Kurzrezensionen Januar 2006

  • Wolfgang Beilenhof (Hg.): Poetika Kino. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.
  • Nicolas Pethes: Spektakuläre Experimente. Weimar: vdg-Verlag 2004.
  • Yvonne Spielmann: Video. Das reflexive Medium. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005.
  • Werner Faulstich: Filmgeschichte. Paderborn: Fink 2005 (UTB).
  • Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hgg.): Was stimmt denn jetzt? München: etk 2005.
  • Patrick Rössler/Friedrich Krotz (Hgg.): Mythen der Mediengesellschaft. Konstanz: UVK 2005.
  • Jörg Metelmann: Porno Pop. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005.
  • Martin Andree: Archäologie der Medienwirkungen. München: Fink 2005.

Der zweite Versuch

Bereits 1966 hatte der Suhrkamp-Verlag versucht, mit Viktor Schklowskijs „Schriften zum Film“ den russischen Formalismus als Filmtheorie „nach Deutschland zu holen“. Die sich damals entwickelnde Diskussion fand allerdings auf dem Boden der Sprach- und Literaturwissenschaft statt. Mit „Poetika Kino“, einer weitaus umfassenderen Sammlung an Texten nicht nur von Sklowskij, sondern auch etlichen anderen Autoren des russischen Formalismus, liegt nun der zweite Versuch vor, einen Band anzubieten „der gleichzeitig als Filmhandbuch des russischen Formalismus gedacht“ (9) ist. In fünf Abteilungen („Poetik des Films“, „Vorstudien und Ergänzungen“, „Die Filmfabrik“, „Phänomen Chaplin“ und „Das formalistische Erbe“) bietet das etwa 460 seiten starke Werk Aufsätze, Kritiken, Diskussionsbeiträge, Kontroversen und Texte der Wirkungsgeschichte des russischen Formalismus. Die Sammlung ist vor allem auf Grund ihrer Komplexität bestens geeignet sowohl einen Zugang als auch vertiefenden Einblick in die Theoriegeschichte dieser Schule zu bieten.

Werner Beilenhof (Hg.): Poetika Kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005 (stw 1733), 464 Seiten (Paperback), 16,00 Euro. Dieses Buch bei Amazon kaufen.

Mind Control Spätestens seit Oliver Hirschbiegels Film „Das Experiment“ (D 2001), der unter Mitwirkung des Psychologen Philip G. Zimbardo entstand, sind berüchtigte sozialpsychologische Experimente – wie eben das dort nachgestellte „Stanford Prison Experiment„, das Zimbardo 1971 durchführte – auch dem breiteren (deutschen) Publikum bekannt. Nicolas Pethes, der sich zu Forschungszwecken zwei Jahre in Stanford bei Zimbardo aufgehalten hat, aspektiert in seinem Buch „Spektakuläre Experimente“ diesen und weitere sozialpsychologische Versuche. Ihn interessiert dabei vor allem deren medialer Bezug: Inwiefern lassen sich Medien für solche Experimente nutzen oder wurden sogar genuttzt? Angefangen bei frühen Versuchen, mittels des Kinos die Wahrnehmung von Wirklichkeit zu beeinflussen, den Film sogar als Medium der Hypnose zu nutzen, bis hin zu der Frage, ob denn nicht auch Reality-TV-Shows wie „Big Brother“ genuin sozialpsychologischen Charakter haben. Auf 160 Seiten zeichnet Pethes eine kurze Geschichte der Verbindung von Medien und Psychologie nach, stellt neben dem bereits erwähnten Experiment auch das in den frühen 1960er Jahren an der Yale-University durchgeführte Milgram-Experiment vor und schließt seine Untersuchung mit einem Interview mit Zimbardo ab. Pethes‘ Untersuchung ist dabei vor allem für eine kulturwissenschaftliche Vernetzung von Psychologie (vor allem der Behaviorismus-Theorie) und Medienwissenschaften interessant.

Nicolas Pethes: Spektakuläre Experimente. Allianzen zwischen Massenmedien und Sozialpsychologie im 20. Jahrhundert. Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2004 (medien/i 17). 159 Seiten (Paperback), 19,50 Euro. Dieses Buch bei Amazon kaufen.

