Kurzrezensionen Februar 2010

TV-Debatten

Das Fernsehen ist ideen- und technikgeschichtlich gesehen älter als das Kino. Sieht man von den „Live-Übertragungen“ der Laterna Magica einmal ab, so hat sich schon kurz nach Erfindung der Telegrafie die Überlegung entwickelt, nicht nur Sprache, sondern auch Bilder zu übertragen. Über diesen Umstand ist in der ausländischen wie deutschsprachigen Fernsehwissenschaft viel publiziert worden und es existieren zahlreiche Bände mit mittlerweile kanonischen Schriften zur Fernsehtechnikgeschichte. Dass sich neben dieser materiellen Forschung auch eine inhaltliche entwickelt hat, zeigt der Reclam-Band „Texte zur Theorie und Geschichte des Fernsehens“ jetzt anhand von 25 Beiträgen, die zwischen 1910 (!) und 1997 erschienen sind. Besonders interessant ist die ästhetisch-ideologischen Debatte in den 1950er und 1970er Jahren in Deutschland verlaufen, deren Protagonisten von Adorno (1953) bis Enzensberger (1970) das Medium mal als kulturelle Katastrophe, mal als Chance zeichnen. Die teilweise irrationale und erhitzte Debatte fand natürlich ebenso im Ausland statt, wie die Beiträge von Neil Postman (1985) oder Pierre Bourdieu (1996) zeigen. Man lernt im Durchgang durch die Geschichte der Fernsehtheorie also nicht nur viel über das Medium und seine Ästhetiken, sondern auch über die Ängste davor und dessen kulturellen Impetus. Metahistorische Beiträge, die diese ideologisch-ästhetischen Debatten wieder an die Technikgeschichte des Mediums zurück binden, wie sie etwa durch den Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen geführt wurden, vermisst man allerdings. Hagen hat seinen Auftritt im Band lediglich als Interviewpartner mit Niklas Luhmann (1997).

Michael Grisko (Hg.): Texte zur Theorie und Geschichte des Fernsehens. Stuttgart: Reclam 2009. 343 Seiten (Paperback), 9,80 Euro. Bei Amazon kaufen.

(SH)

Stadtrundgang

Die Amerikanistin Laura Bieger untersucht in ihrer Arbeit drei urbane Räume als Erlebnisräume: die Glücksspielstadt Las Vegas, die 1893 anlässlich der Columbia Exposition für kurze Zeit erbaute ‚White City’ und Washington D.C., die Hauptstadt der Vereinigen Staaten. Diese urbanen Räume sind – so Bieger – dadurch charakterisiert, dass sie nicht einfach als Konglomerate gewachsen sind, sondern – mit einem spezifischen Interesse – konstruiert wurden; es handelt sich um „wirkungsvolle Bild-Räume“, die jeweils einer bestimmten „Bildpolitik“ verpflichtet sind. In ihrem theoretischen Zugriff auf die von ihr untersuchten Bild-Räume kombiniert Bieger rezeptionsästhetische und phänomenologische Ansätze und greift überdies auf den von Michel Foucault geprägten Begriff der Heterotopie zurück. Aber schon in ihrer Anlage blendet die Arbeit die Aspekte aus, die für die Untersuchung von Heterotopien die eigentlich interessanten wären. Heterotopien zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass in ihnen die in einer Gesellschaft virulenten Diskurse aufgegriffen – mit den Worten Foucaults: „gespiegelt“ – werden, sondern auch dadurch, dass sie diese Diskurse auch in Frage stellen oder sogar subvertieren. Dieses subversive Potential der Heterotopien lässt sich aber nur im Wechselspiel mit dem sie umgebenden Sozialraum thematisieren, und genau dieses Wechselspiel blendet Bieger bewusst aus. Insofern ist das Buch Biegers eine interessante rezeptionsästhetische und phänomenologische Studie der Immersionsästhetiken von Las Vegas, vor allem überzeugend in den Detailbeobachtungen, eine Untersuchung heterotopischer Räume im eigentlichen Sinne ist es nicht.

