Afternoons in Utopia

Utopische Stoffe der Kunst beinhalten immer schon eine zweifache soziale Dimension: Erstens spiegeln sie gesellschaftliche Zustände der Gegenwart und überspitzen deren Missstände parabolisch zu Fiktion (Kracauers »Spiegelhypothese«). Zweitens projizieren utopische Stoffe Bilder möglicher zukünftiger Gesellschaften (bzw. ein mögliches zukünftiges Bild der gegenwärtigen Gesellschaft) und zeichnen auf diese Weise futuristische Zustände der Erlösung, häufiger jedoch des Niedergangs. Beide Aspekte offenbaren sich überdeutlich am Stadtbild utopischer Filme in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts.

Stoffe ganz unterschiedlicher Couleur gehen in eins darin, urbanes Leben der Zukunft (oder eben auch der Gegenwart) als soziale Destruktion auf mehrfacher Ebene zu prognostizieren. Dabei spielen solche Filme nicht selten auf die Archetypen realer »Megacities« an. Diese Tatsache eröffnet einen interessanten Deutungshorizont für den Film und die darin präsentierten Diskurse. Urbane Dystopien bieten einen idealen Untersuchungsgegenstand für sozialwissenschaftliche Zukunftsforscher – sie präsentieren die Stadt als Experimentierfeld der Gesellschaft.

1. Irgendwann im Nirgendwo

»Die menschlichen Angelegenheiten in dieser besser organisierten Welt werden nicht in ständiger Hatz und dichtem Gedränge erledigt werden. Es wird mehr Freizeit und Würde geben. Die Hast, das Durcheinander und die Belastungen des gegenwärtigen Lebens, als Folge unkontrollierter Mechanisierung, sollen nicht bis in die Unendlichkeit gesteigert werden. Im Gegenteil, sie müssen abgeschafft werden. Die Dingwelt, unsere Umgebung, wird Größe haben, oh ja, aber sie wird nicht monströs sein.« (H. G. Wells in Abgrenzung seines Films THINGS TO COME zu Fritz Langs METROPOLIS) (Arnold, 151)

Der Begriff »Utopie«, der auf den Staatsroman Utopia von Thomas Morus aus dem Jahre 1516 zurückgeht, stellt bekanntlich ein Wortspiel aus den griechischen Begriffen für „Nirgendwo“ und „Guter Ort“ dar. Der Utopiebegriff ist jedoch nicht nur als Kunstgenre von Bedeutung. In Philosophie und Soziologie stellen Utopien wichtige Verfahren prognostischer Gesellschaftsbeschreibung und Theoriebildung dar. Das Wörterbuch der Soziologie definiert Utopien (dort unter „Sozialutopien“) daher als: „Entwürfe von (im Vergleich zu kritisierten zeitgenöss. Zuständen) idealen Gesellschaftsordnungen. Sozialutopien sind insofern »abstrakt«, wie sie ohne direkte Beziehung zu den vorhandenen gesellschaftlichen Tendenzen und Möglichkeiten entwickelt werden. In der Regel skizzieren sie darum ihr soziales Modell als einen geschlossenen, von einer andersartigen Außenwelt nicht berührten Strukturzustand, in dem es die an der Gegenwart kritisierten sozialen Beziehungsmerkmale nicht mehr gibt (z. B. »früher« Sozialismus), in dem der »Traum von der wahren u. gerechten Lebensordnung« (Horkheimer) verwirklicht ist. […]“ (Hillmann, 816)

Utopien bilden also auch einen Sammelbegriff für gesellschaftliche Zukunftsbilder. Allerdings wird der Begriff im herkömmlichen Sinne für negative wie positive Utopien verwandt. Im Folgenden differenziere ich einen enger gefassten Utopiebegriff: den der positiven Utopie, also derjenigen, welche die Zukunft der Gesellschaft als (technologischen, …) Fortschritt in eine bessere Zeit ansieht. Literatur und Film versammeln so verstandene Utopien hauptsächlich bis 1945 – dem Jahr, in dem die atomare Zukunftsvision über Hiroshima und Nagasaki Wirklichkeit wurde (Tormin, 11 und Arnold, 150).

