am Auratischen in Zerstreuung umwandeln. So kann mit Benjamin ein medial-epistemologischer Wechsel des städtischen Blicks festgehalten werden – vom mythischen und mimetischen Blick des Flaneurs hin zu einem am Film trainierten Blick der Distanz. Da innerhalb des Films aber Großstadt wiederum vornehmlich als Verfallsform existiert – als Sündenbabel, Großstadtdschungel und pathogener Raum -, erscheinen die beiden angemessenen Metamorphosen des Flaneurs in der ästhetischen Moderne der Kriminelle und sein Pendant, der Detektiv, zu sein. Der Flaneur kann somit zum Monster werden, das die Großstädte und das Geistesleben zu seinem Jagdrevier gemacht hat. Oder er verwandelt sich in den Jäger, der mit seinem flanierenden kombinatorischen Scharfblick den Spuren des Ungeheuers folgt, um es zur Strecke zu bringen.

5. Der Detektiv

Der Flaneur wandelt sich schon in den Erzählungen Poes zum Detektiv. Das physiognomische und kombinatorische Vermögen des Flaneurs sowie sein Denken in Möglichkeiten gerät bei seiner Figur Auguste Dupin zur Perfektion. Auf das viktorianische London übertragen, wird diese Figur zu Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes. Während aber dieser Typus von Consultant Detective zumeist noch Helfer und Laufburschen auf der Straße hat, hat sich mit der Detektivliteratur der 30er Jahre (Dashiell Hammett, Raymond Chandler) und dem Film Noir die Figur des Streetwise und Hardboiled Private Investigator herausgebildet – ein Wesen der Straße, ein Spurensucher, der häufig von seinen eigenen Begehren und Schuldgefühlen getrieben wird. In den urbanen Gewaltfilmen der 70er Jahre gibt es zudem noch den Polizisten und/oder Vigilanten als den Lone Wolf der Großstadt. Man könnte diesen Typus den „Großstadtcholeriker“ nennen. Paradigmatisch dafür sind Figuren, die von Clint Eastwood (Don Siegel: Dirty Harry, USA 71), Charles Bronson (Michael Winner: Death Wish, USA 74) und in einem besonders eindringlichen Fall auch von Robert de Niro (Taxi Driver) dargestellt werden. Sie bringen den (Vietnam-)Krieg in die Stadt und gehen gegen den Moloch Großstadt mit seiner unerträglichen Komplexität, Reizüberflutung und Kontingenz mit der Schusswaffe vor. Die Schusswaffe ist dabei das ultimative Werkzeug zur Bereinigung und Vereinfachung („Peacemaker“). Sie schafft überschaubare Verhältnisse. Komplexe Probleme werden wie Abfall von der Straße gefegt. Autos und Revolver sind deshalb immer noch die Prothesen des noch nicht komplett zivilisierten Western-Gunslingers, der sich damit den komplizierten Prozess der Zivilisation in der Stadt vom Halse hält.

Der cholerische Detective David Mills, die Allegorie der Todsünde des Zorns in David Finchers Großstadtfilm Seven (USA 95), ist ein später Nachfahre dieses Cowboy-Vigilanten. Sein Kollege William Somerset dagegen entstammt einer anderen Tradition – einer dezidiert zivilisiert alteuropäischen. Was zunächst etwas seltsam anmutet, scheint er als Afroamerikaner, als „Schwarzer“, doch eben keiner der beiden Traditionen anzugehören (Hier scheint allerdings ein Hinweis auf Gordon Parks’ hardboiled und coolen Detektiv Shaft. (USA 71) angebracht.), macht Sinn, wenn man beide Detektive als Kontrastfiguren versteht. Und zwar wörtlich als „schwarz und weiß“, denn das Thema von Seven ist nicht der Serienmord, sondern der Zerfall der Gutenberg-Galaxis, einer Welt, die von Schrift und einer humanistischen Bibliophilie geprägt ist – einer Welt, die auch jene des Flaneurs ist.