Laura Bieger: Ästhetik der Immersion. Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City. Bielefeld: transcript 2007. 263 Seiten (Paperback), 26,80 Euro. Bei Amazon kaufen.

(PB)

Raumwissenschaften

In den vergangenen Jahren hat sich Stephan Günzel um die Debatte zur kulturwissenschaftlichen Raumtheorie in Deutschland durch zahlreiche Publikationen verdient gemacht. 2006 war von ihm und Jörg Dünne ein umfangreicher Sammelband im Suhrkamp-Verlag erschienen, der klassische Texte zum Thema in gesammelter und kommentierter Form neu versammelt hat. Seine jüngste Herausgeberschaft mit dem Titel „Raumwissenschaften“ ist jetzt ebenfalls im Suhrkamp-Verlag herausgekommen und erweckt den Eindruck eines Abschlussbandes zum Thema. Darin lässt Günzel 25 Natur-, Kultur- und Strukturwissenschaftler zu Wort kommen, die die Raumdebatte aus ihrer je eigene Disziplin und Perspektive vorstellen. Der Aufbau der einzelnen Texte ist dabei immer derselbe: Zunächst wird der jeweils spezifische Blick auf das Thema Raum aus der betreffenden Wissenschaft vorgestellt, dann wird die bis dahin geführte Debatte historisch aufbereitet um zum Schluss offene Fragen zu benennen und Perspektiven zu skizzieren. Die Zugänge sind dabei so unterschiedlich, wie es die Kulturwissenschaften im besten Sinne verstanden verlangen: neben Texten zur Architektur finden sich Erörterungen von Raum in Mathematik und Physik, in den Literatur- und Medienwissenschaften, in der Biologie, Geographie usw. Die Disparatheit der jeweiligen Zugänge geht dabei soweit, dass auch divergierende Auffasungen nebeneinander stehen. So negiert (193) etwa unter der Rubrik „Kulturwissenschaft“ Hartmut Böhme, dass ein spatial turn zu einer fruchtbaren Diskussion führen könnte (natürlich nicht ohne diejenige, die diesen Begriff eingefordert hat und die Möglichkeit einer Kulturwissenschaft im Singular abgestritten hat, Doris Bachmann-Medick, direkt damit anzusprechen), während Jan C. Schmidt, der die Physik als die paradigmatische Raumwissenschaft vorstellt, Naturwissenschaft ohne den spatial turn für undurchführbar hält (304). Der Laufbildforscher Karl Sierek stellt die Raumdebatte in der Filmwissenschaft vor und geht dabei konzise historich und systematisch auf die unterschiedlichen Konzepte ein, ohne jedoch aktuelle Ästhetikden des Raums, wie sie sich jüngst im 3D-Kino zeigen, zu berücksichtigen. Überhaupt fehlt dem Band ein übergeordneter medienwissenschaftlicher Beitrag, in dem etwa auch das Phänomen Videospiele angesprochen würde. Herausgeber Günzel erforscht allerdings derzeit gerade dieses Medium, sodass hier vielleicht noch interessante Synergien zwischen seinem alten und dem neuen Thema zu erwarten sind.

Stephan Günzel (Hg.): Raumwissenschaften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009. 406 Seiten (Paperback), 14,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

(SH)

