Berlinale 2011 – Far, far from Bollywood

In „Gandu“ vom indischen Regisseur Q (bürgerlich: Kaushik Mukherjee) tauchen etwa 20 Minuten vor dem Ende bereits die Credits auf, ebenso wie Q selbst – und zwar als Q, der in diesem Film über den Jugendlichen Gandu gerade einen Film über den Jugendlichen Gandu dreht. Neben dem Leser dieser Kritik verwirrt jene Meta-Ebene auch Gandu (Anubrata) einigermaßen. Was aber auch daran liegen mag, dass Gandu, dessen Namen man als ‚Arschloch‘ oder ‚Wichser‘ übersetzen kann, gerade eine ordentliche Portion halluzinogener Drogen zu sich genommen hat. Die hypnotische Visualisierung dieses Rausches greift – wie bei der Nahtoderfahrung in Gaspar Noés „Enter the Void“ – tief in die Trickkiste experimenteller Techniken und ist sinnlich ähnlich beeindruckend wie bei Noé. Wenn der kleinkriminelle Gandu gerade nicht weiblichen Derwischen in seiner von Drogen belebten Fantasie begegnet, schaut er Pornos, masturbiert oder schmeißt in wütenden Rap-Texten mit sämtlichen ihm bekannten Schimpfwörtern um sich. Der restriktiven indischen Zensur wird das ebenso wenig gefallen wie einem einsamen, moralisch empörten Zuschauer aus Indien beim Berlinale-Screening. Für zahlreiche andere Publikumsgruppen – frustrierte Jugendliche, sozial-realistische Cineasten, Freunde des Schwarz-Weiß- und Experimentalfilms – ist „Gandu“ hingegen eine großartige Entdeckung.

Gandu, der seinen pejorativen Spitznamen offensiv für sich reklamiert und umgedeutet hat, ist ein grimmiger Slacker aus der Unterschicht von Kalkutta. Er hat keine Arbeit, keine Ziele und keine Freunde. Finanziell und sexuell ist bei ihm dauerhaft Ebbe – die Tatsache, dass er seiner Mutter (Kamalika) beim Sex mit dem schmierigen Café-Besitzer Dasbabu (Shilajit) zuhören und -sehen muss, verstärkt seinen Frust nur noch. Gandu revanchiert sich, indem er Dasbabu während dieser traumatisierenden Variationen der Freud’schen Ur-Szene heimlich bestiehlt. Seine aufgestaute Wut entlädt sich in explizit dargestellter Onanie zu ebenso expliziten Pornofilmen und vor allem in aggressiven Rap- und Punk-Songs. Kein anderes Medium kann jugendlichen Triebstau und in körperlichen Abreaktionen kanalisierte Rage besser fühlbar machen als Musik. Und so sind es gerade die hingespuckten Lyrics des Protagonisten, die den Zuschauer atmosphärisch in die Welt von Gandu transportieren. Zugleich belebt die Musik den Rhythmus des Films ungemein und unterstützt den äußerst dynamischen Schnitt dieses wunderbar dreckigen Films aus dem und über den Untergrund.

Vor den Drogen-Trips, die Gandu mit seinem einzigen Kumpel – dem von Bruce Lee besessenen Outcast und nach seinem Beruf benannten Rikscha-Fahrer Rickshaw (Joyraj) – durchlebt, siedelt Qs Film nahe am Sozialrealismus, wenn auch mit heftig stilisierten Auswüchsen und transgressiven Einbrüchen des ‚Extreme Cinema‘. Als aber der Rausch und mit ihm die Star-Fantasien von Gandu Besitz ergreifen, geht das Werk endgültig in den Modus des Experimentalfilms über und priorisiert die Form gegenüber dem Inhalt des ohnehin mageren, weil eben nebensächlichen Plots. Sind die ersten 70 Minuten in herrlich kontrastreichem Schwarz-Weiß gefilmt, so wechselt Q in einer wunderbaren (und enorm erotischen) Verführungsszene zu farbigen Bildern. Die schrille Ausstattung – pinke Perücke und futuristische Sonnenbrille – der Gandu von seiner Jungfräulichkeit erlösenden Prostituierten (Rii) verstärkt diesen stilistischen Richtungswechsel noch in seiner Wirkung.

Die von Q geführte, extrem mobile Digital-Handkamera nimmt es während des gesamten Films mit dem kinetischen Energiebündel Gandu auf und rast heftig wackelnd durch die Straßen Kalkuttas und die Einbildungen der Hauptfigur. Die enorme stilistische Spielfreude Qs zeigt sich im Gebrauch von Split-Screens, rückwärts abgespielten Szenen, sich überlagernden Bilder oder dem Einfügen einzelner und damit nur subliminal wahrnehmbarer Frames. Dokumentarische Interview-Szenen fügt er ebenso selbstverständlich in den Film ein wie mit der Bildebene verwobene, ja mit ihr spielende Unter-/Über-/Zwischentitel, die fester visueller Bestandteil des Films und nicht etwa Resultat einer vom Verleih erstellten Übersetzung sind. Die Tonspur ist neben den Dialogen und der Musik auch von einem experimentellen Soundteppich unerkennbarer, aber stimmungsvoller Klänge erfüllt. In Indien wird dank der staatlichen Zensur kaum jemand all dies zu Gesicht und Gehör bekommen – außerhalb der weltweit produktivsten Filmnation könnte das Unikat „Gandu“ jedoch das von Bollywood dominierte Image des indischen Kinos etwas korrigieren. Im Schatten der ebenso zahlreichen wie kitschigen Mega-Produktionen harren zweifellos weitere Schätze mit einer ähnlich ungebändigten, wilden Kreativität ihrer Entdeckung.

Gandu
(IND 2010)
Regie: Kaushik Mukherjee (Q); Drehbuch: Kaushik Mukherjee (Q), Surojit Sen; Kamera: Kaushik Mukherjee (Q); Schnitt: Manas Mittal; Musik: Five Little Indians; Darsteller: Anubrata, Joyraj, Kamalika, Shilajit, Rii;
Länge: 85 Min.
Verleih:

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.