Welcome to the Machine

„Ich weiß, dass ich sterben werde. Ich fühle es, wie man eine Erkältung kommen fühlt“, schreibt Tom in einem Brief an die Eltern. Aber auch: „Ich habe keine Angst.“ Tom ist Engländer, 21, ein junger Mann vom Land, der in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs eingezogen wird, um mit Tausenden anderer Soldaten am D-Day den Strand der Normandie zu stürmen. Wie so viele wird er den Ausgang der Invasion nicht erleben, wird er einer von vielen namenlosen Toten sein, nicht mehr als eine Nummer, Material, Brennstoff für die Maschine, den „Overlord“, diesen rasenden, monolithischen Kriegsgott, der, einmal ins Rollen geraten, nicht mehr aufzuhalten ist.

„Overlord“: Das ist auch der britische Codename für die Invasion, eine Operation von schier unvorstellbaren Ausmaßen, in der der Einzelne in den Worten Toms „immer kleiner wird, bis nichts mehr von ihm übrig ist“, bis er seinen Platz, seine ihm zugewiesene Rolle im Gefüge dieser gewaltigen Maschinerie einnehmen kann. Die Ausbildung, die die Soldaten bis dahin durchlaufen und der Cooper den Großteil des Films widmet, dient dann auch weniger dazu, sie auf die bevorstehende Situation vorzubereiten, als ihre Entindividualisierung zu vollziehen, ihnen die Identität zu rauben und das Gefühl, einen Platz zu haben auf der Welt außerhalb der Armee, die nun ihr Alles ist, ihre Familie, ihre Heimat, ihr Körper, ihr Zweck. „Ihr habt die Wahl, euren Privatbesitz in einen Umschlag zu packen und abzugeben oder aber ihn zu verbrennen. Auf dem Schlachtfeld tragt ihr nichts Privates bei euch.“, lautet die Anweisung, die die Soldaten kurz vor Beginn der Invasion erhalten. Wie in einem archaischen Ritual werfen sie ihre Briefe, ihre Fotos, ihre Andenken ins Feuer, sehen dabei zu, wie sie verbrennen und mit dem Rauch auch der verbliebene Rest ihrer Identität zum Himmel steigt, um dort zu verwehen.

Coopers Film zeigt eindrücklich, dass der Krieg kein Ort für Helden ist, noch nicht einmal für tragische. Es ist der Ort, an dem alles, was nicht Krieg ist, abwesend ist, der Ort, an dem auch dessen Gegenteil noch einverleibt wird, vollkommen und total. Es ist kein Ort der Tat, sondern einer des nackten Seins. Tom ist kein Handelnder: Der ganze Film zeigt ihn als jemanden, der gezogen wird. Vom Erhalt des Einberufungsbescheids an ist sein Schicksal vollstreckt, ist er Teil der Maschine, die nun sein Herr ist und über ihn verfügt. Immer wieder sehen wir in „Overlord“ die Welt von oben, aus der Perspektive dieser Maschine, die alles sieht, der nichts entgeht. Es ist auch eine göttliche Perspektive, aber dieser Gott ist kein gütiger. Er kennt nichts außer sich und seinem Ziel, immer in Bewegung zu bleiben. Und diesem Ziel unterwirft er alles und wenn er es niederwalzen muss unter seinen mahlenden Rädern.

„Overlord“, der Film, geriet schon kurz nach seinem Erscheinen in Vergessenheit; möglicherweise weil die Welt – und der wichtigste Filmmarkt, die USA – nach Vietnam vom Krieg nichts mehr wissen wollte. Erst 2004 wurde er wiederentdeckt, anlässlich eines Veteranentreffens und ist seitdem allerortens als vergessenes Meisterwerk gepriesen worden. Man spricht über die Verbindungen des Films zu Kubrick, der als großer Bewunderer von „Overlord“ galt und dem er mit „Full Metal Jacket“ nun wieder für jeden sichtbar Tribut zollte. Man spricht von Kubricks Kameramann John Alcott, der die außerweltlich schönen Bilder lieferte, um das Unsagbare greifbar zu machen. Man spricht von dem beeindruckenden Archivmaterial, das einen nicht unbeträchtlichen Teil der Gesamtlaufzeit des Films ausmacht. Man spricht von den alten Kameralinsen, die Alcott in Deutschland auftrieb, um dem Look der Vierzigerjahre möglichst nahe zu kommen und die Nahtstellen zwischen neuen Aufnahmen und dem Archivmaterial nahezu verschwinden zu lassen. Und all diese Fakten drohen sich bei der Sichtung zwischen den Zuschauer und den Film zu schieben, ihn zu verrationalisieren, wo er doch einen fast schon spirituell zu nennenden Ansatz findet, um sein Thema zu verarbeiten. Aber über irgendetwas muss man schließlich sprechen, wenn es einem doch fast die Kehle zuschnürt.

Overlord
(Großbritannien 1975)
Regie: Stuart Cooper; Drehbuch: Stuart Cooper, Christopher Hudson; Musik: Paul Glass; Kamera: John Alcott; Schnitt: Jonathan Gili
Darsteller: Brian Stirner, Davyd Harries, Nicholas Ball, Julie Neesam, Sam Sewell
Länge: ca. 80 Minuten
Verleih: Bildstörung

Zur DVD von Bildstörung

Langsam wird es unheimlich: Nach den vorzüglichen DVD-Editionen von „La Bête“ und „Possession“ kredenzen Bildstörung mit „Overlord“ nun schon den dritten Volltreffer innerhalb eines Jahres. Auch „Overlord“ kommt in einem wunderschön gestalteten, diesmal leicht mattierten Pappschuber, aufschlussreichem Booklet und umfangreichem Bonusmaterial, das dabei hilft, den Film zu kontextualisieren. Bild und Ton sind brillant, und lediglich die Untertitelspur weist diesmal einen klitzekleinen Schönheitsfehler auf: Wer „Overlord“ mit deutschen Untertiteln schaut, wird feststellen, dass sich dort eine Zeile der Audiokommentar-Untertitelspur eingeschlichen hat. Das ist aber selbstverständlich Makulatur: Wer sich für einen Filmfreund hält, kommt an dieser Veröffentlichung definitiv nicht vorbei. Ich freue mich jedenfalls schon unbändig auf das nächste Schmuckstückchen aus dem Hause Bildstörung!

Die Ausstattung der DVD im Einzelnen:

Bild: 1,66:1 (16:9/anamorph)
Ton: Deutsch, Englisch (Dolby Digital 2.0 Mono)
Extras: Audiokommentar von Stuart Cooper, Interviews, Kurzfilm: „A Test of Violence“, Newsreel-Clip von 1943, Propagandaclip von 1941, Featurette: „Brief von der Front“, Trailer
Freigabe: FSK 16
Preis: 18,99 Euro

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2 Antworten auf „Welcome to the Machine“

  1. Danke für den Artikel. Ich werde mir den Film ganz sicher besorgen. Hatte vorher noch nie etwas davon gehört aber das, was sie schreiben, rechtfertigt auch einen Blindkauf…

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