Triebverzicht und Deutungslust

Im Roman „Die Klavierspielerin“ von Elfriede Jelinek gipfelt die Verflechtung von Kunst, Ökonomie, Sexualität und Sexualpsychologie im völligen Triebverzicht, den die Mutter der Tochter auferlegt hat. Die Mutter-Tochter-Beziehung spielt eine große Rolle im Roman. Die Autorin Katalin Nagy-György skizziert in ihrem Buch „Elfirede Jelinek: Die Klavierspielerin. Ein Annährungsversuch“ nicht nur die Liebesbeziehung zwischen Mutter Kohut, ihrer Tochter Erika Kohut und deren Schüler Walter Klemmer, sondern untersucht Erikas Versuch dem anderen Geschlecht näher zu kommen. Sie unternimmt hierzu eine kleinschrittige Analyse, der Beziehung zwischen den Charakteren Erika Kohut und ihrer Mutter. Das Mutter-Tochter-Verhältnis ist eines von Herrschaft und freiwilliger Knechtschaft, wie Nagy-György analysiert: „insofern stehen wir zwei Frauen gegenüber, von denen die eine potenziell gefesselter Prometheus und die andere diejenige ist, die aus egoistischer Liebe die Fesseln noch enger zieht.“ (17) „Erika hat Angst vor dem Erwachsenwerden … Sie hat Angst sich von der Mutter loszubinden und ihr Leben in der Welt alleine zu meistern.“ (54) Aus diesen Gründen entwickele sich bei Erika Frustration und Selbsthass, der schließlich in der Selbstverstümmelung ihrer Hände und Genitalien gipfele. Ihre Selbstverletzungen wie ihr Voyeurismus erscheinen Nagy-György wiederum als die Formen des Abgrenzungsversuchs von ihrer Mutter. Die im vdm-Verlag publizierte Magisterarbeit Nagy-Györgys ist „Ein Annäherungsversuch“ an Jelineks Werk, wie der Untertitel der Arbeit ankündigt, ein „Versuch“ der schonungslos offenen Sprache Jelineks, die eine Welt voll Obsessionen zeigt, näherzukommen. Mit großem Einfühlungsvermögen versucht Nagy-György zu analysieren und interpretieren, welche Lügen die Protagonisten täglich eingehen, um dem Leser Erikas Aggression, Frustration und Selbstverletzung begreiflich zu machen. Dieser „Versuch“ enthält allerdings etliche „Meinungen“ und Spekulationen Nagy-Györgys wie etwa: „Erika glaubt ihrer Mutter alles. Sie hat keine Zweifel; was die Mama sagt, dass muss schon so sein. Die Mutter erzählt Lügen, die vor allem ihr Leben leichter machen, weil das Kind dann nicht so viele Fragen stellt.“ (8) Da Jelinek in ihrem Buch allerdings keine Motivationen erklärt, bleiben diese Ausführungen bloße Spekulation über das psychische Erleben der Protagonisten. In einer akademischen Arbeit sollten solche Deutungen belegbar sein oder unterbleiben.

Katalin Nagy-György: Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin: Ein Annäherungsversuch. Saarbrücken: vdm-Verlag 2009. 64 Seiten (Paperback), 49,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

(Chi-Chun Liu)

Medizin als parasitäres Motiv

Bereits 2008 ist der mit 640 Seiten überaus umfangreiche sechste Band der Schriftenreihe „Aspekte der Medizinphilosophie“ zum Thema „Fremdkörper“ erschienen. Die Herausgeber Christian Hoffstadt, Franz Pescke, Andreas Schulz-Buchta und Michael Nagenborg haben darin über 30 Aufsätze gesammelt, die teilweise auf einem 2007 in Karlsruhe veranstalteten Symposium basieren. In sechs Sektionen untersuchen die Autorinnen und Autoren medizinische Motive in der Medien- und Kulturdebatte: Unter „Eindringlinge“ werden parasitäre Motive, wie das des Aliens verstanden; „Fremd im eigenen Leib“ diskutiert den Leib-Seele-Dualismus anhand verschiedenen Phänomene (wie etwa der philosophischen „Entfremdungsdebatte“ oder anhand eines interkulturellen Vergleichs von Verdauungsbeschreibungen). „Körpertransformationen//Körpertechnologie“ geht auf Cyborg-Konzepte – etwa in David Cronenbergs Film „eXistenZ“ – ein; in „Zwischenkörperliches“ kommen sexuelle Motive zur Ansprache. Das Kapitel „Krieg, Gewalt, Narben“ widmet sich Körperzerstörungsphänomenen, worunter neben Vampiren und Kannibalen auch etwa Märtyrer-Bilder diskutiert werden und im Schlusskapitel „Epidemien“ wird neben seucheanrtigen Krankheiten auch auf „Medienepidemien“ wie etwa die Feinstaubdebatte und kulturelle Moden wie die „Postmoderne“ im öffentlichen Diskurs eingegangen. Die Vielfalt der einzelnen Zugänge überrascht – sie fügen sich jedoch allesamt bestens ins Konzept einer „kulturwissenschaftlich gewendeten Medizin“ ein, weil sie zeigen, wie sehr unser Denken und unsere Kulturproduktion an somatische und medizinische Phänomene gebunden ist. Der Primat des Körperlichen im Denken wird durch den Band sehr plastisch dargestellt. Die seit 2002 bestehende Reihe ist mittlerweile noch durch einen Band zur „Gastrosophie“ und jüngst einen Band zum Thema „Sucht“ erweitert worden.