Danach schienen utopische Stoffe als positive fiktionale Entwürfe ausgedient zu haben und tauschten ihren Platz mit den Dystopien, dem »Dark Twin« der Utopie. Im Gegensatz zur Utopie wird in der Dystopie die Zukunft des Menschen nicht länger positiv, „sondern schwarz [ge]malt: Versklavung der Menschheit durch eine dämonische Technik und einen von ihr abhängigen Wirtschaftsapparat, Vernichtung der Freiheit und des Individuums durch einen totalitären Staat und seine Machtmittel, Bevölkerungsexplosion, Verewigung des Kriegszustandes u. ä.“ (Wilpert, 40)

Der Themenkatalog der Dystopien ist allerdings noch umfangreicher und es sind nun auch die Strukturen der Gegenwart selbst, die ihr u/dystopisches Potenzial offenbaren und nicht erst in eine ferne oder nahe Zukunft projiziert werden müssen, um zum Unheil für die Menschheit zu werden.

2. Von Metropolis nach Los Angeles

Die Stadt als Raum des konzentriert Sozialen steht für das Bild der menschlichen Gesellschaft in der Moderne. In ihr bündeln sich sämtliche Phänomene des sozialen Zusammenlebens auf engstem Raum. Dies dürfte wohl auch der Grund dafür sein, dass sich utopische und dystopische Filme häufig der Stadt als prominentem Handlungsschauplatz bedienen. Dabei stellen die Orte jedoch nicht allein das Setting dar, in dem die Spielfilmhandlung und deren Protagonisten angesiedelt sind; gerade das Phänomen Stadt wird in solchen Filmen zum handlungsgenerierenden, -tragenden und -forcierenden Element. „Nicht wenige Zukunftsfilme gestehen ihr [der Stadt] eine Eigendynamik zu, erheben sie in den Rang eines Handlungsträgers, einer Figur, wichtiger als manche der menschlichen Charaktere in ihrer Fiktion.“ (Arnold, 146)

Das Stadtbild der Zukunft stellt sich dabei auf verschiedene Weise dar: durch seine futuristische Architektur (z. B. Hochhausbauten, …) und Verkehrswesen (z. B. Luftfahrzeuge, Verkehrskollaps, …), durch die quantitative und qualitative Form menschlichen Zusammenlebens (z. B. Überbevölkerung, Vereinsamung, Verbrechen, …), durch den Ort, an dem sich die Stadt befindet (z. B. unter der Erdoberfläche, schwebend, im Weltraum, …) oder durch die politische Situation, die in der Stadt (und nicht notwendig auch im Staat) herrscht. Die Liste ließe sich verlängern.

Zwar nicht wie oft behauptet die früheste, doch zumindest die populärste Stadt-Dystopie stellt Fritz Langs METROPOLIS (D 1927) dar. In METROPOLIS finden sich bereits viele Elemente urbaner Dystopie und der Film diente sicherlich zahlreichen späteren Produktionen als »Quelle der Inspiration«.

Einer der bislang letzten populären Beiträge ist Larry und Andy Wachowskis Film DIE MATRIX (USA 1999). Die Stadt – in METROPOLIS durchaus als reales Lebensumfeld entworfen, in dem gelebt, gearbeitet und revoltiert wird – erfährt in den darauf folgenden Kinodekaden eine immer stärkere Transzendierung hin zur totalen Virtualität in DIE MATRIX, in welcher Stadt lediglich die Evokation von Zusammenleben bei den Protagonisten darstellt.

