Wahrheit und Schuld – um diese beiden zentralen Themen geht es in Asghar Farhadis brillantem Drama „Nader and Simin, A Separation“ („Jodaeiye Nader az Simin“). Die Wahrheit wird sich – wie in Akira Kurosawas Klassiker „Rashomon“ – als eine Frage der Perspektive erweisen. Oder anders gesagt: Als ein Puzzle, dessen einzelne Teile zusammen kein kohärentes Bild ergeben. Die Schuldfrage wiederum gestaltet sich zunehmend unentscheidbarer: In „Nader and Simin, A Separation“ gibt es nicht einfach nur gerechtfertigte oder kriminelle Handlungen, sondern auch solche, die zugleich gerechtfertigt und kriminell sein mögen. Das Justizsystem, welches über Recht und Unrecht zu entscheiden hat, offenbart angesichts solcher Veruneindeutigungen seine fundamentale Unfähigkeit, eine offene, vielschichtige Wirklichkeit nach rigide vorformulierten Paragraphen zu beurteilen.
Hinter all diesen Abstraktionen verbirgt sich ein komplexer, anfangs aber dennoch klar erscheinender Plot: Simin (Leila Hatami) trennt sich von ihrem Mann Nader (Peyman Moaadi), weil dieser aufgrund seines schwer kranken Vaters nicht mit ihr und der gemeinsamen Tochter Termeh (Sarina Farhadi) ins Exil gehen will. Nader stellt daraufhin Razieh (Sareh Bayat) als Pflegekraft für seinen Vater ein. Als er eines Tages etwas früher von der Arbeit zurück kehrt, findet Nader seinen Vater ans Bett gefesselt und halb tot auf – zudem ist in der Wohnung befindliches Geld verschwunden. An dieser Stelle wirkt es mehr als gerechtfertigt, dass Nader die junge Pflegerin des Hauses verweist und – als sie sich mehrfach zu gehen weigert – physisch etwas nachhilft (ohne jedoch brutal zu werden). Am nächsten Tag aber erleidet Razieh eine Fehlgeburt und wirft Nader vor, diese durch einen Stoß verursacht zu haben. Nader wiederum gibt an, wegen Raziehs unförmigen Tschadors nichts von deren Schwangerschaft gewusst zu haben, auch scheint der von Razieh angegebene Unfallhergang recht unwahrscheinlich.
Ab diesem Moment beginnt Regisseur Farhadi damit, nach und nach verschiedene Schrauben zu justieren und durch unterschiedliche Perspektiven unseren Blick auf das Geschehene mal zu schärfen und mal zu verunsichern. Meisterhaft ist dabei, mit wie vielen Bällen Farhadi gleichzeitig jongliert: Neben der fast banalen juristischen Schuld geht es für ihn immer auch um die moralische und die religiöse Schuld. Simin und Termeh zweifeln zunehmend an Naders Aufrichtigkeit und dieser leidet unter der möglichen Verurteilung durch seine Familie sichtlich stärker als unter der potentiellen Bestrafung durch das staatliche Rechtssystem. Zudem beginnen sich Simin und Termeh als Frauen intuitiv mit Razieh zu identifizieren – der Film selbst verweigert sich jedoch der stereotypen Dichotomie von männlichem Täter und weiblichem Opfer. Die fromme Razieh wiederum sorgt sich zusätzlich noch um das jenseitige Urteil über ihre Taten. Wenn sich schließlich die Möglichkeit eröffnet, dass Raziehs Fehlgeburt vielleicht durch ihren jähzornigen Ehemann Hodjat (Shahab Hosseini) verursacht wurde, glaubt man als Zuschauer, die höchste Stufe der narrativen Komplexität erreicht. Das stimmt allerdings nur solange bis Farhadi einen weitere Ebene hinzufügt mit der moralisch ambivalenten Option, der Fötus sei aufgrund eines Unfalls gestorben, an dem Nader zwar nicht beteiligt war, den Razieh allerdings nur hatte, weil sie für Naders Vater ihre eigene Gesundheit auf`s Spiel setzte.
Es ist ein Zeichen der Größe des Regisseurs, dass er sich selbst dann nicht übernimmt, als sein Film auch noch zu fragen beginnt, wer die ganze Kausalkette eigentlich in Gang gesetzt hat, wer für das Scheitern von Naders und Simins Ehe die Hauptverantwortung trägt und zu wem Termeh, deren jugendlicher Idealismus im Laufe des Rechtsstreits verloren geht, nach der Trennung ziehen wird. Diese letztlich unlösbare Entscheidung muss sie ebenso allein treffen wie der Zuschauer den Tathergang und damit die Schulfrage für sich selbst klären muss. Auch Nader sieht sich vor einem Dilemma, als sich ihm die Chance bietet, den Streit durch eine außergerichtliche Zahlung beizulegen. Gibt er Razieh das Geld, so kann sich seine Tochter endlich wieder vor dem unberechenbaren Hodjat sicher fühlen, zugleich wäre es jedoch ein implizites Schuldeingeständnis. Zahlt er nicht, so bleibt zwar sein Stolz unangekratzt, dafür werden aber Simin und er jeden Tag um das eigene Leben und das der gemeinsamen Tochter fürchten müssen.
„Nader and Simin, A Separation“ ist kein besonders kunstvoll oder unkonventionell inszenierter Film, aber solange die erzählerische Ebene dermaßen stark – ja, auf die Berlinale bezogen sogar bärenstark – ist, tut das der Wirkung des Werks keinen Abbruch. Dies trifft insbesondere zu, da Farhadi nicht nur einen fesselnden Plot mit intelligenten moralischen Abstraktionen verknüpft, sondern zusätzlich noch ein Zeitbild des Irans bietet. Es ist das Portrait eines in zwei Lager gespaltenen Landes. Die Welt der liberalen, religionsfernen Bildungselite (Nader und Simin) ist eine fundamental andere als die der konservativen, tief religiösen Unterschicht (Razieh und Hodjat). Während erstere das Land verlassen wollen, weil sie in der aktuellen Theokratie keine Hoffnung für die Zukunft verspüren, sieht sich Razieh gezwungen, ihren Pflegejob vor Hodjat zu verheimlichen, da er aus religiösen Gründen nie zulassen würde, dass sie ohne seine Begleitung mit einem fremden Mann in einem Haus ist. Und während Nader und Simin eine gleichberechtigte Partnerschaft führen, unterwirft sich Razieh nicht nur ihrem Mann, sondern auch per Telefon stets erreichbaren Imamen, die für sie entscheiden, ob es eine Sünde ist, als Frau einen schwer dementen Greis zu waschen, wenn dieser seinen Harndrang nicht mehr kontrollieren kann. Wie diese zwei Lebenswelten in einem Staat miteinander vereint werden sollen, kann auch Asghar Farhadi nicht beantworten – aber die philosophischen und politischen Fragen, die er in seinem Film stellt, regen unweigerlich einen Diskurs an, der zur Lösung dieses Rätsels beitragen könnte.
Nader and Simin, A Separation
(Jodaeiye Nader az Simin, IRAN 2011)
Regie: Asghar Farhadi; Drehbuch: Asghar Farhadi; Kamera: Mahmood Kalari; Schnitt: Hayedeh Safiyari; Darsteller: Peyman Moadi, Sareh Bayat, Leila Hatami, Sarina Farhadi, Shahab Hosseini;
Länge: 123 Min.
Verleih: Memento Films
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