Christian Hoffstadt u. a. (Hgg.): Der Fremdkörper. Aspekte der Medizinphilosophie Bd. 6. Bochum: Freiburg: projekt 2008. 645 Seiten (Paperback), 32,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

Fiktion und Illusion

Die Berliner Filmwissenschaftlerinnen Gertrud Koch und Christiane Voss (beide unter anderem Beteiligt am dortigen Sonderforschungsbereich „Zur Bedeutung von Illusion und Fiktion in der Filmästhetik“) publizieren seit einigen Jahren regelmäßig zu den Themen Fiktionalität und Illusion. 2006 ist von Ihnen im Fink-Verlag der Sammelband „… kraft der Illusion“ erschienen, in dem ein Dutzend Autorinnen und Autoren die Illusions-Debatte in der Ästhetik neu aufrollen. Die Bandbreite reicht dabei von der Ontonolgie und Phänomenologie der Illusion über bild- und medienwissenschaftliche Perspektiven bis hin zur Frage nach dem Immersionscharakter von medialen Illusionserzeugungen. Gerade Christiane Voss hat hierzu in der Vergangenheit etliche hoch interessante Beiträge geleistet, indem sie etwa die Arbeiten der US-amerikanischen Film-Phänomenologin Vivian Sobchack für deutsche Leser aufbereitet hat und deren „Films Body“-Theorie mit verschiedenen philosophischen und ästhetischen Debatten verkreuzt hat.

Der neue Band von Voss und Koch mit dem Titel „Es ist, als ob“ – Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft, ebenfalls bei Fink publiziert, greift das Themenspektrum wieder auf. Neben Voss, die hier über „Fiktionale Immersion“ schreibt (dieses Mal ausgehend von den Arbeiten Theodor Lipps und Wolfgang Isers zur „Fiktionalität“) finden sich abermals Beiträge aus den Randdisziplinen der Medienästhetik – insbesondere der Philosophie und Filmwissenschaft. Zu nennen wären hier etwa Maria E. Reichers Beitrag über die konstruktive Leistung von Sprechakten (sie geht hier also von Searle aus und nicht von Otto Vaihinger, wie die Überschrift vermuten ließe) oder Georg W. Bertram, der sich ebenfalls sprachwissenschaftlich an das Phänomen der Fiktionalisierung annähert und Vorüberlegungen zu einer Theorie anstellt, mit deren Hilfe sich rein sprachlich konstruierte Kommunikationsgegenstände (eben: Fiktionen) systematisch untersuchen lassen. Hier zeigt sich bereits, dass der Forschungsaspekt beider Bände ein interdisziplinär-kulturwissenschaftlicher ist, der deshalb umso fruchbarer für eine fächerübergreifende Fiktionalitätsdebatte sein kann. In diesem Jahr wird der Diskurs durch beide und Martin Vöhler wieder aufgegriffen in einer weiteren Fink-Publikation zur Frage der „Mimesis in den Künsten„.

Gertrud Koch/Christiane Voss (Hgg.): … kraft der Illusion. München: Fink 2006. 234 Seiten (Paperback), 32,90 Euro. Bei Amazon kaufen.