Darüber hinaus wird in der Geschichte der urbanen Dystopie noch eine zweite Wandlung deutlich. Die Filme rücken nach und nach ab von Bildern der fernen Zukunft und fiktionalen Orten in zeitlich immer nähere Reichweite und reale Städte. Besipielsweise sind METROPOLIS und F.P.1 ANTWORTET NICHT (D 1932) von Karl Hartl noch ganz ohne Hinweis auf Handlungszeit und –ort, 1984 (GB 1964) von Michael Anderson hingegen zeitlich und ON THE BEACH (US 1959) von Stanley Kramer räumlich (San Francisco) fixiert. Es finden sich zwar auch im späteren Kino raumzeitlich noch völlig unlokalisierte Filmhandlungen, diese werden jedoch tendenziell seltener – die dem SF-Film bis in die 60er Jahre oft vorangestellte (diegetische) Jahreszahl entfällt später immer häufiger. Das deutet bereits darauf hin, dass der dystopische Stadtfilm seine sozialutopische Potenz verstärkt hat: Fort von der völligen Science Fiction hin zu Orten und Zeiten nächster Nähe.

Diese Entwicklung hatte in den 90er Jahren ihren Höhepunkt erreicht, was sicherlich auch mit dem häufig erwähnten Doomsday-Thema zusammen hing, das sich kurz vor dem Ende des 2. Jahrtausends in alle Medien gedrängt hatte. Aber auch soziale und ökologische Probleme fließen nun immer häufiger in die Themen der Filme ein. Selbstverständlich nähren auch die Veröffentlichungen der „Wissenschaftler, Stadtforscher und Soziologen das Unbehagen an der Stadt” und liefern damit den theoretischen Background für fiktionale Stoffe (vgl. Tormin, 19). So bildet sich schließlich eine befruchtende Symbiose zwischen Kunst und Wissenschaft heraus.

3. »Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn«

»Schon zu Beginn, als ich mich der Sciencefiction zuwandte, war ich der Überzeugung, daß die Zukunft einen besseren Schlüssel zur Gegenwart bietet als die Vergangenheit.« (Ballard, 8)

David Cronenbergs Film CRASH stellt die 1996 erstellte Adaption des gleichnamigen Romans von J. G. Ballard aus dem Jahre 1973 dar. Ballard, einer der populärsten SF-Schriftsteller der Gegenwart, hat seinen Roman häufig als „ersten pornographischen Roman [..], der auf der Technologie basiert” (Ballard 1996, 13), bezeichnet. Doch neben der vordergründigen sexuellen Darstellung entfaltet CRASH eine äußerst kritische urbane Dystopie, die im Roman in London, im Film in Los Angeles angesiedelt ist.

Erzählt wird die Geschichte von Catherine und James Ballard, einem Ehepaar, das im Norden von Los Angeles ein gelangweiltes Leben führt. Beide leisten sich Seitensprünge, die sie sich hinterher detailliert schildern, um sich sexuell daran zu erregen. Auf James’ Frage, ob Catherine bei einem ihrer Seitensprünge im Flughangar »gekommen« sei, verneint sie. James hofft: „Vielleicht beim nächsten Mal.“ Als er am nächsten Tag einen schweren Autounfall mit der Ärztin Helen Remington (bei dem Helens Ehemann ums Leben kommt) hat, verändert sich James’ und Catherines Leben von Grund auf.
James lernt Helen und deren Freundeskreis, zu dem Vaughan – ein medizinischer Fotograf – gehört, kennen. Helen und Vaughan verbindet die Leidenschaft für Crashs – also Autounfällen. Auch James und Catherine entdecken nun bald das erotische Potenzial der Verkehrsunfälle. Alle zusammen suchen zur sexuellen Stimulation Massenkarambolagen auf. Im Verlauf des Filmes schläft jeder mit jedem (und jede mit jeder) – und am liebsten in Autos.