Videologie Zumindest als Medium der Aufzeichnung und Speicherung von audiovisuellen Informationen ist Video gerade dabei im Begriff vergessen oder zumindest marginalisiert zu werden. Seitdem die Möglichkeit besteht (und immer günstiger realisierbar wird), solche Daten zu digitalisieren und vermeintlich ohne Informationsverlust zu archivieren, ist die Magnetband-Aufnahme auf dem Rückzug. Die Braunschweiger Medienwissenschaftlerin Yvonne Spielmann untersucht das Medium in einer Monografie und stellt heraus, dass Video keineswegs lediglich eine Zwischenstufe bis zur Erfindung der Digitalisierung gewesen ist. Vielmehr haben die Technik und ie besonderen Einsatz- und Verfremdungsmöglichkeiten Künstler schon immer dazu eingeladen, mit Video eine ganz besondere, eigenständige Kunstform zu entwickeln. Nach einer akribischen technohistorischen Einführung untersucht sie drei Hauptströmungen der Videonutzung (Dokumentation, Experimentalkunst, Visualisierung technischer Prozesse), um diese Einsatzarten zu differenzieren. Im Hauptteil ihres Buches widmet sie sich dann der Geschichte der Videokunst von den Anfängen in den 1960er Jahren bis in die Gegenwart und stellt dabei wesentliche Arbeiten und Künstler vor. Der Band schließt mit einem umfangreichen (75 Seiten umfassenden) Bildteil ab, bei dem Screenshots der im Hauptteil behandelten Kunstwerke vorgestellt werden. Spielmanns „Video“ ist die erste eigentständige historische und pänomenologische Veröffentlichung zum Thema auf dem deutschen Buchmarkt und setzt nicht nur damit Maßstäbe. Ihr Buch stellt ein komplexes Kompendium über das Medium Video dar.

Yvonne Spielmann: Video. Das reflexive Medium. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005 (stw 1739). 478 Seiten (Paperback), 16,00 Euro. Dieses Buch bei Amazon kaufen.

»Beim Spielfilm handelt es sich um einen kollektiven Traum« Filmgeschichten gibt es wahrlich nicht zu wenige. Eine neue Geschichte des Films zu schreiben, bedarf daher schon einer speziellen Perspektive. Werner Faulstichs Versuch „Filmgeschichte“ fehlt diese spezielle Perspektive. Vornehmlich das didaktische Konzept, in der Reihe „UTB Basics“ eine Filmgeschichte für Studenten zu schreiben, mag ihn bewogen haben, seine knappt 350-seitige Monografie den bisherigen Werken zum Thema zuzugesellen. In der Einleitung offenbart sich bereits das Problematische des Projektes: Faulstich will eine Geschichte des Films anbieten, die sich auf die „wichtigen“ Werke beruft, wozu er vor allem Filme, die in Deutschland zu sehen sind/waren, rechnet. Das weitläufigere internationale Kino („China, Australien, Korea, afrikanische Länder“) lässt er mit einer äußerst fragwürdigen Begründung außen vor: „weil solche ausländischen Filme hierzulande nur sehr selten gezeigt werden und ansonsten auch nicht verfügbar sind – also bei dne allermeisten Menschen, auch den Filminteressierten.“ (9) Dass Ab- und Eingrenzung bei einem solchen Projekt notwendig ist, ist selbstverständlich – nur sollte man dafür richtigere Gründe finden, als der Lüneburger Medienforscher sie anbietet. In acht Kapiteln, die seiner Neu-Zäsurierung der Filmgeschichte folgen, stellt Faulstich dann seine Geschichte vor. Jedes Kapitel wird ergänzt durch Merksätze, Bibliografien, Zusammenfassungen und Übungsfragen, wie: „Worum geht es in ‚Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt‘?“ (S. 231) Dass – beispielsweise – diese Frage keineswegs so naiv ist, wie sie auf den ersten Blick scheint, wird klar, wenn man im Kapitel dazu zum wiederholten Male Faulstichs Ausführungen über „die eigentliche Bedeutung“ (S. 229) des im Film Gezeigten lesen muss. Seine Filmgeschichte ist also nicht nur höchst apart eingegrenzt, sondern der ästhetische Zugang zu den Einzelwerken ist – gelinde gesagt – methodisch fragwürdig. Damit ist das Buch entgegen der Projektierung keineswegs als „Filmgeschichte zum Selbststudium“ (S. 11) zu empfehlen.