So ist Somerset deutlich als der Leser gekennzeichnet, während Mills der Analphabet mit der Schusswaffe ist. Sinnfällig wird dies in der Parallelmontage der Ermittlungen Mills’ und Somersets. Während Somerset zu Johann Sebastian Bachs bekanntem Air aus seiner 3. Sinfonie in einer erhaben gestalteten Bibliothekssequenz den alteuropäischen Bildungskanon abruft und hermeneutisch die Botschaften des Serial Killer entschlüsselt, brütet Mills verständnislos über den Tatortfotos, um letztlich zum Betäubungsmittel des Fernsehens überzugehen. Wenn man aber weiter die Temperamentenlehre bemühen möchte, dann ist Somerset auch deutlich ikonographisch und gestisch als Melancholiker ausgezeichnet. Er ist der humanistische „Großstadtmelancholiker“, der „Engel der Geschichte“, der Welt und Stadt nicht mehr verstehen kann. Als hermeneutischer Leser und Bibliotheksbenutzer ist er auch der Nach-Leser. Er kann den Autor und Spurenleger der mörderischen Inszenierungen immer nur mit dem einen Schritt Verspätung folgen. Denn im Serial Killer-Film lesen die Polizisten eben nur die Spuren, die der Mörder in der Stadt selbst auslegt. So gerät der Großstadtfilm Seven, in dem die Stadt genauso namenlos bleibt wie in Finchers The Game (USA 97) oder Fight Club (USA 99), zu einer Inszenierung der Aporie der Lesemöglichkeiten des Detektivs. Die postmoderne und posthumanistische Stadt in den Filmen Finchers ist ein für den Detektiv-Flaneur nicht mehr lesbarer Text.

6. Das Monster

Das Gegenstück zur Flaneursmaske des Detektivs/Jägers ist der Kriminelle oder das Monster, das er jagt. Während von der Urbanität relativ unbeleckte Ungeheuer wie Godzilla und King Kong (oder auch Tarzan) bei ihren Stadtausflügen noch ziemlich deutliche Spuren in der Großstadt hinterlassen, ist das Monster der Postmoderne, der Serial Killer, ein unsichtbares identitätsloses Wesen und häufig die Allegorie der Stadt selbst. In Seven beispielsweise erfährt der Killer einen absoluten Identitätsverlust. Er schneidet sich in der bekannten Eingangssequenz mit einer Rasierklinge die Haut der Fingerkuppen ab und wird bis zum Schluss unter „John Doe“ geführt, dem Namen, der in der US-amerikanischen Forensik für nicht identifizierte Leichen benutzt wird. Gleiches gilt für den Serial Killer in Jon Amiels Copycat (USA 95), der im Titel schon seine parasitäre Doppelgänger- oder Nicht-Identität verrät (und dabei auch sein Geschlecht wechselt). Sein Name wird zwar bekannt, aber seine Identität entwickelt er nur in der Nachahmung berühmter (und authentischer) Serial Killer, die interessanterweise selbst vornehmlich mit ihren Spitznamen benannt werden (Boston Strangler, Hillside Stranglers etc.). In Bernard Roses Candyman (USA 92) geht die detektivisch und ethnographisch arbeitende Protagonistin gar eine mythisch-mimetische Verschmelzung mit der Urban Legend des mordenden Candyman ein und wird zum Schluss damit selbst zu einem Teil des städtischen Mythos’, geht in dieser Metamorphose also völlig auf und ist damit in einer urbanen narrativen Endlosschleife gefangen.