Als End- und Höhepunkt der Ekstase wird der Verkehrstod angesehen. So stirbt einer von Vaughans Freunden bei einem der »nachgestellten« Unfälle Prominenter (»James Dean Crash«, «Jane Mansfield Crash«, …). Zu den sexuellen Zärtlichkeiten der Protagonisten mischt sich nach und nach ein immer größeres Verlangen, den anderen »beim Verkehr« zu verletzten. So rammt Vaughan Catherine mehrere Male mit dem Auto und versucht, sie von der Fahrbahn abzudrängen. Gegen Ende kommt er selbst bei einem solchen Versuch von der Fahrbahn ab und stürzt über eine Böschung in einen Bus hinein. Den Unfall überlebt er nicht.

Catherine und James stellen als letzte Handlung des Films den »Vaughan-Crash« nach. James drängt seine Frau mit Vaughans demoliertem Wagen von der Fahrbahn ab, ihr Auto überschlägt sich und Catherine wird hinausgeschleudert. Noch am Unfallort schläft James mit seiner halb bewusstlosen Frau. Die Frage, ob sie verletzt sei, verneint sie. James erwidert: »Vielleicht beim nächsten Mal.« Und so endet der Film.

“Die Umwandlung des menschlichen Körpers durch die moderne Technologie.” So lautet die Antwort, als sich James Ballard (wohlgemerkt: Der Protagonist aus CRASH heißt genauso, wie der Autor der Romanvorlage!) bei Vaughan am Anfang des Films nach dessen »Projekt« erkundigt. Dieses Projekt – das sich im Übrigen wie ein roter Faden durch Cronenbergs Filmografie zieht – könnte der Untertitel dystopischer Technikfilme schlechthin sein. Es entschlüsselt modernistische Metaphern wie »Industrialisierung« und »Computerzeitalter«. Alle Technik (im Sinne von McLuhans »Organmetapher«) ist Ergänzung des menschlichen Körpers. Wird der Mensch oder auch die soziale Gemeinschaft von dieser Technik abhängig, ist ein Transformationsprozess eingetreten: Der Mensch bzw. die Gemeinschaft ist eine Symbiose mit der Technik eingegangen; eine Symbiose, vor der (kulturkonservative) Futurologen zu allen Zeiten warnten. Nicht gerade selten behandeln Science Fiction-Stoffe das Problem der Technik, die sich gegen den von ihr abhängigen Menschen erhebt.

In CRASH ist diese Beziehung allerdings noch anders konnotiert. Die »Umformung des Menschen« betrifft hier zusätzlich die soziale Ebene. »Sozialer Verkehr« ist zum Ende von CRASH nur noch in Verbindung mit Autos (und Autounfällen) möglich. Die Lethargie und Einsamkeit der Protagonisten wird allein durch dieses eine Moment entschärft.

Augenfällig wird die Agonie der CRASH-Gesellschaft anhand des Straßenverkehrs. So wird mehr als einmal dichter Verkehrsstau gezeigt. Entweder beobachten die Protagonisten ihn aus der Distanz (Catherine und James, die von ihrem Balkon herab auf die Autobahn starren) oder sie stecken mit dem eigenen Fahrzeug im Stau.

CRASH zeigt in keiner einzigen Einstellung ein Setting außerhalb der Megacity Los Angeles. Die Reihenfolge der Handlungsschauplätze ist ungefähr wie folgt: Flughafen, Filmstudio, Hochhauswohnung, Krankenhaus, Autorennbahn, Stadtwäldchen, Schrottplatz, abermals Flughafen, … und immer wieder Autobahn und Straße.

