Was in Mode zu kommen scheint, sind dieser Tage Filme, die sich mit der Aufarbeitung eines bisher unbeleuchteten Kapitels aus der frühen Lebensgeschichte einer Roman- oder Filmfigur befassen. Den Auftakt dazu lieferte das horribel verstümmelte „Texas Chainsaw Massacre – The beginning“ (Kinostart 18. Januar). „Hannibal Rising“ führt die Reihe der Anfänge als ein auf Hochglanz poliertes Gründungsmythos fort, das seinerseits Volksmythen in Form von Märchen und nebenbei die Folterung von Kriegsverbrechern zeigt. Er versucht die Transformation vom Mythos zum Myzel, kommt dabei aber kaum ohne eine schlicht gestrickte Psycho-Logik aus, die dem Film alle die Haken und Kanten nimmt, an denen man sich beim „Schweigen der Lämmer“ seinerzeit noch genüsslich die ein oder andere Blessur holen konnte.
Der kleine Hannibal lebt mit seiner Familie auf einem idyllisch gelegenen Schloss an der litauischen Grenze, als sie eines Tages vom herannahenden Krieg zur Flucht gezwungen werden. Beide Eltern kommen dabei ums Leben und Hannibal gerät zusammen mit seiner kleinen Schwester Mischa in die Fänge einer desertierenden Söldnergruppe, die sich in einer Waldhütte versteckt hält. Von Hunger und Kälte getrieben, beschließen die fünf Männer das Mädchen zu töten und (vor den Augen des Jungen) zu verspeisen. Traumatisiert wird der Kleine zurückgelassen. Er wächst in einem Weisenhaus auf, von wo ihm dann im Jünglingsalter die Flucht nach Frankreich, zu seiner Tante Lady Murisaki gelingt. Diese sorgt auf allen Ebenen für die Ausbildung des jungen Mannes, der sich schließlich dem Studium der Medizin widmet und seine Rachepläne zu schmieden beginnt, seinen ersten Mord an einem Metzger begeht und nebenbei, wer hätte es gedacht, zum Kannibalen wird.
Freilich sollte man den Fond des Thomas Harris’schen Drehbuches nicht bis auf seine Substanz einkochen lassen, gibt „Hannibal Rising“ doch soviel mehr her, als die Rückführung auf eine eingedickte Jugendgeschichte. Der Anfang des Films bezieht sich im Wesentlichen auf eine kurze Traumsequenz im „Schweigen der Lämmer“. Die Herkunft dieses Traumes wird nun geklärt; es ist die Traumatische Erinnerung des Kindes Lecter, für den das Märchen von Hänsel und Gretel schlecht ausgegangen ist. Nicht die Hexe, sondern eines der Kinder landet im Ofen und die Moral von der Geschichte ist im wahrsten Sinne des Wortes ein kannibalischer Serienkiller, der jene rächt, denen Unbill widerfahren ist.
Aber nicht nur an dieses Trauma bindet sich die frühe Geschichte des Hannibal Lecter, sondern auch an die Liebe zu seiner schönen Tante, für die er seinen ersten Mord begeht, der, als Lustmord getarnt, den Auftakt für die Verfolgung der inzwischen zu Profit gekommenen Kriegsverbrecher und auch für seine eigene Verfolgung durch Inspektor Popil gibt, welcher das diabolische Potential des Jungen erkennt und ihn ebenfalls aus Gründen der Gerechtigkeit dingfest machen will. Popil teilt nämlich – soviel verrät der Film recht bald – mit Lecter und Lady Murasaki denselben traurigen Verlust, denn auch seine Familie wurde Opfer des Krieges. Und so stellt „Hannibal“ dem Publikum drei Modelle der Vergangenheitsbewältigung im Motiv der Rache, des Spirituellen und der Aufklärung vor. Wobei es ihm weniger darauf ankommt den drei Strategien denselben Raum einzuräumen, als vielmehr den Begriff der Rache am Sujet der entflohenen Kriegsverbrecher, die auch nach dem Krieg noch Verbrecher geblieben sind, hoch zu stilisieren.
Sofort ergreift man für den Anti-Helden Partei und die Hoffnung auf Gerechtigkeit wächst mit jeder Bluttat weiter, denn halbe Sachen kennt Lecters Wahn nicht und erst wenn alle Beteiligten tot sind, kann auch der Zuschauer Ruhe finden. Ein Überlebender wäre ja ohnehin nur wieder ein Aufhänger für einen weiteren Hannibal-Streifen. Vielmehr will der Film, dass aufgeräumt wird, dass erklärt wird warum und weshalb der Mensch zum Mörder wird, welche Mechanismen des Wahns sich regen, um den kühlen abgeklärten Stil zu entwickeln, mit dem Hannibal seine Opfer zur Strecke bringt und gleichzeitig wird der Mörder zum (europäisch überformten) Kulturheros, der auf anderer Ebene für Gerechtigkeit sorgt, indem er die Kriegsverbrecher ihrer gefühlten gerechten Strafe zukommen lässt und damit eigentlich nur den Versäumnissen der Jurisprudenz Abhilfe schafft.
„Hannibal Rising“ wird jedoch durch dieses Netzwerk von Erklärungen leider zu einem seichten Sammelsurium glanzgeleckter Bilder im Mainstreamformat. Für die Geschichte um Hannibal Lecter bleibt er aber weitestgehend zu zahm und es ist eigentlich erstaunlich, dass Harris, der „Rising“ von vorneherein als Film konzipiert haben muss, nicht mehr Mut mit der Auswahl seiner Sujets bewiesen hat. Gänzlich unbrauchbar ist „Hannibal Rising“ nicht, kommt jedoch über den Status einer gepflegten Sonntagabendunterhaltung leider nicht hinaus. Man kann aber davon ausgehen, dass dieser Aal und sei er noch so glatt, bestimmt gegessen werden wird – besonders die Bäckchen.
Hannibal Rising
USA/UK/Frankreich 2007
Regie: Peter Webber; Drehbuch: Thomas Harris; Kammera: Ben Davis; Cutter: Pietro Scalia.
Darsteller: Gaspard Ulliel, Gong Li, Kevin McKidd, Rhys Ifans, Dominic West.
Verleih: Tobis Film Gmbh & Co. KG
Länge 121 Minuten