Berlinale 2011 – Disconnected

Die Eltern des etwa 17-jährigen Emo-Jungen Dominik (Jakub Gierszal) sind erfolgreich, wohlhabend und attraktiv. Nur eines sind sie nicht: gute Eltern. Ihr rasanter beruflicher Aufstieg geschieht auf Kosten einer immer schwächer werdenden Verbindung zu ihrem Sohn. Dass er die Schule schwänzt, weil er dort wegen seiner homosexuellen Neigungen gemobbt wird, bemerken sie ebenso wenig wie, dass die Online-Community ‚Suicide Room‘ für ihn zum Familienersatz wird. Als Dominik sich tagelang in seinem Zimmer einschließt, reißt der Vater das DSL-Kabel aus der Wand und kappt damit auch die emotionale Verbindung komplett. Dominik kann sein Internet-Forum nicht mehr betreten und droht in seiner Verzweiflung sein Zimmer zum ‚Suicide Room‘ zu machen. Aus dem geltungssüchtigen Spiel der mit ihren vermeintlichen Selbstmordabsichten kokettierenden User wird bitterer Ernst, als Dominik tatsächlich den finalen Logout versucht.

Jan Komasa gelingt mit seinem Cyber-Thriller „Suicide Room“ eine seltene Mischung aus hip durchdesignter Jugend-Unterhaltung und einer ernsthaften Untersuchung gesellschaftlicher Probleme. Dabei geht er einerseits auf den Leistungsdruck des Berufslebens ein, der zu familiärer Vernachlässigung führt, und beleuchtet andererseits die allgemeine Entfremdung zwischen Virtual Natives und deren Elterngeneration, die sich in eine von Facebook und Youtube bestimmte Welt nicht hinein versetzen können und deren realweltliche Auswirkungen unterschätzen.

Kam der Tod vor einem Jahrzehnt noch aus dem Fernseher („Ring“), so haben sich die kollektiven Ängste nun scheinbar auf das Internet verlagert. Neben Jan Komasa befassten sich kürzlich auch Hideo Nakata („Chatroom“) und Shunji Iwai („Vampire“) mit Chats und Foren, die ihre User zum Selbstmord verleiten. Schließlich sind es ausgerechnet jene technischen Innovationen, die uns einander näher bringen sollen, gleichzeitig aber auch zu Vereinsamung und Isolation führen. In „Suicide Room“ zerstören die Social Networks, die auch real schon so manche Beziehung zu beenden geholfen haben, Dominiks Image so sehr, dass er sich der Realität nicht mehr stellen zu stellen wagt und immer tiefer in die Virtualität flüchtet. Die emotionale Unterstützung, die ihm seine Online-Community bietet, führt zudem zu einer Verweigerungshaltung gegenüber professioneller medizinischer Hilfe. Diese virtuelle Welt wird in „Suicide Room“ durch lange Passagen Gameplay-artiger Animationen dargestellt. Webcam-Aufnahmen von Video-Chats, in den Film eingebettete Video Player und Facebook-Screenshots komplettieren den extrem dynamisch gestyleten Look des Films (der freilich in fünf Jahren völlig veraltet wirken wird).

„Suicide Room“ stolpert zwar über einige logische Löcher und überdramatisierte Szenen, weiß aber insgesamt sowohl stilistisch als auch narrativ zu überzeugen. Insbesondere die Mitschuld der überforderten Eltern (Agata Kulesza, Krzysztof Pieczyński) wird von Komasa klug analysiert. Aufgrund ihrer im Job erworbenen Selbstüberschätzung sind sie weder bereit, sich von anderen helfen zu lassen, noch eigene Fehler einzugestehen. Für sie zählt nicht die seelische Ergründung von Dominiks Verhalten, die letztlich eine Korrektur ihres Lebensstils fordern würde, sondern nur die schnelle medikamentöse Bekämpfung der Symptome. Die Heilung scheint für sie auch kein Selbstzweck zu sein, sondern ein Mittel, um Dominiks schulische Leistungsfähigkeit wieder herzustellen und ihn ebenfalls auf einen steilen Karriereweg schicken zu können. Alle Eltern machen unvermeidlicherweise Fehler – doch manchmal gibt es keine zweite Chance, um daraus zu lernen.

Suicide Room
(Sala samobójców, POL 2011)
Regie: Jan Komasa; Drehbuch: Jan Komasa; Kamera: Radosław Ładczuk; Schnitt: Bartosz Pietras; Musik: Michał Jacaszek; Darsteller: Jakub Gierszał, Agata Kulesza, Krzysztof Pieczyński, Roma Gąsiorowska, Bartosz Gelner;
Länge: 110 Min.
Verleih: LevelK

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