Los Angeles ist in CRASH ein hermetisch abgeschlossenes System, in das zwar hinein gefahren wird, das sich aber als Sackgasse und Einbahnstraße gleichermaßen erweist. Die Handlungsschauplätze sind allesamt „Kultur”. Erscheint dennoch einmal Natur – wie im Fall des Stadtwaldes, durch den die Protagonisten fliehen, nachdem ihnen das »Verkehrsministerium« wegen ihrer »Nachstellung populärer Crashs« auf den Fersen ist – so ist diese Natur ihrer »Natürlichkeit« beraubt zur reinen Funktion erstarrt: Der Wald stellt lediglich die Barriere zwischen der Öffentlichkeit, aus der James, Vaughan, Helen und die anderen in die Privatheit von Vaughans Haus fliehen, dar. Naturverbannung scheint überhaupt eine Tendenz urbaner Dystopien zu sein: „Natur, in THINGS TO COME integriert in den urbanen Lebensraum, in METROPOLIS zum Privileg für die Reichen geschrumpft, existiert in BLADE RUNNER gar nicht mehr.” (Arnold, 157)

Das sozialutopische Potenzial CRASHS findet sich vor allem in der Verbindung von Sexualität und Verkehr(sunfall). Aus der vollständigen Anonymität ihrer Stadtrandwohnung »prallen« James und Catherine mit Vaughan und seinen Freunden zusammen. Und dieses Zusammentreffen gleicht tatsächlich einem Unfall, den Fremde miteinander haben und wird konsequenterweise durch einen tatsächlichen Verkehrsunfall initiiert. Die Beteiligten bleiben jedoch anonym (so dauert es 54 Minuten, bis wir Catherines Namen erfahren!). Und dass sie im Verlauf des Filmes zu Freunden werden, darf ebenfalls in Abrede gestellt werden: Mindestens zwei Mal versucht Vaughan absichtlich, Catherine oder James in einen Autounfall zu verwickeln, bis diese ihm zuvor kommen – ein wenig freundschaftliches Kontaktverhalten. Selbst das Ehepaar Ballard versucht, sich gegen Ende von CRASH gegenseitig von der Fahrbahn abzudrängen (und damit den Unfall des nun »populär gewordenen« Vaughan nachzustellen).

CRASH sind seine »Langweiligkeit« und die »Dekadenz« seiner Figuren häufig vorgeworfen worden. Aber gerade in diesen Elementen verbirgt sich das Potenzial des Films. Das Stadtleben, das Cronenberg in CRASH beschreibt, ist langweilig und dekadent. Es ist derart »zähflüssig«, dass einzig der Thrill, den die Todesangst erzeugt, die Bewohner noch zu sozialer Interaktion befähigt.

Die Gesellschaft von CRASH spiegelt sich in ihrem Straßenverkehr: „Ich habe in Crash das Automobil nicht nur als sexuelles Sinnbild dargestellt, sondern auch als Metapher für das Leben der Menschen in der modernen Großstadt.” (Ballard, 13) Und diese Metapher besagt: Es geht kaum noch voran. Die CRASH-Stadt zeigt keinerlei soziale Klassifizierung, Schichtung oder vertikale Differenzierung. Sie ist der totale Mittelstand. Es ist unwahrscheinlich, dass Ballard 1973 mit CRASH noch ein Zukunftsbild zu zeichnen versucht hat. Die Grundlage seiner Provokation gleicht der in Wolfgang Petersens SMOG (D 1973), in welchem die Luftverschmutzung, die im Ruhrgebiet längst Tatsache war, als düstere Vision heraufbeschworen wurde. Der Zuschauer findet sich in einer Beschreibung der Gegenwart, getarnt als Dystopie, wieder. Der Charakter der »Warnung«, den vergleichbare Stoffe der 50er bis 70er Jahre noch hatten, weicht in CRASH jedoch einer »Dokumentation« des Untergangs.