Gertrud Koch/Christiane Voss (Hgg.): „Es ist als ob“ Fiktionalität in Philosophie, Film- und Medienwissenschaft. München: Fink 2009. 187 Seiten (Paperback), 29,90 Euro. Bei Amazon kaufen.

(SH)

Semiotica Universalis

Roman Jakobson gilt als einer der wichtigsten Vertreter der strukturalistischen Semiotik, die ab der Mitte des 20. Jahrhunderts durch Namen wie Roland Barthes,  Claude Levi-Strauss oder Umberto Eco geprägt wurde. Jakobson, Vertreter der „Prager Schule“ der Sprachwissenschaften hat seine Theorie – insbesondere über „Die poetische Funktion der Sprache“ – seit den 1920er Jahren entwickelt und auf die vielfältigsten Text- und Kulturerscheinen zur Anwendung gebracht. Dazu zählt neben der Sprachwissenschaft vor allem die Literaturwissenschaft („Literarizität„) und nicht zuletzt auch der Film. Hier hat er sich in den 30er Jahren etwa in die Debatte um das Sterben des Stummfilms eingebracht und betont, dass die „Talkies“ gerade durch die Sprache ein semiotisches „Mehr“ gewinnen, da sich die durch sie produzierten Inhalte auch auf die Form auswirken. Drei dieser Schriften über Filme hat Suhrkamp-Verlag neben zahlreichen anderen kürzeren Schriften Jakobsons, die zwischen 1919 und 1982 erschienen sind, bereits Ende der 1980er-Jahre einen Sammelband gewidmet, der jedoch längst vergriffen ist. Jetzt liegt eine Neuauflage des noch selbst von Jakobson kurz vor seinem Tod autorisierten Bandes in der stw-Reihe vor, die inhaltlich deswegen gegenüber der Erstausgabe unverändert geblieben ist. Herausgegeben und eingeleitet wird das Buch (und überdies auch jeder darin enthaltene Beitrag einzeln!) von Elmar Holenstein, der Im Vorwort die Theorie Jakobsons überblicksartig skizziert; am Ende des Bandes erleichtert ein Namensregister das Auffinden spezifischer Bezüge in Jakobsons Texten.

Roman Jakobson: Semiotik. Ausgewählte Texte 1919-1982, hg. v. Elmar Holenstein. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009. 564. Seiten (Paperback), 18,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

(SH)

Inhumanwissenschaften

In der seit 2003 an der Universität Bonn durchgeführten Emmy-Noether-Forschungsgruppe „Kulturgeschichte des Menschenversuches“ sind bereits einige hoch interessante und spektakuläre Publikationen erstellt worden. 2004 hatte Nicolas Pethes etwa beim Weimarer vdg-Verlag eine Monografie über sozialwissenschaftliche Menschenexperimente veröffentlicht. Vom selben Autor ist 2008 zusammen mit Birgit Griesecke, Marcus Krause und Katja Sabisch eine umfangreiche Anthologie über Menschenversuche im Suhrkamp-Verlag herausgegeben worden, in der Texte vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart vorgestellt werden. Was die Herausgeber hier zusammengetragen haben, kann sich mit Foucault’scher Archivarbeit messen: Von Beschreibungen über galvanische Experimente um 1800 über pädagogische und psychologischen Beeinflussungstheorien und medizinische Praktiken vom Heilen über das Operieren bis hin zum Vernichten des Lebens. In 9 Sektionen werden über 70 Texte zusammengestellt und von den Herausgebern jeweils eingeleitet. Die Anthologie belegt bestens, auf welchen Fundamenten die kontemporären Humanwissenschaften stehen und ist daher nicht nur aus kulturhistorischer Perspektive interessant.

Nicolas Pethes u. a. (Hgg.): Menschenversuche. Eine Anthologie 1750-2000. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. 779 Seiten (Paperback), 22,00 Euro. Bei Amazon kaufen.