Werner Faulstich: Filmgeschichte. Paderborn: W. Fink 2005 (UTB Basics), 348 Seiten (Paperback), 16,90 Euro. Dieses Buch bei Amazon kaufen.

Über Wahrheit und Lüge im medialen Sinne Die Theorie des „unzuverlässigen Erzählens“ entstand in den frühen 1960er Jahre in der anglo-amerikanischen Literaturwissenschaft. Unter anderem vom Giessener Anglisten Ansgar Nünning wurde die Debatte in den deutschen Sprachraum eingeführt. Gerade mit Erstarken medienkonstruktivistischer Theoriemodelle stellt sich das Konzept des „unzuverlässigen Erzählens“ als eine sehr fruchtbare Möglichkeit heraus, die Verbindung von Narration und Rezeption zu untersuchen. Wenn Alfred Hitchcock 1950 in „Sagefright“ eine „lügende Rückblende“ einfügt, mit der er seine Zuschauer in die Irre führt und im selben Jahr Akira Kurosawa in „Rashomon“ ein und das selbe Verbrechen aus ganz verschiendenen Perspektiven und mit ganz unterschiedlichen Tathergängen präsentiert, so sind dies beides Verfahren der Unzuverlässigkeit, die zeigen, dass Medien ihre eigenen Mechanismen der Wahrheitserzeugung besitzen, die vor allem auf Konventionen beruhen. Im Mai 2003 fand an der Universität Mainz eine Tagung zum „unzuverlässigen Erzählen in Literatur und Film“ statt, deren Beiträge nun in einem Sammelband der edition text + kritik erschienen sind. In 22 Texten, unterteilt in vier Sektionen, werden anhand von Einzelwerken der Film- und Literaturgeschichte sowie in methodologischen Texten Ästhetiken, Strategien und poetologische Reflexionen des „unzuverlässigen Erzählens“ untersucht. Der Band bildet damit eine hochinteressante rgänzung der Debatte, die hilfreiche Ansätze zum Verständnis des Umgangs der Erzählmedien mit der Wahrheit anbieten.

Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hgg.): Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München: edition text + kritik 2005. 364 Seiten (Paperback), 29,50 Euro. Dieses Buch bei Amazon kaufen.

PornoPop Der subversive Charakter der Pornografie hat sich in letzter Zeit nicht nur in den Unkenrufen, selbst islamistische Staaten stünden vor dem Kollaps angesichts ihrer nach Porno im Netz lechzenden Bevölkerung gezeigt. Nein, seit Ende das 20. Jahrhunderts pornografisiert sich die Populärkultur auch in Westen immer stärker. Jörg Metelmann zählt in der Einleitung seines Sammelbandes „Porno Pop“ etliche Beispiele aus vielen Kultur-Bereichen auf, die davon betroffen waren/sind und die zeigen, dass die Pornografie zum Alltagsgegenstand des Pop geworden ist. Er stellt sich – bzw. den Beiträgern seines Bandes – die Frage: „Werden im Wandern des Aktes und seiner angedeuteten Dauerdarstellung auf den medialen Oberflächen nicht nur die akzeptierten Sexcodes, sondern vor allem die Grenzen zwischen Populär- als Massenkultur, Pop/Theorie und ‚bürgerlicher‘ Öffentlichkeit diffus?“ (11) In vier Kapiteln nähern sich die 15 Beiträger des Bandes einer Antwort auf diese Frage. Dass mit der Pornografisierung nicht allein die sexuelle Explikation der Darstellung gemeint ist, zeigt die zweite Abteilung, die sich mit Krieg und Gewalt – ihrer Verquickung mit der Sexualität und ihrer Pornografisierung – beschäftigt. Der Anhang des Bandes enthält eine Diskussion zwischen dem Herausgeber und fünf seiner Autoren, die die zentralen Thesen des Bandes noch einmal auf den Punkt bringt.

Jörg Metelmann (Hg.): Porno Pop. Sex in der Oberflächenwelt. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005. 208 Seiten (Paperback), 16,80 Euro. Dieses Buch bei Amazon kaufen.