4. Verkehrsinfarkt

„Stadt ist ohne Verkehr nicht denkbar. In der historischen Entwicklung waren Stadt und Verkehr immer miteinander verbunden. […] Die Modernität der heutigen Großstadt läßt sich nicht zuletzt durch den Grad ihrer ausdifferenzierten verkehrlichen Einrichtungen beschreiben.” (Nerlich, 217) Dass die Beziehungstirade Stadt-Verkehr-Moderne jedoch nicht nur positive Auswirkungen auf das Stadtleben hat, ist offensichtlich: „kaum ein anderer Bereich der Stadtentwicklung löst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert so intensive Konflikte aus wie der Verkehr.” (Nerlich, 271)

CRASH bestätigt diese Aussage. Das Los Angeles von CRASH zeigt eigentlich nur einen Bereich der Stadt: Den sub-urbanen, also die Randgebiete. »Downtown LA« spielt in CRASH keine Rolle. Das ist wohl auch als Grund dafür anzusehen, warum es in keiner Einstellung eine Afroamerikaner zu sehen gibt: Der Stadtraum von Los Angeles zerfällt „in eine farbige Kernstadt und einen hauptsächlich weißen suburbanen Gürtel.” (Roger, 85) Damit konzentriert sich der soziale Konflikt in CRASH also merklich nicht an den eigentlich »brennenden« Konflikten der Stadt (den die Rassenunruhen von 1992 offenbarten).

Interessant ist aber auch die Frage, warum CRASH, der Film eines kanadischen Regisseurs, über einen ursprünglich in London angesiedelten Plot, überhaupt in der „Fordismus-Stadt“ (Keil, 64) Los Angeles und nicht in London oder Toronto situiert ist. Die Antwort ist einfach und bezeichnend zugleich: „während heute in amerikanischen Städten zwischen einem Viertel und einem Drittel der Fläche dem Verkehr zur Verfügung steht (Autobahnen, Straßen und Parkplätze), beträgt dieser Anteil in Los Angeles, der Stadt mit dem höchsten Pro-Kopf-Aufkommen an Autos in der Welt, fünfzig Prozent! Dem Automobil, dem Götzen des fordistischen Kapitalismus, wird daher ebenso viel Platz zuteil wie allen anderen menschlichen Aktivitäten zusammengenommen.” (Roger, 79)

David Cronenberg fand in Los Angeles also die reale Entsprechung für seine urbane Verkehrsdystopie: Eine Stadt mit überdurchschnittlichem Verkehrsaufkommen, überdurchschnittlich schnellem Bevölkerungszuwachs und überdurchschnittlichem Flächenfraß (Roger, 81). Die emotionale Vergletscherung, die Cronenberg seinen Protagonisten andichtet, spiegelt ein Lebensgefühl der Dekadenz wider: Der Verlust sozialer Kontakte, die ungeheure Dichte (doch zugleich unendliche Ferne zueinander) der Einwohner von Los Angeles bietet den idealen Nährboden für ihr (im doppelten Wortsinn) auto-destruktives Verhalten.

Dass der Straßenverkehr das Soziale negativ determiniert, »zeigt« CRASH auch in dem, was nicht gezeigt wird: alte Menschen, Kinder und Tiere – die vom Straßenverkehr hauptsächlich gefährdeten und betroffenen Einwohner der Großstadt. Ein »Fußgänger« taucht lediglich im Gespräch zwischen James und Vaughan auf: Als die beiden in eine Polizeikontrolle geraten, die nach einem flüchtigen Fahrer fahndet, der einen Fußgänger überfahren hat, fragt James Vaughan, ob er etwas damit zu tun habe. Dieser verneint: Mit Fußgänger hat er nichts zu tun …

Das Problem, dass der Verkehr in CRASH heraufbeschwört, wurde schon früh geschaffen: „die Zerlegung der Stadträume in monofunktionale Bereiche, ließ sich nur durch ein leistungsfähiges Verkehrssystem realisieren. Die Charta [»Charta von Athen«, eine Vereinigung von Stadtarchitekten, wie Le Courbusier u.a. von 1933, Amn. S. H.] sah ausschließlich den Verkehrsträger Automobil als geeignetes Mittel zur Umsetzung dieser Ideen. ‘Die Hauptstädte haben keine Arterien, sondern nur Kapillaren. Wachstum bedeutet ihre Krankheit oder ihren Tod. … Wohin eilen die Automobile? Ins Zentrum! Es gibt keine befahrbare Fläche im Zentrum. Man muß sie schaffen. Man muß das Zentrum abreißen’ (Le Courbusier 1929).” (zit. n. Nerlich, 276)