(SH)

Film und Methode

Die beiden von Bill Nichols herausgegebenen Bände „Movies and Methods“ gehören zusammen mit Keith Barry Grants „Film Genre Reader“ und Philip Rosens „Narrative, Apparatus, Ideology“ zu den Standardwerken der filmwissenschaftlichen Universitätslehre. In ihnen sind die mittlerweile kanonischen Aufsätze, Kritiken und Debatten der Filmwissenschaft und -geschichte versammelt. Diesen Fundus zu erweitern schickt sich das von Robert Kolker „Oxford Handbook of Film and Media Studies“ gar nicht erst an. Vielmehr trägt er zwanzig Beiträge zusammen, die die film- und medienwissenschaftlichen Diskurse der Gegenwart reflektieren – und damit künftig vielleicht selbst in jenen obigen Textkanon eingereiht werden können. Es finden sich Überlegungen zum Digitalfilm (von David Bolter), der Authentizitäts- und Realitätsfrage (von Devin Orgeron) zum asiatischen (cinesischen, indischen, …) Kino der Gegenwart zur filmwissenschaftlichen Ausbildung und zum Copyright-Problem im Zeitalter des Internets. Der Band scheint also zuvorderst nicht nur für das Studium der Film und Media Studies gedacht, sondern stellt vielmehr eine Studie der Disziplin und zugleich eine inspirative Quelle für dieselbe dar. Die aufwändige Aufmachung des Buches als Hardcover-Ausgabe führt ohnehin zu einem Ladenpreis, den sich Studieren nur widerwillig werden leisten wollen.

Robert Koller (Hg.): The Oxford Handbook of Film and Media Studies. Oxford: Oxford Univ. Press 2008. 628 Seiten (Hardcover), 152,99 Euro. Bei Amazon kaufen.

(SH)

Raumfragen an Benjamin

Die Menge an Publikationen zu Walter Benjamin dürfte dessen eigenen Output, der ja auch nicht gerade gering ist, mittlerweile um ein hundertfaches überschreiten. Gerade aus dem Würzburger Königshausen&Neumann-Verlag sind in den letzten Jahren einige – teilweise recht interessante – Sammelbände und Monografien über Benjamin erschienen. Einer der interessantesten ist der von Bernd Witte herausgegebene „Topographien der Erinnerung“, in dem vornehmlich über Benjamins „Passagen-Werk“ verhandelt wird, allerdings auch andere Texte (etwa Briefwechsel) untersucht werden. Markant, und deshalb ist der Titel des Bandes passend, sind die zahlreichen Beiträge zur Raum-Frage, die bei Benjamin an nicht wenigen Stellen aufgeworfen wird. So widmet sich etwa Mauro Ponzi der „Topographie des Bildraums“, lässt dabei Benjamins überaus kryptischen Text „Leibraum und Bildraum“ aber außenvor und widmet sich dessen Stadtdarstellungen Berlins und Paris‘. Andrea von Hülsen-Esch diskutiert Benjamins Ausführungen über das Panorama und den theatralen Raum unter der Perspektive frühmoderner medialer Raumdarstellungen. In den meisten Beiträgen geht es um das von Benjamin (etwa im „Passagen-Werk“) detailliert geschilderte Stadtbild und die fragen urbaner Räumlichkeit. Die Herausgeber schließen mit dem Sammelband an den 2008 auf dem Zenith stehenden kulturwissenschaftlichen Raum-Diskurs (siehe oben) an und zeigen einmal mehr, dass Walter Benjamin auch zu den aktuellsten Fragen der Medien- und Kulturwissenschaft zu befragen ist und etwas beitragen kann – wenngleich er manchmal dabei auch nicht mehr als die Rolle eines Stichwortgebers innehat.

Bernd Witte (Hg.): Topographien der Erinnerung. Zu Walter Benjamins Passagen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2008. 303 Seiten (Paperback), 29,80 Euro. Bei Amazon kaufen.

(SH)

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