Mythen der Mediengesellschaft „Was wir über unsere Gesellschaft, ja, über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“, beginnt Niklas Luhmann 1995 sein Buch „Die Realität der Massenmedien“. Medien tragen aber nicht nur zum Verständnis, sondern auch zur Verschleierung des Wissens über die Welt bei und die „Mythen“ werden nicht nur in ihnen produziert, sondern ranken sich ebenso um sie. Dieser – alltägliche – Mythos-Begriff ist einer der im UVK-Sammelband „Mythen der Mediengesellschaft“ untersuchten Phänome; der andere bezieht sich auf die akademische Mythenforschung, wie sie ihren Ausgang im Strukturalismus (Levi-Strauss, C. G. Jung) nahm: Der Mythos als das Andere der Vernunft, als gesellschaftskonstruierendes und -stützendes Narrativ. In 21 Beiträgen widmen sich die Autoren des Bandes diesen beiden Medien-Mythen-Konzepten. Die deutschsprachigen Texte gehen dabei auf eine im Jahre 2004 in Erfurt abgehaltene Jahrestagung der „Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft“ (DGPuK) zurück, die englischen ergänzen das Thema des Bandes um spezielle Perspektiven auf einzelne Medien-Mythen (wie etwa der Frage nach der Mediengewalt, ihren Ursprüngen und Wirkungen). Allen Texten ist gemein, dass sie von einem Medienwandel und einem Wandel der kulturellen Kommunikation ausgehen, der für den Einzelnen und die Gesellschaft von grundlegender Bedeutung ist. Unter den drei Kategorien „Medienwandel, Mediengesellschaft und Mediatisierung“, „Mythen über Medien und ihr Wandel“ und „Mediatisierung, Mythen und politische Kommunikation“ werden einzelne Mythen und Mytheme sowie deren Bedeutung diskutiert. Der recht umfangreiche Band bietet damit eine gute Übersicht über die sozialwissenschaftlich ausgeprägte Medienkulturwissenschaft.

Patrick Rössler/Friedrich Krotz (Hgg.): Mythen der Mediengesellschaft. The Media Society and its Myths. Konstanz: UVK 2005 (Schriften der DGPuK, Bd. 32). 433 Seiten (Paperback), 34,00 Euro. Dieses Buch bei Amazon kaufen.

Und es wirkt doch Bei der „zyklischen Entrüstung“ über die Medien – wie dies H.-D. Fischer, J. Niemann und O. Stodiek vor genau 10 Jahren bei einem Blick auf die Geschichte der Mediengewaltdiskurse nannten – wird nur allzu schnell vergessen, dass die Konzepte, unter denen in der Öffentlichkeit Medienwirkungen beschrieben werden, teilweise aus noch dem antiken Griechenland stammen. Martin Andree referiert in seiner richtungsweisenden Studie über die „Archöologie der Medienwirkung deshalb folgerichtig auch auf Platon und Aristoteles als „Prototypen der Simulationstheoretiker“ – wiederholt sich doch deren mimetisches Wirkungskonzept besonders häufig und will Glauben machen, die Wirklichkeit sei nur ein medialer Reflex. Doch dies allein steht nicht im Zentrum des sechshundert-seitigen Bandes. Vielmehr ist es die Frage, warum Medien wirken und warum wir glauben (oder eben nicht glauben), dass sie das tun. Mit welchen Techniken, Ästhetiken, Blendungen und Adressierungen uns unbewusster Wirklichkeitsauffassungen erreichen Medien ihr Ziel oder zumindest den Eindruck, dass sie jenseits ihrer selbst Wirkungen haben? Andree bezieht seine Argumente vor allem aus der Philosophie- und Literaturgesichte, zieht spektakuläre Fälle von Medienwirkungen (wie etwa den von Goethes Werther) heran und macht erst bei der Playstation und „Big Brother“ halt, an denen er die Reize der Virtualität und Authentizität skizziert. Da jeder Frage von zensorischem Eingriff in die Diskurse der Medien notwendig die Verständigung über die Wirkungen vorausgehen sollte, die – darin lässt sich Adree vorbehaltlos folgen – historisch entwickelt sind, wäre eine Aufarbeitung, eine Archäologie zuallererst zu leisten. Der umfangreiche Band aus dem Fink-Verlag liefert diese und zeigt darin die Komplexität der oftmals so einfach anmutenden Rechnung.

Martin Andree: Archäologie der Medienwirkungen. Faszinationstypen von der Antike bis heute. München: Fink 2005, 598 Seiten (Paperback), 60,00 Euro. Dieses Buch bei Amazon bestellen.

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