In diesen Forderungen der dreißiger Jahre spiegelt sich die Hoffnung auf einen mit dem positiven sozialen Fortschritt verbundenen technischen Fortschritt wider, in dem Autos nicht – wie in CRASH – auf dem suburbanen Gürtel von Los Angeles kreisen müssen, sondern im Zentrum aufeinander treffen dürfen. Aber auch eine andere Anspielung zeigt sich bereits hier: Der Organismus »Stadt« wird als noch zu schwach für den Verkehr beschrieben. Die damit verbundene Forderung nach »Ausbau« des Organismus sollte sich schon knapp 40 Jahre später (Nerlich, 278) als der verkehrte Weg herausstellen: „So weist das Straßenverkehrsystem ähnliche organische Schäden auf wie ein kranker Mensch. Gefäßverengungen durch Ablagerungen von beförderter Materie (Cholesterin oder Kalk) können beim Menschen zu Kreislaufstörungen führen. Das Versagen des Kreislaufsystems bedeutet den Tod für den menschlichen Organismus. Analog dazu bewirken Straßenverengungen und Stauungen im Verkehrssystem durch haltende oder parkende Fahrzeuge Verkehrsstörungen. Kommt es dann aber zum Verkehrsinfarkt, kollabiert möglicherweise die Industrialisierung.” (Nerlich, 288)
Hier nun schließt sich der Kreis. Cronenberg, der seinen Protagonisten Vaughan sein Projekt als „die Umformung des menschlichen Körpers durch die moderne Technik” beschreiben lässt, deutet die Analogien zwischen Verkehrstechnik und menschlichem Körper als Dystopie voraus: den Verkehrsinfarkt. Die menschlichen Kontakte, die durch den Verkehr „buchstäblich zerschnitten” (Nerlich, 280) werden, sollen in CRASH durch denselben wieder gekittet werden. »Kontakt« findet dann allerdings nur noch auf dem Niveau des Straßenverkehrs statt: in Form von Zusammenstößen, von Crashs.

Stefan Höltgen

Literatur:

  • Arnold, Frank. Von Metropolis nach Hollywood. Die Stadt im Science-Fiction-Film – Ein Streifzug. In: Schenk, Irmbert (Hrsg.). Dschungel Großstadt. Kino und Modernisierung. Marburg 1999
  • Ballard, James G. Crash. München 1996.
  • Horwarth, A. und Schlemmer, G. Film und Stadt. In: Perchinig, B. & Steiner, W. (Hrsgg.). Kaos Stadt: Möglichkeiten und Wirklichkeiten städtischer Kultur. Wien 1991
  • Keil, Roger. Weltstadt – Stadt der Welt: Internationalisierung und lokale Politik in Los Angeles. Münster 1993
  • Korff, Rüdiger. Die Megastadt: Zivilisation oder Barbarei? In: Feldbauer, P. et al. (Hrsgg.). Megastädte: zur Rolle von Metropolen in der Weltgeschichte. Wien/Köln/Weimar 1993
  • Mitscherlich, Alexander. Thesen zur Stadt der Zukunft. Frankfurt am Main 1971
  • Nerlich, Mark R. Stadtverkehr in den neunziger Jahren. In: Friedrichs, J. (Hrsg.). Die Städte in den 90er Jahren. Demografische, ökonomische und soziale Entwicklungen. Wiesbaden 1997
  • Smuda, M. (Hrsg.). Die Großstadt als Text. München 1992
  • Tormin, Ulrich. Alptraum Großstadt. Urbane Dystopien in ausgewählten Science Fiction-Filmen. Alfeld an der Leine 1996

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