Eine retrospektive Zwischenstufe des urbanen Serial Killer wird allerdings in Francis Ford Coppolas Bram Stoker’s Dracula (USA 92) inszeniert. In diesem Film wird noch einmal eine letzte optische Reminiszenz an die Figur des Flaneurs eröffnet. Als flanierender Dandy maskiert wandelt der verjüngte Graf Dracula durch das viktorianische London – angetan mit einem auffälligen Anzug mit Frackschößen, langen lockigen Haaren, einem Spazierstock und einer Brille mit blauen Gläsern, dem letzten Schrei aus dem Dandy-Accessoire-Kästchen des Fin de siècle. Als anachronistische Geste des höchst medienreflexiven Films werden die ersten Filmvorführungen in Draculas London versetzt, die dieser als Teil englischer bzw. westlicher Kultur genießt. Dracula, ursprünglich eine Allegorie für den exotischen und gefährlich unzivilisierten – weil nicht-urbanisierten – Osten und als Vampir das mythische Vorbild für viele Serial Killer-Inszenierungen, von denen der bekannteste wohl Thomas Harris’ synthetische Pop-Ikone Hannibal Lecter ist, überschreitet erstens mit seinem Habitus die Grenze seiner ihm zugeschriebenen Animalität und zweitens mit seinem Kinobesuch auch die Grenze von Hoch- und Popkultur und nimmt damit eine „Camp“-Haltung im Sinne Susan Sontags ein. Das zweite wird ihm auch von Mina Murray/Harker bei ihrem ersten Treffen in den Londoner Straßen prompt vorgeworfen: „If you seek culture, then visit a museum. London is filled with them.“

Als bildungsbeflissene Humanistin der Jahrhundertwende muss sie den dandyhaften Flaneur nämlich darauf hinweisen, dass Kultur doch eher in den Londoner Museen zu finden sei als auf den Straßen oder gar im Kinematographen. Also steht die Kultur alteuropäischer Langsamkeit gegen die Wahrnehmung beschleunigter Bilder auf den Straßen oder im Kino, der Welt des schönen Scheins. Langsames Flanieren oder beschleunigte Wahrnehmung im Medium Film? Welche Position aus diesem Duell als Sieger hervorgegangen ist, ist Geschichte. Was die Leserin Mina nämlich obendrein nicht weiß, ist die Tatsache dass sie nur der Maske eines dandyhaften Flaneurs gegenübersteht, hinter der 1992 schon längst ein Kinowesen steckt. So fällt sie auf den schönen Schein des Filmischen selbst hinein. Letztlich gehen also beide doch zum Kino und treffen dort auch auf den versprengten animalischen Aspekt Draculas – den einsamen Wolf, der der (künstlichen) Wildnis entkommen ist, und als wirklich letzter Flaneur ziellos durch die Straßen der Großstadt schleicht.

7. Literaturverzeichnis

  • Walter Benjamin (1992): Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. Frankfurt am Main.
  • Walter Benjamin (1996): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit. [2. Fassung] (1935/36). Frankfurt am Main. In: W.B.: Ein Lesebuch. Hg. von Michael Opitz. Frankfurt am Main: 313-347.
  • Walter Benjamin (1998): Das Passagen-Werk. Frankfurt am Main.
  • Andy Dougan (1997): Martin Scorsese. The Making of his Movies. London.
  • Thomas Düllo (1991): Zufall und Melancholie. Untersuchungen zur Kontingenzsemantik in Texten von Joseph Roth. Münster.
  • Hanns-Josef Ortheil (1986): Der lange Abschied vom Flaneur. In: Merkur 40/1: 30-42.
  • Rainer Michael Schaper (1988): Der gläserne Himmel. Die Passagen des 19. Jahrhunderts als Sujet der Literatur. Frankfurt am Main.
  • Richard Sennett (1991): Civitas. Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds. Frankfurt am Main.
  • Georg Simmel (1904): Die Großstädte und das Geistesleben. In: G.S.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Stuttgart: 227-242.
  • Dietmar Voss (1988): Die Rückseite der Flanerie. In: Klaus R. Scherpe (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Reinbek bei Hamburg: 37-60.

Arno Meteling

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